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Die schwere Stunde

Die Stadt stöhnt, und es stöhnt die Kaiserin. Beide haben ihre schwere Stunde. Durch beide stösst sich das neue Leben, unter Schmerzen. Das neue Glück ist kein leichtes Glück: es soll nicht flüchtig sein, es soll ja dauern.

Wie wunderbar hebt die zweite Säkularhälfte an: die kaiserliche! Im vorigen Oktober – Jahr der Weltausstellung, auch des Krieges, auch noch der Cholera, auch der rebellierenden Ströme – verkündete der »Moniteur«, dass die schönste Frau sich Mutter fühle. Dies noch fehlte zum Glück. Jetzt wird die Vorsehung, gnädig wie nie, den dynastischen Bestand schenken. Wie kann es anders sein? Jetzt ist Mitte März, das sechsundfünfzigste Jahr des herrlich ansteigenden Jahrhunderts, der Himmel steht lieblich über dem Schloss, im Tuileriengarten schwirrt die erste Ahnung von Grün auf, Kinder spielen Reifen, Kinder des Glücks-Reiches. Der Kaiser hört manchmal ihre kleinen Schreie, die Kaiserin hört sie nicht, vor Schmerzen. Der Kaiser ist ernst, früher hat er viel gelächelt.

Als die Wehen begannen, stockte der Friedenskongress, aus Respekt. Selbst Herr von Cavour, der stiernackige Vertreter eines Duodez-Königreiches und dennoch der Dämon des Kongresses, gibt Ruhe, aus Berechnung. Er wünscht sich, dass der merkwürdige Cäsar sein Glück habe, auch dieses Glück. Er ist ein weitblickender Mann, der Cäsar vielleicht auch. Er hat eine scharfe Brille vor den Augen, der Cäsar Wolken. Die Wehen schwingen als lautlose Glocke über die wehe Stadt. Sie hört sie gut, sie hat scharfe Ohren und Verständnis für Glücks-Leid. Beide sind Wehmütter des Kaiserreichs: Paris und Eugenie.

 

Die Geburt dauerte fünfzehn Stunden. Der Kaiser ging auf und ab; man kann sagen, er ging fünfzehn Stunden lang auf und ab. Er ging sein unglaubhaftes Leben auf und ab, auch wenn er still stand, starr vor dem aufgebäumten Schmerz der Kreissenden, auch wenn er ihre heissen, nassen Hände hielt. Man erzählte sich, er habe fünfzehn Stunden lang geschluchzt. Das ist nicht wahr, er hatte die Tränen niemals nahe gehabt, er war kein weinerlicher Mann, man wusste nicht einmal, wo seine Weichheit sass: im guten Herzen, das sich verhärten konnte, in der weichen Hand, die sich zäh seine Zeit zurecht gebogen hatte, in seiner Duldsamkeit, die zumeist doch die Unnachgiebigkeit verkleidete und keinesfalls Achtung vor den Menschen war, bestenfalls Achtung vor dem Leben – man wusste nicht, wo seine scheinbare Weichheit sass und ob sie überhaupt existierte. Er hatte nicht einmal geweint, als Hortense starb – es war fast zwanzig Jahre her –, als die wunderbare Mutter starb, die den Tod im Schoss trug, wie Eugenie das Leben, die den Tod austrug, langsam, langsam, um den Sohn aus der Verbannung über den Ozean ins Leben zurückzuholen, in die Berufung, in die Historie. Er hatte keinen Menschen so geliebt wie die Mutter und doch nicht geweint; denn Hortense war keine weinerliche Frau gewesen. Aber er hatte das Leben aufgenommen, wie sie es wollte, – und so war er jetzt der Kaiser, undeutlich noch immer, bewölkt in der grellsten Sonne des Triumphes, von keinem zu berechnen, auch nicht von den alten Gefährten und beinahe schon historischen Wegbereitern, die jetzt die grossen Würden trugen, von keinem vollkommen gekannt, auch nicht von Eugenie, die ihn in den Pausen der Wehen mit den schönen, kalten, blauen Augen ansah, mit den berühmten Augen, die sogar gegen das eigene Leid teilnahmslos schienen. Sie sah ihn an, nicht ganz ohne Abneigung. Er dachte: sie ist keinen Augenblick hässlich, so viel Schönheit tut nicht gut. – Ob sie sich liebten? Er liebte sie, nicht besinnungslos, weil er Besinnungslosigkeit nicht kannte, nicht ausschliesslich, weil er nur in der Freundschaft Treue kannte, er liebte das Kind, das den stossenden Leib nicht verlassen wollte, und die Angst um beide stiess ihn hin und her durch das Leben, durch das wunderliche Leben, das ihm dennoch sinnvoll schien bis zu diesem schweren Kampf des mütterlichen Körpers und vielleicht, wie ermüdet von dem zu grossen Aufwand an eingelösten Versprechungen, jetzt, gerade jetzt, den Schwung verlor, den ausstossenden Schwung, den furchtbar notwendigen. Aber er schluchzte nicht die fünfzehn schweren Stunden lang, sondern nur einmal, ganz zum Schluss.

