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Der Kaiser hatte genug von der Milde, schien es zunächst. Das Reich bekam es zu spüren, auch Europa. Er liess sich von den Präsidenten des Senats und der Kammer in feierlichen Ansprachen bitten, hart zu werden. Er liess sie und das Aussenministerium und die Botschaften und die Presse, die durch neue Verbote gelichtet wurde, und die Offiziersabordnungen deutliche Drohungen gegen die Mächte aussprechen, die mörderischen Emigranten Asylrecht gewährten.
Er liess sich bitten, hart zu werden. Es machte ihm vielleicht sogar Freude, dass ihn der scharfsinnige Bruder vor aller Öffentlichkeit bitten musste, das berühmte, gute Herz zu verhärten. Er sah ihn aus kleinen Augen an, starr und ernst im Thronsessel sitzend, das rote Mal des Attentats auf der gelben Nase. Morny sprach kurz, scharf und sonderbar gereizt: seine Empörung mochte echt sein. Aber war es der Zorn über die Gefahr, die dem Kaiser gedroht hatte oder die jetzt dem Reich drohte? Seine kalten Augen schauten nicht brüderlich. Er dachte: ist er denn ein weicher Kaiser? Er ist nur ein höflicher Kaiser, seine Hand ist nur weich; aber sie sitzt fest auf dem Land, über den Augen und auf dem Mund, schon lange. Warum braucht er jetzt den Ruf nach Härte wie damals den Ruf nach dem Staatsstreich? Will er sich wieder einmal absolvieren – und von welchem Eid? – oder braucht er wieder einmal die Woge, die ihn trägt – und wohin?
Es erschien ein Gesetz, ein schreckliches Gesetz, gleich als ob die Tat der Italiener ein Aufruhr der Pariser gewesen sei. Es erschien das Allgemeine Sicherheits-Gesetz, das der Staatsmacht das Recht gab, seine Feinde ohne Gerichtsurteil unschädlich zu machen, sei es durch Verbannung, sei es durch Internierung. Und das Reich wurde in fünf grosse Militärkreise eingeteilt, mit je einem Marschall an der Spitze.
War denn die Tücke jenes frühlingshaft vorlauten Januartages so märzbrandgefährlich, dass man das ruhige Reich, das ausdrücklich glückliche Reich doch, in eine Art Kriegszustand versetzen musste, in die Unruhe längst vermoderter Revolutionen, in den bösen Druck der Staatsnotwehr, gar in die Zwangsjacke der Rechtlosigkeit? Wie schnell verhärtet sich ein Herz, wenn es Angst hat! Denn es ist doch wohl nur Angst, nicht allein vor dem Tod, dem man für dieses Mal entkommen ist, sondern vor der allgemeinen Unsicherheit, die die höhnische Zeit aufwirbelte wie Staub und die lästig durch die Fugen des hastigen Staatsprunkbaus blies.
