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Die andere Seite

Der geschmeidige Fluss, dem Schloss angeschmiegt, trennt dennoch die Geister. Gewiss ist die Trennung in dieser neukaiserlich gewaltsamen Glückszeit, in dieser neukaiserlichen Nacht zumal, nicht scharf und auch das Viertel des suspekten, lateinischen Geistes genügend für die Glückssaat aufgepflügt, Rebellion und Cholera schon als Möglichkeit und Ansteckungsherd wacker ausgerodet – aber dennoch: nur die linksseitigen Kais lagern sich noch in der vorgeschriebenen Grossartigkeit. Biegst du ab, drückst du dich zum Beispiel durch die enge und krumme Strassenmündung in die Rue de Seine, in die Strasse also, die den Namen des schlangenhaften Flusses trägt, so bist du schon in der anderen Welt, in dem Viertel, das sich ausdrücklich lateinisch nennt und damit von je einen geistigen Anspruch behauptet, der die Flussgrenze nicht einsieht und das grossartige Jenseits, das Schloss, nicht immer respektiert. Dieses Viertel der Studenten, Literaten, Künstler, Buchhändler, Verleger, Drucker und der vielen kleinen, lateinischen Mädchen ist als gefährlich bekannt, auch als närrisch, es ist von einer ganz anderen Gefährlichkeit als der handgreifliche Osten und Norden vom Faubourg Saint Antoine bis zu den Buttes Montmartre, es ist gefährlich geistig, sogar gefährlich närrisch. Du findest in dieser Zeit radikaler Glücksbefriedung auch hier keine Revolutions- und Cholera-Herde mehr, auch keine ordentliche Form der politischen Opposition. Aber dieses Viertel ist unordentlich von Grund auf, selbst sein Widerspruch ist unordentlich und schwierig zu fassen und jede Äusserung durchtränkt und trunken von Ironie. Es scheint fast, als sei die Spottlust ein unerlässlicher Bestandteil des lateinischen Geistes und in der Formulierung, der poetischen und witzigen zumal, um so verwickelter und verworrener politisch, als die politische Prosa der öffentlichen Meinung ein für allemal, sozusagen mit der sprichwörtlichen Spitzhacke, ausgerottet ist. Sogar an diesem Tag und in dieser Nacht der fünfzehn schweren Stunden haben die Polizisten dieses heillosen sechsten Bezirks und natürlich auch des benachbarten fünften und vierzehnten auf ihren Wachen melden müssen, dass sie an verschiedenen Orten, sogar auf der Strasse und manchmal in ihrem Rücken das überaus strafbare und denkbar unflätige Lied von »Madame Cäsar« gehört haben, ohne doch die tückischen Sänger fassen zu können.