Indessen, er rauchte nicht während dieser fünfzehn Stunden, und das war das Ungewöhnliche und das Unglaubliche. Das war so, als wenn ein anderer Mensch während solcher langen Zeit nicht zu atmen wagte. Er rauchte immer, der Zigarettendampf legte sich um seine ohnedies gedämpften und eingewickelten Worte und züngelte dünn und stetig aus dem Mund, den der Bart verbarg, und aus der mächtigen Nase, die der Bart besänftigte, um die ohnedies bewölkten Augen. Sein Kopf, der keine genaue Kontur vertrug, war wie ein Rauchgefäss, das Seele und Gesicht verschwommen machte. Er rauchte bei den Prunkbällen im Schloss und in den Ministerien, zwischen den Gängen der Mahlzeiten, während des Ministerrates und der ministerlosen Überlegungen und Gespräche seiner krausen Privatpolitik. Er rauchte zwischen artigen Worten und zärtlichem Tun, bis zu dem Augenblick, wo er plötzlich und hastig und gleichsam aufbrausend eine Frau nahm, und er rauchte, kaum dass er sie genommen hatte. Doch jetzt, während der zwiefachen Lebenswehen dieser fünfzehn Stunden, rauchte er nicht; er tat es nicht einmal aus Rücksicht auf die Gebärende, die seinen Nerven doch das Labsal gegönnt hätte: er vergass daran.

Da war nur ein Abend gewesen, eine kleine Abendstunde, an dem ihm das Gleiche geschehen war: an jenem Montagabend vor der Staatsstreichnacht, als ihm, dem neuen Cäsar, dem fatalen Cäsar, dem eidbrechenden Präsidenten der Republik, sein alter Lehrer Le Bas, der Mann mit dem reinen Herzen in den klaren Augen, Humanist und catonischer Republikaner, der beste Freund, der ihn am besten und längsten kannte und der seine Liebe für ihn, den Erzfeind, mit dem lebenslänglichen Verlust der Seelenruhe bezahlte – als ihm der noble und geliebte Mann den geistigen Prozess machte. Damals unter der Wucht der gewaltigen Anklage, die ihm doch kein Wort der Verteidigung und wahrhaftig auch keinen Gedanken der Reue entlockte, ging ihm die Zigarette aus, und er vergass, sie wieder anzuzünden.