Es ist gut, dass er leben geblieben ist und seine Angst zeigen kann, dachte Rochefort; wer ist nicht alles Staatsfeind, wer kann jetzt nicht verfolgt werden? Es gibt keine bessere Propaganda für den Hass, für den notwendigen Hass, als die vollkommene Willkür. Es gibt keine bessere Methode für die Erziehung zum Hass als die mörderische Angst auf beiden Seiten, auf der gewalttätigen und der vergewaltigten. Jetzt werde ich bald beginnen können …
Der Theaterdirektor und Komponist Offenbach aber, der schon lange begonnen hatte und die Zeit viel besser kannte als der junge Hasser (weil er nämlich wusste, dass sie nicht einmal hassen, sondern nur spotten konnte), der die Spottzeit liebte, mitsamt dem Kaiser, dem Kaiserreich und den Dekreten des Glücks und der Gewalt, mit Göttern, Göttinnen, Teufeln, Teufelinnen, und dem es einen grossen Spass machte, zu leben und dieses Leben in allen Spott-Tönen zu preisen: dieser Mann glaubte nicht an Revolution und Hass, sondern an ein grosses und respektwidriges Tanzen der Zeit, an den grossmächtigen Cancan der Zeit, mit dem leisen Rätselkaiser als Vor- und Nachtänzer, mit dem Ballett der zahllosen, schönen Frauen, mit dem politischen Schicksal als Kontrapunkt, mit dem fragwürdigen Willen zu Glück und Willkür als Rhythmus – und auf Rhythmus verstand er sich, und er schrieb gerade an einem Teufelsspott, der die Götter verlachte und ihnen den Cancan beibrachte, dass die olympischen Beine flogen: und als das Allgemeine Sicherheits-Gesetz herauskam, vom ironischen Volk sogleich Allgemeines Verdächtigungs-Gesetz getauft, vermerkte er die verdächtige Historie durch drei winzige Gifttröpfchen in seiner Musik, durch drei aufwärts rasende Anspielungen auf die Marseillaise im Empörungschor der Cancan-Götter. Das Kaiserreich, das die Revolutionshymne nicht vertrug und sie durch die lieblich leere Hortense-Romanze ersetzt hatte, sollte dennoch nach ihr tanzen, gleichsam als Strafe für das unliebenswürdige Sicherheitsgesetz. Direktor Offenbach lachte, dass der schwarz geränderte und bebänderte Kneifer von der grossen Nase fiel. Die Operette wird gut.
Das Ministerratszimmer in den Tuilerien hatte in der Mitte einen grossen, runden Tisch, einen ernsten, wichtigen Tisch. Seine grüne Plüschdecke hing mit steifen Falten bis auf den grossen Teppich, der so genau den Raum ausfüllte, dass kein Stückchen Parkett zu sehen war. An der Stirnwand hing, von Winterhalters höfischer Hand, in mächtigem Goldrahmen das schönste Bild der schönen Kaiserin, mit Diadem und Ordensband, kaum mit einem Lächeln, die viel zu schwere Kaiserkrone klugerweise etwas im Hintergrund auf einem Kissen, nahe unter der rechten Hand, die ein wenig feldherrnmässig den Zeigefinger streckte. Unter dem Bild, auf einer Marmorkonsole und zwischen zwei siebenarmigen Prunkleuchtern, stand eine Büste des Kaisers, ziemlich klein, von der Bildschönheit gedrückt und auch in der Ausführung mittelmässig. Neben dem Fenster aber, auf einer schwarzen Säule, stand Canovas mächtiges und glattes Marmorhaupt des anderen Kaisers, des Grossen – die alte und nicht einmal verehrte Reliquie der Exiljahre.
Der Kaiser hatte auch hier seinen bequemen Armsessel. Er sass mit dem Rücken gegen das schöne Bild und die kleine Büste. Um den Canova-Kaiser zu sehen, müsste er den Kopf scharf nach rechts drehen. Das tat er nicht, und so blieb das Steinhaupt ein ungewisser, weisser Fleck am Rand des Gesichtsfeldes. Er sass zugleich zäh und lässig, es war wieder einmal so, als gewänne er nie mehr die Kraft, aufzustehen.
Der Ministerrat war zu Ende. Die Herren gingen, und keiner war froh. Der Aussenminister hatte die peinliche Aufgabe, den Emigrantenländern ungemütliche Noten zu schicken, also nicht nur der Schweiz, Belgien und Piemont, sondern vor allem auch England. Das war die äussere Sorge. Wenn man sehr billig davon käme, kostete es den Botschafter in London seinen Posten, und keiner hatte viel Freude, den wilden Herrn Persigny wieder im Land zu wissen. Ob die innere Sorge durch das eben beschlossene Sicherheitsgesetz gebannt sei, mochte man sich nicht beantworten. Auf dem zu flächig gewordenen und schon etwas verfliessenden Canova-Gesicht des Grafen Walewski war der Unmut dick und deutlich aufgetragen, übrigens ein Unmut nicht von heute: ein jeder kannte die Gründe, auch die unpolitischen. Der Kaiser nickte ihm freundlich zu.