Es gab einmal, als Monsieur Cäsar geboren war, ein leidiges Spottlied, das sich auf höchst unziemliche Art mit dem Roi d'Hollande, mit Hortense und falschen Louis beschäftigte. Wer weiss heute noch davon?, wird man fragen. Nun, der Kaiser selber weiss davon, natürlich auch der diskrete Greis Flahaut, der alles weiss, womöglich auch sein Sohn Morny, selbstverständlich auch das indiskrete Genie Persigny, der als Prophet und Macher des Imperiums ein Recht hat, alles zu wissen, und dann noch die lebenden Kaisergesichter. Das waren drei unterschiedliche Männer, die von Blut und Angesicht des alten Kaisers waren, nicht des neuen, die einst mit ihren gültigen Antlitzen das ungehörige Gesicht des Emporkommenden beschämten oder quälten und jetzt, nach dem vollkommenen Sieg des neuen Gesichts in ihrer physiognomischen Bedeutung stark vermindert, dennoch ihre kriegsgöttliche Bartlosigkeit im bärtigen Gewimmel des Imperials bewahrten. Das waren zunächst die beiden natürlichen Söhne des grossen N – also so verwandt mit dem armen, kleinen König Moribundus von Rom wie der grosse Morny mit dem glücklichen Cäsar –, der Berühmte: Graf Walewski, etwas ungebärdiger Aussenminister und um ein weniges zu aufrechter Freund des Kaisers; der Unberühmte oder besser gesagt der Berüchtigte: Leon, auch ein Graf, ein sehr zweifelhaftes Subjekt, teils Zuhälter, teils »Präsident der Pazifistischen Gesellschaft«, ein alter Quälgeist der Gesellschaft und auch des Kaisers, eine Zeitlang beinahe staatsgefährlich und scheinbar loyal erst als Pensionär der Zivilliste. Der Dritte aber war ein echter Prinz, der ebenfalls Napoleon hiess, Jerôme-Sohn, Bruder der prachtvollen Mathilde Bonaparte – Mathilde liebt nicht Eugenie –, echter Kaiserneffe, genannt Plonplon. Der Kaiser pflegte ihn früher den »Bengel« zu heissen und hatte alle Gründe dazu; denn Plonplon stand immer schon in einer etwas lümmelhaften Opposition zu ihm, war wohl nur deshalb ein so wütiger Republikaner, um dem diktatorischen Vetter weh zu tun, und sagte zu jedem, der es hören wollte, dass in irgend einem holländischen Geheimarchiv die Vaterschaftsableugnung des alten Louis schwarz auf weiss zu finden sei. Jetzt kostete er die Zivilliste jährlich zwei Millionen Francs und war ziemlich loyal – aber er hasst Eugenie –; jetzt hatte er ein mächtiges, vergröbertes Kaisergesicht bekommen, einen mächtigen Körper, eine grobe Freude des Lebens und tobte sich im Genuss aus, weil sich die Politik, für die er übrigens geschaffen war, ihm versperrte (und vollends nach den verfluchten Schüssen dieser Nacht). Er war brutal, sehr zynisch, sehr intelligent, eine leerlaufende, demagogische Begabung, eine leerlaufende Kraftmaschine. Er war denkbar unbeliebt, viel gefürchtet, viel geschmeichelt und im Grunde wohl unglücklich. Er hielt sich so etwas wie einen Harem, liebte aber nur, mit einer merkwürdig ehrlichen Liebe, seine offizielle Geliebte, die grosse Schauspielerin Rachel, die auch schon, zur Präsidentenzeit, die Freundin des neuen Cäsar gewesen war. Irgend einmal gelangte jede der grossen Amourösen auf den Kaisergipfel ihres Lebens. Immer aber und überall stiess Plonplon an den Kaiserberg. Er auch kannte das alte Spottlied vom falschen Louis, und es sähe ihm sehr ähnlich, kennte er auch den infernalischen Gassenhauer vom Quartier Latin, das neue Spottlied von »Madame Cäsar«.

Das böse Lied, nach der beliebten Schlagermelodie: »Olymps Götter in Paris« gesungen, hat zahlreiche Strophen, von denen indessen keine einzige eine Wiedergabe erlaubt. Gewiss ist, dass es nicht erst in der jüngsten Zeit aufkam, nicht etwa durch den hoffenden Zustand der Kaiserin. Im Gegenteil, es erschien wohl schon zu jener Hochzeit, die die Welt verblüffte, und besass nur die Gabe der Bösartigkeit: nicht zu verschwinden wie andere Lieder der Strasse, sondern zu bleiben und gar noch kräftiger zu werden. Es hat sich leider nicht auf die Inkubationszelle beschränkt, es ist aus dem verdorbenen Viertel geschlüpft, in östliche und nördliche Kaschemmen geraten, in Fabriken, Nachtasyle, Markthallen, sogar in Kasernen. Es ist wahrhaftig mit in den Krimkrieg gezogen; denn Frontoffiziere wussten zu erzählen, dass es Soldaten vor Sebastopol sangen, laut und deutlich, eingeklemmt zwischen der furchtbaren Festung und den furchtbaren Seuchen, unbehindert natürlich; denn im Feld gilt der Mann und nicht die Pariser Zensur, der Generalissimus selber gab dem telegraphisch kommandierenden Kaiser unziemliche Antworten, das Gemüt der aufgebrachten Soldaten ertrug das Cäsarische offenbar nur noch in solcher überderben Versform, und gerade jene Sänger erstürmten den Malakoffturm, brüllend vor Wut.

Die Frage nach dem Urheber des Liedes von »Madame Cäsar« erscheint müssig und interessiert eigentlich nur die Polizei. Spottlieder, die die Strasse aufgreift, pflegen anonym zu sein. Wer dichtete wohl Anno 1808 die Verse vom falschen Louis? Es ist eine beinahe lächerliche Frage, so scheint es. Und doch, würdest du zum Beispiel den weltberühmten Romanschreiber Alexander Dumas-Vater nach dem Autor von »Madame Cäsar« fragen: er wüsste es. Erstaunlicher noch: würdest du in bestimmten Büros im höchsten Nordflügelstockwerk des Stadthauses fragen, ja, des Stadthauses, in dem der Subdiktator und Stadterschütterer Haussmann residiert: man wüsste es auch.

Der Fall ist seltsam und, mit dieser Nacht der Salutschüsse in Zusammenhang gebracht, unheimlich; mehr noch, der Fall ist wichtig; denn vielleicht erzeugt er die Wolke, die bisher nur der neue Cäsar, der versonnene Glückskaiser, vor dem Blick und, als Schatten, über der Seele hat.