Jetzt aber, in dem erbarmungslosen Hin und Her durch das Leben, kam er auch zu dieser kleinen Stunde: nicht durch die gleiche Abkehr vom Rauchen, sondern durch die gehetzte Suche nach dem gerechten Mann und seiner Prophetie. Wo um ihn herum gab es gerechte Männer, wie konnten sie sich auf dem vollkommenen Rund seiner Macht, auf der Kugel seines Glückes halten? Und vermisste er sie je, liebte er sie denn? Nein, er wollte sie nicht, er hatte ja damals, im Morgengrauen des 2. Dezember, mit seinen Gegnern auch den gerechten Freund Le Bas verhaften lassen – übrigens nicht, um ihn zu vernichten, sondern um ihn, den lieben, guten Professor, vor den Barrikadenkämpfen zu behüten, aber wer wusste das, wer glaubte das? – er hatte ihn schnell wieder in Freiheit gesetzt, kaum dass die Strasse gezähmt und die Barrikaden fortgeräumt waren, er hatte ihn sofort seinem akademischen Leben wiedergegeben und seine Laufbahn heimlich gefördert: aber er hat ihn doch verloren und will ihn garnicht zu sich zurück zwingen. Es tat ihm nicht weh, er war einsichtsvoll und merkwürdig genügsam. Es genügte ihm, dass er dem gerechten Freund wohlwollte – jener mochte es wissen oder nicht – und dass er, über den Wolken, dieses kleine Schicksal gnädig lenkte. Er brauchte keine Gerechten, er wollte sie nicht, er war gern mit sich allein, dampfumhüllt, er hatte alles in sich, auch die Gerechtigkeit: er brauchte nur zu suchen.

Ach, er vergass nichts, und der Prozess des gerechten Mannes, die kleine Abendstunde vom 1. Dezember 1851, lag in einem der tausend Fächer seiner Erinnerung. Wenn er ganz in sich versank, in sein Geheimnis, in seine Skepsis oder in seine Angst vor dem Glück, dann war es zumeist sein Bedürfnis, nicht so sehr die Rechtmässigkeit oder Unrechtmässigkeit seines Glückes festzustellen, als dem plötzlich bodenlosen Thron (und dem plötzlich flatternden Gewissen) eine neue Stütze zu geben, ganz heimlich und skrupellos nachträglich, nur weil die überschüttete Gerechtigkeit in ihm auffährt wie eine Stichflamme: dann kam die erstaunliche und ganz unerwartete Humanität zum Vorschein, die sozialen Dekrete, die Gnadenakte, der schiedsrichterliche Tenor über ganz Europa, der Fürsprech für die nationalen Minderheiten. Das geschah nicht selten, man nannte ihn die Sphinx oder das Rätsel und hielt ihn für unberechenbar, einmal Trajan und einmal Tiberius. Doch wenn er, ganz selten, vom Schicksal gestellt und in die Enge getrieben wurde, wie jetzt in diesen fünfzehn Stunden, dann riss er die tausend Erlebnisse auf, dann mobilisierte er die Fakten seines ausserordentlichen Lebens, nicht um des Rechts und des Unrechts willen, sondern um der Wahrheit willen. Er liebte nicht die Wahrheit, ja, er fürchtete sie, weil sie vielleicht fürchterlich war. Aber er brauchte sie in solchen schwarzen Augenblicken, um zu erkennen, wo er stünde und ob es weiterginge. Es war bei ihm nicht einmal selten, dass er ein Held war aus Angst.

Die Wahrheit der Geburt ist fürchterlich wie die des Todes. Man hat keine Wahl und keinen Ausweg in die Praktiken der Halbwahrheiten, in denen man Meister ist. Man hat so ehrlich zu sein wie die Gebärende, und Eugenie hat es zum Sterben schwer.