Er behielt den Innenminister noch ein paar Minuten bei sich und führte mit ihm ein leises, sehr höfliches Gespräch. Das schmale, kluge Pastorengesicht des Innenministers, bartlos und mit Favoris, wurde noch blasser, als es schon während der Sitzung und seiner gehaltenen Opposition gegen das Gesetz gewesen war. Er verbeugte sich gemessen und ging, mit dem Taschentuch die dünnen Lippen betupfend.
Morny hatte sich, um das Sondergespräch nicht zu hören, diskret in die Fensternische zurückgezogen und las mit hochgezogenen Brauen in den eben stipulierten acht Artikeln des Gesetzes, für das er sich eingesetzt hatte. Er war kein Minister und hatte im Kabinettsrat keine Stimme; aber er wohnte ihm bei wie stets bei wichtigen Entscheidungen, auf Wunsch des Kaisers.
Der Bruder hüstelte, er drehte sich um. Sie waren allein.
»Ich danke Ihnen für die Unterstützung, mein Lieber«, sagte der Kaiser und wies auf den Stuhl neben sich.
»Sie kam nicht von Herzen«, meinte Morny und setzte sich.
»Das tut nichts zur Sache«, lächelte Napoleon, »mir kommt das ganze Gesetz nicht von Herzen.«
»Sondern?«, fragte Morny und sah ihn an.
Der Kaiser hob das Gesicht und blickte einem wohlgelungenen Rauchring nach. »Damit Sie es gleich wissen«, sprach er, »und als erster, wie es sich gehört: Herr Billault wird am 7. das Innenministerium abgeben.«
»Das fehlt noch«, sagte Morny ziemlich leise und er dachte zweierlei, beinahe nebeneinander: ›abgeben‹ … was für eine Leisetreterei der zermalmenden Stiefelsohle! – ›abgeben‹ an wen? An mich etwa?, wie Billault vor vier Jahren das Kammerpräsidium an mich abgab?, und will ich es denn, in diesem vollkommen unklaren, unberechenbaren, möglicherweise unheilvollen Augenblick, habe ich es denn nötig?, und warum, zum Teufel, würde ich Ja sagen? –
»Gewiss, das fehlt noch«, sagte der Kaiser nach einer kleinen Weile, »die Dinge laufen nun einmal plötzlich heftig. Unser Freund Billault ist ein sehr angenehmer Mann der Mässigung, ich habe ihn gern und werde ihn hoffentlich wieder einmal gebrauchen können, hoffentlich bald. Jetzt aber brauche ich einen Scharfmacher, sowohl für das Gesetz als auch für den Prozess.«
Ich bin doch um Gottes willen kein Scharfmacher, nicht einmal ihm zuliebe!, dachte Morny. Der Kaiser nannte den Namen eines sehr bekannten und gefürchteten Staatsstreichoffiziers. »Aber das ist ja die vollkommene Militärdiktatur!«, rief Morny.