Wenn du dich in diesem nördlichen Teil der Rue de Seine nach rechts in die erste Querstrasse wendest, so bist du in der kleinen Rue des Beaux-Arts. Du weisst nicht, dass das Haus Nummer 2 vor beinahe hundert Jahren das Hotel des Marquis de Mirabeau gewesen ist. Aber du weisst, wer Mirabeau war. Du weisst auch nicht, wer alles im Haus Nummer 10 wohnt: der Dichter Mérimée mit den kalten Augen und dem kalten Verstand, alter Freund der Kaiserin, einzig autorisierter Spötter des Kaiserreichs, sein soziologischer Kritiker und pädagogischer Philosoph, sozusagen sein Seneca; und dann der wunderbare Maler Corot, der so viel Landschaft in der Seele hat, dass er die Augen halb schliessen kann, wenn er sie malt, der jedes Bild mit dem herrlichen Losungswort: »Nur Mut!« beginnt, sehr fern dem kunstfernen Cäsar und der verständnislosen, schönsten Frau – für sie ist ja der aalglatte Maler Winterhalter da – näher schon dem rauhen Kunstspürer Plonplon und dennoch seit zehn Jahren das julikönigliche Kreuz der Ehrenlegion tragend, das der emphatische Courbet dem Kaiser zurückschicken wird. Und im gleichen Stockwerk schliesslich – du weisst es bestimmt nicht – wohnt der Autor von »Madame Cäsar«.

Der Kerl sieht aus wie der Teufel. Wenn man will, trägt er sogar das neue Kaisergesicht, aber in höllischer Travestie. Er hat eine gelbe Haut und einen dunklen Imperial: so weit wäre das Gesicht neukaiserlich. Aber aus dem überaus hageren und langen Gesicht fahren Flammen, das ist unkaiserlich: die Haarbüschel stehen über der viel zu grossen Stirn wie schwarze Flammen, selbst der Kinnbart züngelt wie eine spitze Flamme, und über den überheizten, schwarzen Augen sträuben sich auf vorgewölbten Augenbögen die Stichflämmchen wütiger Brauen. Das Gesicht sieht aus wie eine übertriebene Allegorie auf die Unduldsamkeit. Das Gesicht des Kaisers ist von so grosser Duldsamkeit, dass es die Menschen fängt, die es doch nicht einmal achtet, und zuweilen schön ist. Dieses niemals schöne Gesicht mit den jähzornigen Nüstern der langen, geraden, spitzen Nase wird ebenfalls Menschen fangen, die er als Mensch zugleich braucht und scheut: aber wie ein Menschenfresser, der manchmal aussieht, als sei er über sich selber entsetzt und als könne er sich selber fressen. Die Stirn ist viel zu gross. Als der Teufelskerl geboren wurde, war er nur Stirn, blaue Stirn mit zwei mächtigen Protuberanzen. Die Buckel sind jetzt noch da, zum Augenbein scharf eingeschnitten, wie von einem Säbelhieb. Der Teufelskerl hat sich aus dem sanften Kaisergesicht die Karikatur eines mephistophelischen Don Quixote gemacht.

Der Mann ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber er ist so scharflinig und ausgemergelt, von der Flamme, die noch nicht aus seinem Dasein fahren konnte, so ausgedörrt und ausgekocht, dass er jedes Alter hätte haben können. Der Brand ist noch in ihm eingeschlossen, er kann noch keinen Brand stiften: das macht ihn sonderbar geladen, sonderbar eckig und unfertig. Es macht aus ihm eine komische Figur. Vielleicht hat er dadurch das Komische als Waffe zu handhaben gelernt, die Not als Tugend, das Ungereimte als Reim, den armseligen Körper als auffällige Gestalt. Er ist so mager, dass es Gott erbarm, und er trägt dreist so enge, schwarze Anzüge, dass die Storchenbeine noch länger, die Schulterchen noch kantiger, die Ärmchen noch dünner, die Ellebogen und Kniee noch spitzer wurden, und dass es die Menschen nicht mehr erbarmte, sondern erschreckte oder schreckhaft belustigte. Das will er wohl. – Was will er denn, was ist er denn? Er ist augenblicklich Witzbold von Profession, der täglich die halbwegs geängstigten Witzblattredaktionen, den »Charivari«, den »Tintamarre«, den »Nain jaune« berennt und dort seine scharfen Spässe abladet. Aber das ist er nur im Nebenberuf. Er ist noch gänzlich im Unklaren mit sich.