Wie stand es um die Wahrheiten, die ihm damals der Lehrer Le Bas an den Kopf warf? Er hatte den Staatsstreich gemacht und den Eidbruch vom 2. Dezember verwunden, nicht aber die Toten vom 4. Dezember. Er dachte an sie, nicht immer, aber auch nicht selten. O sein gutes Herz, das selbst Le Bas zugab und das nur er, der Herzliche, nicht überschätzte! Warum verwand er nicht die zweitausend Opfer vom 4. Dezember und scheinbar doch die viel höhere Leidziffer, die seine erbarmungslosen »gemischten Kommissionen«, vier Monate lang durch das Land wütend, zuwege brachten? Warum verwindet er scheinbar die hunderttausend Menschen, die Frankreich jetzt in der Krim verloren hat? – Was für demagogische Fragen! Ein so fragwürdiger Mensch wie er hat sich die Neugierde schon lange abgewöhnt, und seitdem er Diktator war, verbot er sie auch dem Volk. – Jetzt aber wird gefragt und geantwortet, und wenn er keine Antwort weiss, so sieht er sich doch jenen tückisch hellen Wintermittag am Schreibtisch, die Uhr liegt vor ihm auf der Platte, die Hände klammern sich rechts und links ans Holz und sind schweissnass, das grosse Fenster steht doch offen und lässt den kalten 4. Dezember in den Raum und dann die tobsüchtige und dennoch schaurig pünktliche Auspeitschung der Luft: die Füsilierung des hervorgelockten Aufruhrs. – Weil er die scharfen Schüsse hörte, konnte er sie nicht verwinden? Weil er die endlose Kanonade von Sebastopol nicht hören konnte, verwand er sie? War es das, die alte Schwäche vor dem Eindruck, die Kapitulation vor dem Unmittelbaren – griff er sich jetzt an und schüttelte er das Leben durch, nur weil neben ihm die Frau auf das eindrücklichste angegriffen und geschüttelt wurde? – Ach, das war es nicht, es gibt doch Unterschiede, die mit dem Gefühl und sogar mit der Vernunft zu greifen sind. Der 4. Dezember war nicht aus dem Herzen zu reissen, weil er, als dritter Revolutionstag und Kanonenschlag konstruiert, abgefeuert wurde, um den Ernst des neuen Cäsars zu beweisen. Man vergisst ihn also nicht, weil die Opfer vielleicht nicht nötig waren. Vielleicht nicht nötig? Ihn umwitterte Lächerlichkeit sein Leben lang und sie hörte wohl nicht auf, er hatte sie nur von sich abgeworfen, und sie war auf seine Zeit gefallen, sie hatte sich nur verkleidet, nannte sich jetzt Frivolität und machte das Kaiserreich immer vergnüglicher. Es war nötig gewesen, dass die ironische Stadt an seinen Ernst glaubte. »Der Ernst ist auf der ganzen Linie gewonnen.« Wer machte ihm damals diese blasphemische Meldung? – wer anders als der Bruder Morny, den man mit vielem Recht den Vicekaiser nennt. Der innenpolitische Ernst war gewonnen, aber die Kosten des Erfolges nicht zu verschmerzen, gut. Er verstand, den Schmerz für sich zu behalten, es war ihm nichts anzumerken, in der ersten Zeit nur spürte ihn Morny auf und ironisierte ihn gutmütig, und kürzlich einmal fragte ihn die manchmal sehr aufmerksame Eugenie geradezu, ob es ihn noch schmerze, und er hatte ohne weiteres Ja gesagt, ganz erstaunt und schon ein wenig ärgerlich über die eigene Aufrichtigkeit. – Aber der Krimkrieg, Sire, war er nötig?, war er anders nötig, als um den Ernst des Kaiserreichs zu erweisen, den aussenpolitischen Ernst? Warum also tut der gewonnene Krimkrieg nicht weh, aber der gewonnene 4. Dezember? Antwort! – Hier ist die Antwort: wegen der roten Wolke vor den Augen damals, wegen der Blutwolke, wegen des blutroten Beginns der Macht, wegen der ersten blutigen Wahrheit der gerechten Prophetie. Der Blutscheue sät Blut und erntet es schon. Der Désiré, der Volksersehnte, treibt die zusammen, die ihn nicht ersehnten, und lässt dann schiessen. Welcher Zwang zum Bürgerkrieg: dass das Volk seinen Liebling ernst nehme! Welche nicht zu verwindende Erfahrung: dass der cäsarische Ernst schrecklich zu sein habe! Ja, man figuriert nicht umsonst, nicht so billig und aus zweiter Hand, als neue Lesart des grossen, blutigen Namens. Man wird nicht das Glück, man wird das Unglück sein. Und wenn keiner noch das Unglück sieht, er sieht es dann schon, der immer skeptischere, immer weisere, immer mehr mit dem verhängten Blick das Glücksgewölk durchstossende, immer schwächere, immer mehr vom Sog der grausam unaufrichtigen Zeit mitgenommene, arme, neue Cäsar.