»Ich trage einen Gehrock, wenn ich mich nicht irre«, sagte Napoleon verbindlich; »aber ich schicke sogar einen Marschall nach London, wenn sich Persigny an unserer Emigrantensuppe die Zunge verbrannt hat …« Er lachte plötzlich und nannte den Namen des berühmten Krimsiegers, eines in England sehr hoch geschätzten und immer noch populären Mannes. »Das erneuert die alte Waffenbrüderschaft«, schloss er vergnügt, »und macht die Emigrantensuppe verdaulich.«
Morny sah überrascht aus. »Aber warum dann die ganze Scharfmacherei?«, fragte er, »warum dann den europäischen Radau?«
»Ich habe gelernt«, antwortete Napoleon, »dass es für das erste Jahrzehnt einer Macht unter allen Umständen besser ist, für zu schwer als für zu leicht befunden zu werden. Für den Grad und die Verteilung des Druckes zu sorgen, ist dann eine Aufgabe zweiter Ordnung.«
Wäre er nur aufrichtiger!, dachte Morny; man könnte einen leichteren Kopf haben, wenn ihm das Attentat wirklich nur in den allgemeinen Kram passte: aber es passt ihm, fürchte ich, in irgend einen speziellen und heillosen … »Was Sie da sagen, Louis, kommt im Effekt auf die Formulierung hinaus, die Sie neulich zur Parlamentseröffnung fanden: dass nämlich die Gefahr nicht im Exzess der staatlichen Machtfülle liege, sondern im Fehlen der gesetzlichen Repressalie, die wir ja nun haben. Aber schon die Formulierung hat wie eine Repressalie gewirkt und dennoch die bedrängten Gehirne jene berühmte Gefahr nicht recht finden lassen.«
»Sie tun so, Morny, als verstünden Sie mich nicht – und dabei war ich doch so klar! Es genügt vollkommen, wenn die staatliche Machtfülle die Gefahr behauptet oder sie nur erwähnt. Das ist noch lange kein Exzess, scheint mir. Aber ein Bombenattentat ist einer.« Er schlug leicht mit der Hand auf den Sessel. »Um endlich von der Praxis zu sprechen: Sie werden als Berichterstatter das Gesetz Ihrer Legislative vorlegen oder als berühmter Dirigent Ihrem bewährten Orchester einüben. Sie sind innerpolitisch der liebe Krim-Marschall, lieber Morny, der Vicekaiser mit dem parlamentarischen Gemüt – hören Sie das nicht gerne, mon vieux? Sie werden als der Grande der Reichs-Duldsamkeit die immanente Toleranz des Gesetzes aufzeigen und feierlich proklamieren, dass jene ruhig schlafen können, die nicht zu konspirieren beabsichtigen, auch die Royalisten, auch die friedlichen Republikaner. Denn, nicht wahr?, ich habe sowohl für politische Erinnerungen als auch für politische Zukunftshoffnungen etwas übrig, sofern sie nicht militant werden. Das Gesetz gilt gegen Verschwörer, Demagogen und Anarchisten und ist zudem nur für eine Übergangszeit gedacht. Dies zu explizieren und auf die neuen, hohen Wellen der Erregung das Öl Ihres Charmes zu giessen, ist Ihre Aufgabe.«
Jetzt kam eine Stille, die für die glatte und fast heitere Instruktion ein wenig zu schwer war. Der Kaiser hatte unruhige Finger.
»Louis«, sagte Morny dann behutsam, »Sie sprachen vorhin vom ersten Jahrzehnt der Macht. Wir schreiben das Jahr Achtundfünfzig. Das Dezennium geht dem Ende zu. Ich finde den Schluss, den Sie vorbereiten, nicht erfreulich, ich kann mir nicht helfen.«
»Aber liebster Freund«, warf der Kaiser lächelnd ein, »wir spielen da mit Ursache und Wirkung wie Kinder mit Gummibällen! Es ist doch das Attentat, das den Staat veranlasst, sich zu wehren. Was anderes bereite ich denn vor als die Abwehr möglicher Gefahren – nun ja, und die mögliche Übertriebenheit der Abwehr, also ein entstehendes Missverhältnis zwischen dem Grad der Abwehr und dem der Gefahr: das, lieber Morny, wäre ja bereits der Erfolg und als Konsequenz die Aussicht, die auch mir angenehme Aussicht, nicht mehr mit der nackten Hand zu drohen, sondern wieder Glacéhandschuhe anzuziehen.«
Napoleon sah lächelnd auf, und im gleichen Augenblick fast lächelte auch der Bruder. Denn beide, durch das Jahrzehnt der Gemeinsamkeit mit einander vertrauter, als sie es zugaben, wurden an einen sehr einprägsamen Morny-Satz erinnert, an eine nicht leicht zu vergessende Stunde des Staatsstreiches, vor der programmässigen Provokation. Damals war Morny der Fürsprech des Macht-Exzesses gewesen – man dürfe sich gewiss Handschuhe anziehen, wenn man Revolution mache; aber die Handschuhe verhindern nicht, dass Blut an die Finger komme und ein wenig auch unter die Nägel –, damals war Morny der Mann der zynischen Aphorismen und der heftigen Staatsaktion gewesen. Heute schien es der Kaiser zu sein, ob das Gleichnis vom Handschuh zufällig war oder nicht. Es blieb die Frage, ob es die Einsicht in die Zeit war, die Mornys Standpunkt veränderte, oder vielleicht nur die bequem gewordene Seele des Satten und Zufriedenen. Morny war satt und zufrieden: vielleicht hatte der Kaiser recht, wenn er die Zeit nicht anders behandelte als zu Anfang des Dezenniums.