Weiss er denn, was er will? Er will die Freiheit, seit jeher, und hasst folglich die Tyrannen. Das ist der alte Furor der Halbwüchsigen, der verprellten Gymnasiasten, der Oberlehrerhasser, nicht sehr ernst zu nehmen. Das ist zumal die vorgeschriebene Gesinnung der Generation, die Anno 48 zum ersten Mal die Augen öffnete und Barrikaden sah. Den Eindruck vergisst man nicht; aber die einen belassen ihn in der Erinnerung, die anderen schleppen ihn mit sich oder werfen ihn sogar in die Zukunft wie einen Speer. Das ist bei jungen Menschen weniger Sache der Überzeugung als Folge des Temperamentes. Der Teufelskerl, damals noch Schüler des berühmten Saint Louis-Gymnasiums, das auch im Lateinischen Viertel liegt, so fromm es verwaltet war, führte während der Februarrevolution den revolutionären Teil seiner Klasse auf die Strasse und machte dennoch sein Baccalaureat, da der Julikönig, den er zu stürzen half, nach England floh. Und am vierten Staatsstreichdezember, dem blutigen Tag, rannte er aus dem Büro, half bei den Barrikaden an der Porte Saint-Denis und rettete sich vor dem angreifenden Detachement Infanterie und der Füsilierung in ein Haus der umkämpften Rue Rambuteau. Zugegeben also, der Teufelskerl hat das revolutionäre Temperament; aber dennoch reimt sich nichts zusammen; denn er ist im Hauptberuf kein Anarchist, kein Einpeitscher von Geheimgesellschaften, kein Bildner von Revolutionszellen, überhaupt kein Politiker: er ist ein ganz kleiner Magistratsbeamter mit hundertfünfundzwanzig Francs monatlich, scheuert seine Schreibärmel an den ärarischen Pulten des Stadthauses und den Hosenboden an den abgewetzten Bürostühlen des Patentbüros, des Stadtarchivs, der Rechnungskammer, weigert sich zu glauben, dass sein Leben so vergehen müsse, brennt an der Flamme der [Nichtsnutzigen], schreibt zahllose Verse, mittelmässige Verse im Stil Victor Hugos, Gottes im Exil, schreibt Einakter, Theaterkritiken (um ins Theater zu kommen), blutige Glossen, Unterschriften für Karikaturen und Witze, täglich ein halbes Dutzend Witze (um in die Zeitung zu kommen) und dichtet das Lied von »Madame Cäsar«, das sehr berühmte Lied eines Anonymus.

Verlangst du endlich und dringlich, genügend neugierig gemacht, seinen Namen zu wissen, so erfährst du den Gipfel der Ungereimtheiten. Denn dieses unbotmässige Kind, dieser revolutionäre Primaner und dämonische Adjunkt ist ein Graf, ein echter, rechter Graf – nicht wie Persigny einer von eigenen und schliesslich, wie viele andere, von neukaiserlichen Gnaden –, der Träger eines der grossen Namen des legitimistischen Frankreichs, der Spross von Kanzlern, Marschällen, Statthaltern und Grosswürdenträgern, der Enkel eines millionenschweren Granden, der Anno 89 emigrierte und nichts mehr war als ein Ci-devant. So kam die Armut über das Geschlecht, und der Teufelskerl kannte kaum noch den grossen Namen, sondern nur noch die grosse Armut. Seine Grossmutter, die nicht mitauswanderte, wurde wunderbarerweise in der Conciergerie vergessen, sie sah den täglichen Tod um sich herum, die täglichen Karren, die zum Guillotineplatz fuhren, mit der Königin, mit den Königsliebchen, mit allen Königlichen, mit den Girondisten, schliesslich mit den Jakobinern selber – aber sie wurde vergessen. Sein Vater wuchs in diesem Todeshaus auf, war zu gütig für einen tödlichen Hass, wurde ein liebenswürdiger Legitimist, als man es wieder sein konnte, und schliesslich ein liebenswürdiger Theaterschriftsteller ohne Ruhm und ohne Geld. Und wie heisst der ungereimte Sohn? Er heisst Graf Henri de Rochefort-Luçay, ein grossartiger Name. Aber der Tyrannenhasser darf keinen feudalen Namen haben, der Menschenfresser frisst zuerst die eigene gräfliche Grossartigkeit auf. Wer ihn mit seinen noblen Namen nennt, tut ihm weh oder will ihn beschimpfen. Es ist nicht ratsam, schon damals nicht, ihm wehzutun oder ihn zu beschimpfen. Er will nichts sein als Henri Rochefort. Henri Rochefort ist damals noch ein Nichts: das verbrennt ihn. Richtiger gesagt: das brennt ihn hart.