 

Der Kaiser heisst Napoleon. Früher hiess er Louis, dann Louis Napoleon, dann frass der grosse Name den kleinen langsam auf. Früher war sein Gesicht ungehörig, ein Hohn und Witz auf den grossen Namen. Dann breitete sich der Name über das Gesicht aus, wie die Sonne über eine nachttraurige Landschaft; und es ist gültig geworden, das Antlitz der Zeit. Die Offiziere tragen es, die Beamten, viele Bürger, nicht nur die Münzen. Sein allgegenwärtiger Bart heisst: Imperial. Man sieht nicht Mund noch Kinn der Zeit.

Man sieht den Erfolg, den heftigen Erfolg der immer grösseren Zahl. Zu was hat es die Demokratie gegeben, wenn das stürmisch kletternde Thermometer der Volkstemperatur nicht beweiskräftig ins Kaiserreich gestiegen ist? Das Volk hat seinen Willen kundgegeben, und nicht nur einmal. Der Gerechte hatte noch in der kleinen Abendstunde gesagt: der neue Cäsar, der Populäre, der Désiré könne mit dem Volk machen, was er wolle; aber, brüchiger Cäsar, man könne es auch umgekehrt sagen. Ist sie jetzt noch wichtig, die Umkehrung, oder zielte sie nur auf die grosse Entschuldigung des eidbrüchigen Magistraten: dass die Popularität, der Volkswille ihn zum Staatsstreich gezwungen habe? Was hat das Volk jetzt noch zu sagen, nachdem es sein ungeheures Ja, sein Ja zu Allem gesprochen hat? Das Volk hat gewählt. Fünfundsiebzig Prozent der Wähler hatten ihn einst zum Präsidenten der Republik bestimmt. Das war schon eine stolze Ziffer, und wenn es auch Freund Persigny war, der gewaltige Dunkelmann und Massenkneter, Prophet des Imperiums und Loyola der napoleonischen Idee, der die Masse in Bewegung gesetzt hatte, mit seinem demagogischen Genie, mit allen Mitteln, sogar mit dem Hurengeld der schönen blonden Miss Howard. Aber dann, nach den dunkelmännischen Dezembertagen, wie schwoll dann das allgemeine Ja an! War das Gottesstimme oder nur Regie, nur Glück? Der Gerechte prophezeite eine grossartige Mehrheit. Aber ahnte er, dass es neunzig Prozent sein würden, die den Staatsstreich sanktionierten? Ahnte er, dass es fast siebenundneunzig Prozent waren, die den diktatorischen Kaiser wollten? Siebenundneunzig von Hundert! Welcher Führer hatte jemals solche Gefolgschaft? Welche Wahl hatte jemals dieses Resultat? Und die Zahl berauscht nicht den besonnenen Mann des Glücks, enthebt ihn nicht der roten Wolke und der schwarzen Prophetie? – Was sind Wahlziffern, gewaltige selbst, für den, der weiss, wie sie zustande kommen! Was ist die Besessenheit des Volkes für den Magier, der weiss, wie fiebrig sie ist, wie kurzatmig, wie gefährlich und wie anspruchsvoll, wie masslos anspruchsvoll! Was ist das für ein Glück, das immer an einem Haar hängen wird, wundersüchtig, erfolgshungrig! Und das Haar wird einmal reissen – es ist immer einmal gerissen –, die Zentnerlast des Glückes wird auf den Glücklichen fallen und ihn erdrücken oder ihn doch zum Krüppel machen, zum Symbol des Unglücks; aus den Ja-Rufern werden Nein-Heuler, aus Liebe wird Hass – es ist das alte Lied, man braucht es nicht einmal zu prophezein. Es gibt Volkslieblinge und Wahl-Triumphatoren, die den Tag vor dem Abend loben: das sind die Mitlauten und Mitbetrunkenen und Mitblinden, wahrscheinlich die Glücklichen. Der leise Kaiser ist nicht so.