»Denken auch Sie gerade an den blutigen Ernst vom 4. Dezember, zwei Uhr nachmittags, Louis?«, fragte Morny geradezu.
»Ich denke sehr oft daran, auch jetzt«, antwortete der Kaiser. »Das ist eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens gewesen. Ich kämpfe zeitlebens um den Ernst. Dass er manchmal blutig war oder ist, irritiert mich immer noch – ob weniger als früher, wage ich nicht zu entscheiden. Das ist wohl vor allem eine Nervenfrage, Nerven sind labil, und meine Nerven werden nicht besser. Man muss aber unter allen Umständen versuchen, das Staatsgeschäft ohne Rücksicht auf die persönliche Konstitution zu verrichten. Vielleicht ist deshalb zuweilen meine Angst so gross, krank zu werden oder noch kränker – ein kranker Kaiser.«
Er sprach leise, freundlich und etwas lehrhaft, auch den letzten Satz, dessen Inhalt wie von ungefähr zu dieser unerwartet geäusserten Theorie seines Staatsführerbegriffes gehören mochte. Er sass zusammengesunken und schmächtig in dem grossen Sessel, die durchgrauten Haarsträhnen hingen über die Ohren, die Augen waren nicht zu sehen, und unter den Augen die Säcke waren an diesem Tage prall, wie aufgepumpt. War er krank?
»Was ist es nun mit dem Ernst?«, fragte Morny leise und hartnäckig.
»Man muss ihn der Zeit, die sich vor ihm drückt, aufbinden. Die Zeit hält sich und mich für leichten Sinnes. Ich bin also, so lange ich diktatorisch arbeiten muss – und das ist: bis zum Gewinn der vollkommenen Ernsthaftigkeit des Regimes –, gezwungen, das Staatsschwergewicht zu übertreiben. Ich hoffe nur, dass ich mich bei diesem Gewichtsheben nicht körperlich überhebe.«
Das war die zweite Anspielung auf die Gesundheit. Morny wurde unruhig. »Fühlen Sie sich denn krank?«, fragte er schliesslich.
»Nein«, entgegnete Napoleon; »wenn gerade eine Bombe neben einem explodiert und einem nur einen Nasenstüber gibt, dann fühlt man sich sogar besonders gesund oder doch besonders lebendig und sicherlich besonders lebensanhänglich.« Er schwieg und strich mit dem Finger die Schnurrbartenden entlang. »Immerhin«, sagte er dann, »man war Todeskandidat, und die Kaiserin ist begreiflicherweise in einer nervösen Zeit, anscheinend von allerlei Gedanken hin und her gerissen – sie drängt sehr auf die endliche Regelung der Regentschaftsfrage, sie als Regentin natürlich, wie es der Senatskonsult nach der Geburt meines Sohnes für den Fall der Thronvakanz bereits stipuliert hat. Ich werde jetzt auch die Patente herausgeben, sowohl für die Regentschaft als auch für den Regentschaftsrat, zu dem natürlich Sie gehören werden, lieber Freund, und wenn irgend möglich auch Persigny.«
Morny war nicht überrascht; denn er wusste es von der Kaiserin selber, die in solchen Fällen bei den massgebenden Männern vorzufühlen pflegte, auch bei den Freunden ihres Mannes, die nicht ihre Freunde waren. Er verstand auch die Erwähnung Persignys, den die Kaiserin nicht ausstehen konnte: der Regentschaftsrat, unter Führung der verhassten Verwandten des Palais Royal und unter Mitarbeit der oppositionellen Staatsstreichgefährten, würde der Regentin die Selbstherrlichkeit sehr schwierig machen. Noch also war die schönste Frau keine politische Gefahr und ihr politischer Ehrgeiz, sofern er überhaupt schon bestand, nur eine Form der Laune oder auch der dynastischen Angst. Noch war die Bitterkeit in des Bruders Worten nicht allein durch solchen neuen Anspruch Eugenies zu erklären.