Es war nicht ratsam, ihm wehzutun, auch damals nicht. Das Unglück wollte, dass ihm viele weh taten, ohne es zu wissen. Sein Körper bestand aus Ecken und Kanten, sein Gemüt gleichsam aus lauter Protuberanzen, sein Schicksal war, Anstoss zu nehmen. Den heftigsten und längsten Stoss, den jahrelangen und täglichen Stoss, den Stoss in Permanenz sozusagen versetzte ihm der neue Cäsar, der die Freiheit umgebracht hatte, – und was wusste damals der sanfte Kaiser von dem harten Hasser, was vom Madame-Cäsar-Lied, das doch nur ein winziger Anfang war, ein ungeahntes Quentlein der alten, bösen Ahnung, ein Fünkchen vom Flammenmeer der allesfressenden Lächerlichkeit? Aber der Ungereimte stiess sich nicht nur an der Staatsform und seinem Träger: sein Herz im Grunde war wohl so weich und ratlos wie das verworrene und verwirrende Herz seines Feindes, dessen Gesicht er in grimmiger Verzeichnung trug. Er liebte ja auch Kinder und Tiere, vor allem Kinder. Er stiess sich an Erzieherinnen, Lehrern und Lehrmeistern, an jedem ungütigen Gesicht, das Gewalt über ein erwachendes und unschuldiges Leben hatte. Er, dessen Gesicht ungütig war bis zur Karikatur der Bosheit, lauerte jedem herzlosen Wort auf, das einem Kind galt, mischte sich ein, verwies den tadelnswerten Pädagogen grob und unduldsam. Sah er gar, dass ein Kind geschlagen wurde, so fuhr er die strafende Person an wie ein Maniak und anzusehen wie eine Vogelscheuche in heftigem Wind, bedrohte sie, verfolgte sie, alarmierte die Eltern, sofern die Strafende eine Angestellte war, und ängstigte zumeist das Opfer noch mehr als die Gewalthaber. Er war der Schrecken der Kindermädchen im Luxembourgpark und der Fuhrleute, die ihre Tiere die steilen Gässchen des Montparnasse hinaufpeitschten. Am meisten aber ängstigte die leidenschaftliche Vorstellung von Kindermisshandlung und Tierquälerei, die jedes dieser Erlebnisse fiebrig übertrieb, ihn selber; denn wenn die tiefe Schlechtigkeit des Starken gegen den Schwachen so häufig, so allgemein und unangefochten war, und wenn der Hass, der ihn trieb, der Hass gegen alle Tyrannen war, die grossen, die mittleren und die kleinen, wenn das ganze herrschsüchtige Leben also hassenswert war, bekämpfenswert, ändernswert: wie sollte er es schaffen?

Der Jähzornige neigte zur Übertreibung, wusste es und pflegte die Neigung für den satirischen Nebenberuf und die polemische Zukunft. Wäre das Leben nichts als hassenswert, so müsste ein Temperament wie er, ein kompromissloser Geist wie er, über kurz oder lang zur Verneinung des Lebens kommen, zum Selbstmord also. Er wird niemals dazu kommen, niemals auch nur daran denken. Der grosse Feind, der Kaiser, wird auch nicht dazu kommen; aber er hat doch schon daran gedacht und wird vielleicht noch daran denken: seine Skepsis kann weder übertreiben noch polemisieren, seine Skepsis ist leise, duldsam und müde, das ist der Unterschied. Dieser dämonische Adjunkt aber ist ein jähzorniger Optimist. Beide glauben an die Wandelbarkeit des Lebens, doch der duldsame Cäsar glaubte, dass er sie werde erdulden müssen, der übertriebene Anticäsar glaubte, dass er sie werde erzwingen können.