Er hört, er hört in den Raum, er hört den Volksrausch, den er gestiftet, und das siebenundneunzigprozentige Ja, das er gemacht hat. Aber er weiss – das wenigstens weiss er –: er ist nicht Gott. Die glücklichen Triumphatoren, die nicht an den Abend denken, die Mitbetrunkenen wähnen sich immer als Halbgott und zuweilen als Gott. Er nicht, er lauscht und hört nicht Gottes Stimme, nicht Gottes Flüstern in der gefügigen Stimme des Volkes. Das macht traurig und, ganz im Innern, unsicher.

Er hörte in den Raum und drückte die Augen zu. Er hielt sich nicht die Ohren zu, er wollte sich nichts ersparen. Denn schloss er die Augen, die stets nur halboffenen, so kam er aus dem Augenblick heraus in die schwarze Sicht der Zukunft, in die Schwarzseherei.

Eugenie schrie wieder.

Die Schönste hatte eine unschöne, immer heisere Stimme, wie sie Südländerinnen nicht selten haben. Aber wer konnte ahnen, wie sie schrie? Er hatte sie niemals vorher schreien hören, bei dem leisen Kaiser, dem vollendet höflichen, schrie man nicht, und das spanische Zeremoniell, genauer gesagt: das wittelsbachische Hofprotokoll, das die Form der Tuilerien komplizierte und das die Kaiserin vor allem überaus genau nahm und mit feierlicher Strenge übte, zum heimlichen Vergnügen der kurialen Spötter (und auch des Kaisers, der doch auf sein welthistorisches Parvenütum hielt), schloss vollends den groben Ton aus. Sie schrie heiser und schrecklich und auch beim Einholen des Atems. So schreien Eselinnen, so mit rauhem und gehetztem Hin und Her, Auf und Ab des Atems, so hoffnungslos. Er hörte im Raum die dröhnende Hoffnungslosigkeit und senkte den Kopf. Hörte auch sie nicht, die wahrhaft fromme Frau, Gottes Stimme bei ihrem heiligen Werk? Begann das Unglück jetzt, schon jetzt, und begann es bei der Unschuldigen, bei zwei Unschuldigen, der Gebärenden und dem Ungeborenen? – Dann brach auch diese fruchtlose Wehe ab.

Er ging hin und her, die eine Schulter ein wenig höher als die andere. Er hatte einen kurzen Hals, und wenn es ihm schlecht ging wie jetzt, steckte sein geneigter Kopf tief zwischen den Schultern. Die linke Hand, die sonst die Zigarette hielt, war angehoben und hielt sich mit angedrücktem Ellbogen still, so als trüge sie doch eine Zigarette. Manchmal stieg sie zum Mund auf, so als rauchte er doch; dann auch glitt der Zeigefinger den Bart entlang bis zum langen, dünnen, wagerecht ausgedrehten Ende. Das war eine sonderbar behutsame Bewegung, zugleich besänftigend und liebkosend. Die rechte Hand aber hielt er auf dem Rücken, wie stets, und die Finger dieser Hand waren immer in Bewegung oder sogar in Aufruhr. Sie streckten sich, krümmten sich, spielten auf dem Daumen wilde Läufe, zuweilen war es, als zählten sie endlos Geld. (Welche Falle für Psychologen! – denn der Kaiser, ein königlicher Spender, hatte keinen Sinn für Geld.)