Morny spielte mit dem Klemmer. »Die Thronvakanz«, meinte er vorsichtig, »tritt ja schon ein, wenn die Krone abwesend ist, ausser Landes – zum Beispiel im Kriegsfall.«
»Gewiss«, bestätigte der Kaiser ruhig.
Morny hob den Kopf und wollte seinen Blick fassen, er wollte ihn endlich stellen; aber Napoleon, im Schutz seines Sessels, wandte nicht das Gesicht aus dem Schatten. »Louis, rechnen Sie mit Krieg? Nach allem, was geschieht – nach allem Ungewöhnlichen und, nach Ihren Worten, Übertriebenen, was Sie tun: rechnen Sie mit Krieg?«
Der Kaiser bewegte die Hand mit der Zigarette vor dem Gesicht. »England bekommt ja seinen Krim-Kameraden«, bemerkte er vergnügt.
»England!«, rief Morny heftig, »wer ausser ein paar blöden Gardeoffizieren denkt im Ernst an einen Konflikt mit England! Und warum halten Sie gerade mich zum Narren, Louis? Sie wissen doch, wo meine Sorge steht – nicht erst seit dem Attentat –, sie steht auf Ihrem sogenannten neuen Weg. Und der führt unweigerlich gegen Österreich.« –
»Aber mein Lieber, was wollen Sie denn? Die Doppelmonarchie steht doch garnicht zur Debatte, sie beherbergt keine Emigranten, sie bekommt gar keine Note …« Der Kaiser beugte sich etwas vor, vielleicht um den Bruder sehen zu lassen, dass er lächle.
Morny stützte den Kopf in die Hand und sagte abgespannt: »Wenn ich wüsste, dass dies alles nur Angst ist, begreifliche Angst, mit allem technischen Drum und Dran, meinethalben auch mit Ihren axiomatischen Formeln von Staats-Ernst und Staats-Aktion – aber keine Planhaftigkeit, mit dem ganzen Angst-Betrieb nur als ein Mittel zum dunklen Zweck, als Auftrieb auf den dunklen, neuen Weg, ach, auf den alten Ausweg einer aussenpolitischen Aktion …«
»Aber Sie, mein alter Freund«, unterbrach Napoleon friedlichen Tones, »Sie spekulieren doch bereits auf Baisse, soviel ich gehört habe.« Morny schwieg und zog die Brauen hoch. »Passen Sie jetzt einmal auf, Morny, und entscheiden Sie selber, ob und wieviel Angst im Spiel ist. Von Giuseppe Mazzini, dem Papst aller Carbonari, Verschwörer, Anarchisten und Attentäter, dem Gegenpapst des viel klügeren, tüchtigeren und gefährlicheren Cavour, meines speziellen Freundes – von Mazzini bekam ich vor neun Jahren, als ich sein rotes Rom entfärbte und seinen römisch-republikanischen Triumvirnsitz umwarf, einen Brief, der noch drüben im Geheimschrank meines Arbeitszimmers liegt und folgenden Satz enthält: ›Du hast den Schwur Deiner Seele gebrochen, Du hast den Gott Deiner Jugend verraten.‹ Dieser Mann – der einzige, der mich zu duzen wagt, hat meine Ermordung als eine ›unbedingt notwendige und fast fromme Tat und unerlässlich für das Heil des Volkes‹ bezeichnet oder sogar anbefohlen. Vor drei Jahren war das Komplott des Italieners Pianori, im vorigen Jahr der Anschlag des Italieners Tibaldi, jetzt das Attentat des Italieners Orsini. – Bitte, entscheiden Sie also: ist Angst im Spiel?«
»Natürlich«, erwiderte Morny, »die Vorgänge sind ja bekannt. Dass Angst im Spiel ist, steht nicht in Frage.«
»Sondern?«