Zudem ist er fünfundzwanzig Jahre alt und weiss doch auch dies: dass es Glück gibt, nicht das neukaiserliche, das die Kanone und die Spitzhacke braucht, sondern das Jedermanns-Glück, das so häufig, allgemein und unangefochten ist wie das Jedermanns-Leid, an dem er sich stösst. Er weiss es, weil er das Glück, das seiner Liebe für die unschuldige Kreatur am höchsten gilt, jüngst erlebt hat. Er ahnt vielleicht sogar, dass sich dieses Glück, von der grössten Höhe des Gemütes kommend, für ihn nicht mehr wiederholen wird, und dass das andere Glück, das noch kommen mag: die Wirkung, die grosse Brandstiftung, aus seiner tiefen Flamme kommt und des Teufels ist. Aber was braucht er himmlische Wiederholungen, wenn er das Glück besitzt? Er, der wilde Kinderfürsprech, hat ein Kind. Das kleine Mädchen, das mit ihm in der Mansardenwohnung der Rue des Beaux-Arts zusammenlebt und in dieser Salut-Nacht schon lange schläft, hat ihm ein ganz kleines Mädchen geschenkt. Das ist ein Wunder, es macht ihn glücklich, und man verstünde es gut, wenn es ihn auch sanft machte. Aber es macht ihn nur wilder; denn das Wunder allein schon verdient, dass man die Schlechtigkeit aus seinem künftigen Leben fegt, die grosse, die mittlere und die kleine Tyrannei. Es ist noch ein Säugling, sein Wunder, und es hat noch seine gute Weile, bis es wird laufen können. Aber der wilde Mann läuft schon durch die Strassen mit angehobener Hand, so als führte er bereits das Kindchen spazieren, und wenn die Bekannten ihn neckten – ein wenig nur, so wie man einen nagelneuen Vater neckt; denn es war schon damals nicht geraten, seiner zu spotten –, dann sagte er grimmig: »Das muss gelernt sein.« Das Leben ist nicht böse, sondern ungereimt: warum soll es nicht dieser unmässig lebendige Mann sein? Und da er mit dem Beamtengehalt von hundertfünfundzwanzig Francs monatlich für seine Freundin und für sein Kindchen zu sorgen und für den elterlichen Haushalt sein Pflichtteil beizusteuern hat: ist es dann ungereimt, wenn er nicht allein aus Tyrannenhass, sondern auch aus Nächstenliebe seine scharfen Glossen bei den Witzblattredaktionen abladet, Gedichte, Romane (auch für die namengebenden Romanfabrikanten), Kritiken und Theaterstücke schreibt und mit wirrer Vielfältigkeit zur Wirkung drängt?

 

Henri Rochefort schlief noch nicht in dieser Nacht der schweren Stunden. Es war seine Gewohnheit (und die des unbürgerlichen Quartiers), spät zu Bett zu gehen, er und sein antikaiserliches Viertel warteten wahrhaftig nicht auf die Schüsse, er dachte weder an die Wehmutter Paris noch an die Wehmutter Eugenie. Er dachte nicht einmal an seine Blasphemie von Madame Cäsar. Er sass im Schlafrock an seinem kleinen Schreibtisch. Es wäre übertrieben zu sagen, dass er arbeitete. Die unterschiedlichen Produkte seiner Feder verfertigte er in den Bürostunden zwischen zehn Uhr vormittags und fünf Uhr nachmittags. Da hatte er Zeit genug und damit erschlug er nicht nur die Langeweile, sondern auch den kränkenden Ungeist des amtlichen Berufs. Jetzt las er, richtiger gesagt: er blätterte in einem starken Haufen vergilbter, steifknitternder Papiere. Sein Schlafrock war rot, sein Hals war dünn und lang, und wenn er schluckte, tanzte sein Adamsapfel überdeutlich auf und ab. Er schluckte oft, die Lektüre schien ihn zu erregen. Die Haare über der riesigen Stirn fuhren wild in die Höhe, er hatte die Gewohnheit, den vorstossenden Knebelbart zwischen Zeige- und Mittelfinger zu nehmen wie zwischen eine Schere. Er sah aus wie der Teufel. Er sah auch aus wie ein Henker. Beide, Teufel und Henker, waren würdig zu lesen, was er las. Denn er las lauter Todesurteile. Die fünfhundert Exekutionsbefehle auf seinem Tisch waren so etwas wie literarische Konterbande, eine ganz unstatthafte und höchst eigenmächtige Ausfuhr aus dem Archiv, aus der blutigsten Epoche des blutigen Stadthauses, so böse benannt wie keine andere böse Zeit, benannt: der Terror. Weil der schreckliche Adjunkt etwas ganz Bestimmtes suchte, nahm er sie mit sich nach Hause, und weil er sie am nächsten Tag wieder an Ort und Stelle zurückschmuggeln wollte, blieb er noch länger auf als gewöhnlich. So, über dem sanftmodrig riechenden Quittungsberg abgeschlagener Köpfe, geriet er in den Lärm der neukaiserlichen Freudenschüsse.

Was wollte er, was suchte er? Es waren vorgedruckte Formulare, der Terror frass so Viele, dass man nicht für jeden Einzelnen ein feierlich kalligraphisches Urteil mit Band und Siegel ausfertigen konnte. Der Text stand fest, die Namen wurden hastig eingetragen. Unter jedem Formular stand mit rohem Schwung die Unterschrift des schrecklichsten der Schreckensnamen: A. Fouquier. Rechts in der Ecke stand von der gleichen Hand die jeweils benötigte Anzahl der Todeskarren: »Drei Wagen« – »Vier Wagen« – »Fünf Wagen«. Der öffentliche Ankläger war zugleich der vorsorgliche Regisseur und der Fourier des Todes.