Dieser Mann, achtundvierzigjährig jetzt, doch mit einer Fülle der Erlebnisse, die für zwei Menschenleben reichte (so schien es ihm, und er war auch nicht sparsam mit seiner Kraft, er verschwendete sie) – dieser Mann kannte alle Grade des Unglücks und des Glücks, und jede Erscheinung des Schicksals erinnerte ihn an eine andere. Einmal, es war sechzehn Jahre her, trug sein erloschenes Gesicht das Mal des abgesprochenen Lebens, und damals, das Urteil der lebenslänglichen Gefangenschaft auf den hängenden Schultern, damals in der steinbösen Festung Ham hatte er das Hin und Hergehen gelernt, das unaufhörliche Auf und Ab im Takt der Hoffnungslosigkeit. Damals hatte er aber auch gelernt, dass es hoffärtig von den Menschen ist, das Schicksal dekretieren zu wollen, und dass es kein menschliches Verdikt auf Lebenslänglichkeit gibt, wenn die Vorsehung es anders will – ja, dass die voreiligen Menschen nicht einmal das Unglück kommandieren können, nicht einmal in ihre eigens für das Unglück gebauten, festen Häuser: in ihre Gegengotteshäuser, in ihre Zitadellen. O sein Glück im Unglück, wie kannte er es gut – o sein guter Stern, sein alter, gefährlicher Stern über dem Gewölk! Sein Leben war wunderbar, immer wieder. Damals auch erschien das Wunder, kaum dass er an den Felsen geschmiedet war. Es erschien ein Mädchen, nach frischgeplätteter Wäsche duftend, eine kleine Wäscherin, zwanzig Jahre alt, bezauberte den alten, bösen Stein mit junger, guter Liebe und wurde seine Zitadellenfrau, für die sechs Zitadellenjahre, bis er genug hatte von ihr und von der Gefangenschaft, bis die grauen Mauern wieder durch die fadenscheinige Liebe brachen, bis er entfloh, kühn und etwas komisch. (Das Kühne und das Komische, ebenso seltene wie ungleiche Geschwister, liefen ihm ja nach, das Leben lang.) Sie hiess Lore Vergeot, sie lebte noch, sie lebte sogar gut und glücklich, ziemlich dick geworden unter seiner gnädigen, wenn auch unsichtbaren Hand – er war dankbar und gefällig, sofern man vernünftig genug war, seine Wohltaten nicht mit Aufdringlichkeit zu quittieren, er war ihr dankbar, dass sie sich nie mehr sehen liess, – sie wohnte nicht einmal weit, in einem schönen Haus der Champs-Elysées, als Geliebte seinem Milchbruder und Reichsschatzmeister beigegeben – und der Herr wird sie früher oder später auch heiraten müssen, sie mit den beiden Zitadellenkindern. Der Kaiser kannte seine zwei Söhne nicht, sie mochten jetzt dreizehn und zehn Jahre zählen, er interessierte sich auch nicht für sie, er gab nur Geld, er gibt ihnen nur einen Vater und keinen ersten besten, und wird sie einmal zu Grafen machen. Napoleon ist nicht weich, er war es auch nicht, als er Louis hiess, man muss ihn kennen. Vielleicht kannte ihn diese einfache Lore Vergeot, hübsche, braunhaarige Kaiserin von Ham, die lachen konnte; und sie verschwand aus der Zitadelle, bevor die Mutterschaft sie verunstaltete, und sie kam wieder, wenn alles vorbei war. Sie sprach nie ein Wort von der Geburt, sie sprach nicht von den beiden Kindern. So zwar verlernte sie das Lachen. Eugenie hatte es nie gelernt. Sie war zu schön für das Lachen. – Ob Lore so geschrien hat?, fragte er sich jetzt plötzlich. Es war zu bezweifeln; denn Lore war für die Hoffnung geschaffen. – Er blieb stehn und strich sich mit dem Zeigefinger über den Bart. – Wenn alles gut geht, wenn alles gut gegangen ist, dann werden wir nach Ham fahren, Eugenie und ich. – Das war ein Gelübde.