»Das Spiel selber.«
Napoleon lehnte sich zurück und lachte leise. »Merkwürdig«, meinte er, »dass ich das Primat meiner Angst verfechten muss – meine primäre Feigheit sozusagen.«
»Feigheit aus Opportunität macht die Panik des Herzens unglaubhaft, Majestät. Ausserdem sind Sie, soviel ich weiss, keine feige Natur – schon weil Sie es nicht lieben, mutig genannt zu werden.«
»Endlich ein Aperçu von Morny!«, lachte der Kaiser. »Dann kann ich Ihnen nicht helfen, dann kann ich Sie nicht beruhigen, dann müssen Sie weiter auf Baisse spekulieren. Aber die Historiker wenigstens werden an meine Angst glauben. Und der grollende Inselgott von Jersey und Guernsey wird wieder einen neuen Buchtitel haben: Caracalla.«
»Ich begreife Ihre gute Laune nicht, Louis.«
»Warum nicht, lieber Freund, warum begreifen Sie nicht schlechthin alles, wie unsere lustig und heillos spürsame Zeit, die alles begreift, von der Nichtexistenz unseres Herrn Jesus Christus bis zur Heiligkeit der Hure, vom Recht am guten Leben bis zum Lob des braven Mörders – zum Beispiel meines verführerischen Felice Orsini, der sogar ein Graf sein soll. Oder begreifen Sie etwa auch nicht diese Sensation des Tages, die allerneuste Toleranz-Mode, den allerneusten Ausbruch melodramatischer Unzucht: den Orsini-Rummel?«
»Ich begreife leider den Orsini-Rummel besser als Ihr heiteres Gesicht, Sire, ich finde ihn abscheulich vom Standpunkt des Geschmacks und recht bedenklich vom Standpunkt jener allgemeinen Sicherheit, die wir gerade gesetzlich erhärten. Und wenn mir etwas dazu verhilft, innerlich über die Masslosigkeit des Gesetzes hinwegzukommen, dann ist es die Masslosigkeit der Mörder-Glorifizierung.«
»Mir geht es nicht ganz so, aber ähnlich«, sagte der Kaiser und lächelte in den Rauch hinein, »auch mir hilft die Mörder-Mode über allerlei hinweg. Wäre ich nichts als provokatorisch, oder leitete unser Prophet das ganze Angst-Geschäft, so gehörte sie geradezu zur Inszenierung. Aber das Übertriebene ist eine Lawine, die im Abrollen von selber wächst. Man muss also den Ablauf politischer Ideen oder Absichten gleichsam auch physikalisch zu berechnen versuchen. Von der Wechselwirkung jener epidemischen Sentimentalität und unserer Allgemeinen Sicherheit habe ich also eine andere Ansicht als Sie, lieber Morny. Und nennen Sie bitte das Geschmacklose nicht geschmacklos, das Abscheuliche nicht abscheulich, lieber Morny; denn die Epidemie ist bereits bis in die Tuilerien gedrungen – hören Sie, Morny: bis in meine Ehe.«
Auch das wusste der Vicekaiser schon, und er dachte beklommen: vielleicht ist ihm seine gute Laune, seine Allgemeine Sicherheit und die dunkle Gravitation seiner Politik so wenig geheuer wie mir.
Das wusste der ganze Hof vom Marschall bis zum Lakai, das lief schon durch die Schichtungen der Gesellschaft und tropfte in die Reservoirs der Zeitungsredaktionen, das rieselte schon in die grosse Zisterne der National-Frivolität. Das wusste sogar schon der Hasser Rochefort und dachte: man wird genug haben für den Durst.