Rochefort im roten Rock suchte diesen Mann, diesen Fouquier-Tinville, den »Eisenmund des Schreckens« – vielleicht eine Romanfigur. Neben den Exekutionsbefehlen lag, gegen einen Bücherberg gelehnt, ein aufgeschlagener Band der Girondisten-Geschichte jenes grossen Dichters, der als Präsidentschaftskandidat sehr kläglich gegen den neuen Cäsar unterlag und jetzt nicht mehr gegen das politische Vergessensein, sondern mit seiner immer noch fruchtbaren Feder, mit Subskriptionen und Lotterien gegen seinen wirtschaftlichen Ruin kämpfte. Das aufgeschlagene Blatt zeigte Raffets Stahlstich des öffentlichen Anklägers: einen Mann mit niedriger Stirn, sehr gewölbten Brauen, gerader stumpfkuppiger Nase, sehr grossem, wulstigem und dennoch verkniffenem Mund, vorstehenden Backenknochen und furchtbaren Kinnladen. Die Physiognomie war von einer beinahe einfältigen Übereinstimmung mit dem Beruf. Rochefort freute sich nicht einmal über die Schreckensrechnung, die zu glatt aufging. War diese Mordmaschine, die zweitausend Menschen schlug – die Girondisten, die Hebertisten, die Dantonisten, den Herzog von Orleans, Marie-Antoinette und schliesslich Robespierre selber –, war dieser dumpfe und rohe Mensch wert, von seiner, Rocheforts, lebendigen Flamme aufgewärmt zu werden?

Der grosse Dichter schreibt in seinem Werk: »Fouquier-Tinville, der öffentliche Ankläger, der Eisenmund des Schreckens, gleichgültig gegen die Wahrheit wie gegen die Verleumdung, wurde eines Abends in den Wohlfahrtsausschuss berufen. ›Das Volk‹, sagte Collot zu ihm, ›beginnt stumpf zu werden. Man muss seine Sensationen durch imposantere Schauspiele wieder wecken. Richte es ein, dass von nun an täglich hundertfünfzig Köpfe fallen.‹ (– Werde ich je ein Mann des Volkes sein?, fragte sich Rochefort.) – ›Als ich heraus kam‹, sagte in seinem Verhör der gehorsame Fouquier-Tinville, ›war mein Geist von solchem Schauder erfüllt, dass ich, wie Danton, glaubte, der Fluss ströme Blut‹.« (– Das glaube ich ihm nicht, dachte Rochefort, aber vielleicht ist er doch eine Romanfigur.)

Der grosse Dichter schreibt: »Auf dem Friedhof von Mousseaux nahm ein ungeheurer, immer offener und an den Rändern mit Kalkfässern umstellter Graben die Köpfe und Rümpfe der Enthaupteten auf, in schrecklichem Durcheinander. Es war eine wahre Blutkloake; auf den Eingang schnitt man die Inschrift des Nichts: Schlafen; wie wenn die Henker sich hätten beruhigen und versichern wollen, dass die Opfer niemals mehr wach werden würden.«

Rochefort hob den Kopf. – Die Opfer werden immer wieder wach, dachte er, das weiss ich; und wüsste ich es nicht, glaubte ich es nicht, dann sollte ich mich schon jetzt begraben lassen. Aber was soll mir dieser Henker, der wahrscheinlich einen guten Schlaf hatte? Auf welcher Seite bin ich? Doch auf der Seite der Opfer. Und wenn ich Napoleon den Kleinen henken würde: was sagte mein Herz zu meinem Opfer?

Er hielt den Spitzbart in der Schere der Finger. – Was tue ich mit diesem dumpfen Gewalthaber der Guillotine? Erhebe ich ihn zur Romanfigur, zum Schrecken meines Zweiten Kaiserreichs? Nein, ich entlarve ihn, ich tue ihm einen posthumen Tort an, ich mache ihn lächerlich – vielleicht ist es meine ganze Kunst …

Was tat Rochefort im roten Rock mit dem roten Henker? Er blätterte nochmal die Kopfquittungen durch, der Aufspürer menschlicher Unzulänglichkeit. Auf jedem Formular stand als Unterschrift: A. Fouquier, niemals war der volle Name, der berühmte Name ausgeschrieben: Fouquier-Tinville. Nicht wahr, Citoyen, es gibt viele Fouquiers – nicht wahr, Ankläger, man lässt den Tinville weg und hat sich für alle Fälle nur mit einer kommunen und überdies reichlich unleserlichen Nomenklatur festgelegt. Es hat dich nicht vor der Karrenfahrt zur Guillotine geschützt, Gottseidank nicht, Du [Zweitausendeinter], aber es mag dich vielleicht vor dem ewigen Hass der nachkommenden Generationen schützen, du arme Seele, die nach der Tarnkappe dürstet …

Draussen begann es zu schiessen.

– Keine Romanfigur gegen Monsieur Cäsar, dachte Rochefort, aber ein Hieb gegen die Tarnkappen der Historie – vielleicht für den »Figaro«, vielleicht fünfzig Francs … Er hatte wieder das Formular in der Hand, das ihn am meisten erregte:

Der exécuteur des hautes oeuvres hat sich auf den Revolutionsplatz zu begeben, um dort vom Leben zum Tod zu bringen die namentlich aufgeführten: Danton, Camille Desmoulins, Hérault-Séchelles, Fabre d'Eglantine, Chabot, Bazire, Delaunay, d'Espagnac, Westermann.

A. Fouquier
Drei Wagen

Es schoss, aber Rochefort hörte es nicht. Es war nicht wegen Danton, der Protuberanzen auf der Stirn hatte wie er, der wild und hässlich war wie er, den seine Schulkameraden Catilina nannten, so wie ihn die Jungens vom Saint Louis-Gymnasium genannt hatten. Danton war ein Stier, eine Posaune, ein Athlet der Rebellion, ein Goliath des Ehrgeizes, ein Trunkenbold der Macht, Kneter, Verächter, Aufpeitscher und Zermalmer des ungeliebten Volkes, Despot der Freiheit, Gewalthaber mit festem Tarif der Bestechung. Der grosse Dichter schreibt: »Die anderen hatten nur die Gemeinheit des Lasters; Dantons Laster war heroisch.« Rochefort liebte keine Laster, weder gemeine noch heroische. Er liebte Danton nicht. Er liebte den zarten Camille Desmoulins, der nicht brüllte, sondern schrieb – den grossen Pamphletisten und den grossen Liebenden. Er schrieb die Laternenreden und liebte seine Frau Lucile. Er war der grosse Journalist, der die Volksbewegung leitete, und er liebte die Lucile. Ihm galt sowohl die Laterne, an der sie die Aristokraten aufhängten, als auch das Licht, das voran leuchtete. Er war das Vorbild, Lucile war seine Liebe, Lucile stand auf der nächsten Kopfquittung des Kopfjägers, das Schicksal dieser Liebe war vollkommen. Und so schön war diese Liebe, dass Rochefort den Namen der Lucile aufgegriffen und ihn seinem kleinen Wunder geschenkt hatte.

– Jetzt habe ich die Lucile, dachte Rochefort, und einmal – einmal werde ich eine Zeitung haben, die voran leuchtet, eine Zeitung, die brennt und brandstiftet, und sie heisst: Die Laterne.

Auch der sanfte Kaiser liebte den sanften Camille von je, nicht wegen der Laterne, sondern wegen der Lucile. Vielleicht hätte es den wilden Rochefort besänftigt, wüsste er es. Doch jetzt denkt der Kaiser nur an den Sohn, der Schicksalsrausch lag schon hinter ihm, und vor ihm sind die Wolken. Das Kind wird in der Prunkwiege liegen, die goldenen Uniformen des Reiches und von ganz Europa werden sich vor ihm verneigen, und der Kaiser von Europa wird zu der glitzernden Versammlung reden. Was wird er sprechen, der merkwürdig langsame und leise Sprecher? Er denkt an die anderen Kinder, die hier geboren sind, Kaiser- und Königskinder, und er fragt sich, ob sein Kind glücklicher sein wird als diese Kinder. Er wird aussprechen, was er jetzt denkt, es wird eine schwermütige Vaterrede werden, die goldenen Uniformen werden sich anstossen. –

Es schoss und schoss. Rochefort hob den Kopf und schaute zum Fenster. Die Tür ging auf, das kleine Mädchen kam, die kleine Mutter. »Ja, jetzt schiesst es wirklich«, sagte sie verschlafen und lächelte doch.

»Ja, es schiesst«, nickte der nagelneue Vater, »hoffentlich wacht Lucile nicht auf.«

»Jetzt«, lächelte die kleine Mutter, »hat sie doch das Kind, die Cäsarine.«

»Ach ja«, sagte Rochefort im roten Rock und packte die Todesurteile ein. Er packte sie beinahe hastig ein, und dann sagte er:

»Das arme Kind.«


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