 

Die Hoffnung ist ein grosses und bedingungsloses Geschenk Gottes an die Menschen; denn du darfst hoffen, so lange du lebst, und lebst du auch ohne Gott. Und wenn es wirklich Menschen gibt, die für die Hoffnung nicht geschaffen sind: gehört Eugenie zu ihnen, die Märchenkaiserin, die Dreissigjährige, in deren energischer Hand die Lebenslinie mit seltener Kraft bis in die Handwurzel läuft – gehört der Kaiser zu ihnen, der erfolgreichste Mann der Zeit, den die Schmeichler jetzt, gerade jetzt, den Kaiser von Europa nennen? Dies ist doch die Wahrheit: die Hoffnung kam immer zu ihm, auf den seltsamsten Wegen, er brauchte sie nicht einmal zu suchen, und wenn es auch das Unglück der anderen war, das sie sich als Gefährt aussuchte. Der ältere Bruder, damals, vor fünfundzwanzig Jahren, missglückter Romstürmer gleich ihm und zeitlebens missgünstiger und eifersüchtiger Erstgeborener – weiches Kaisergesicht mit Koteletten – war an einer Krankheit gestorben, die selten Erwachsene anfällt und ein wenig kindisch klingt: an den Masern, und es nutzte ihm nichts, es konnte ihm auch kaum das Ende leicht machen, dass er mit dem letzten Aufgebot der Worte und des Atems, braungefleckt und nicht mehr kaiserschön, dem Bruder, dem ruchlos lebendigen Erben, den königlichen Vater absprach und ihn, das Lied vom falschen Louis keuchend, einen Bankert nannte. Zur gleichen Zeit schon spuckte der tuberkulöse, kleine Reichstadt Blut, der Adlerjunge in Wien, und ein Jahr später war auch er tot. Schon die erste Hoffnung war aus Gräbern gekommen, der Weg war frei für Louis, und er beschritt ihn, ohne Hast, mit viel Geduld, nicht hoffnungsfroh, sondern hoffnungshörig. Denn die Hoffnung erschien ihm oft und stets im rechten Augenblick; aber sie kam nicht wie eine gute Fee, sondern eher wie eine Dämonin, rücksichtslos und befehlssüchtig. Er hatte nur zu gehorchen und er tat es auch: es blieb ihm eigentlich keine andere Wahl. Nach dem kühnen und komischen Handstreich auf Strassburg, der berühmten Verkleidungskomödie vor zwanzig Jahren mit welthistorischen Requisiten wie kleiner Querhut und grauer Mantel, war er in die Verbannung geschickt worden und er wusste nicht recht, wohin, er kreuzte drei Monate lang auf dem Ozean, vielleicht gar war der Atlantik das Exil: das ewige Meer war die vollkommene Hoffnungslosigkeit. Dann aber empfing ihn New York mit der Kunde von dem pompösen Freispruch seiner Strassburger Gefährten; und ehe er noch recht wusste, was er in der Neuen Welt mit diesem Wink des alten Schicksals anfangen sollte, rief ihn die wunderbare Mutter in einem Brief, den er niemals vergessen wird, in einem zugleich überirdischen und abgründig irdischen Brief auf und holte ihn über ihr Sterbebett in die europäische Hoffnung zurück. Schon wieder kam zu ihm die Hoffnung aus einem Grab, das noch nicht einmal geschaufelt, aber doch schon abgesteckt war. Und dann war es ein altes Grab, das von Sankt Helena, das aufgestört wurde, dann war es die Überführung des toten Kriegsgottes ins Pantheon, das ihm die Hoffnung nach London schickte, den tolldreisten Befehl der Dämonin, sich mit der Legende des Kaisersarges nach Frankreich tragen zu lassen, den Katafalk als Sturmbock: und er berannte Boulogne, gehorsam, kühn und komisch, wurde ins Meer geworfen und dann in die Festung Ham. Und auch die Zitadelle war ein Grab, aus der die Hoffnung trat, in mancherlei Gestalt: als Mädchen Lore, als junge Popularität des Märtyrers, als Zeitgeschichte, die sich immer stärker vom schlagflüssigen Julikönigtum abwandte, als Revolutionshoffnung schliesslich. Die Revolution kam, und schon war es nicht die Hoffnung auf ihr Leben, sondern auf ihren Tod, die ihn an die Hand nahm, ihn zurückhielt, bis die Revolution wie Saturn ihre Kinder aufgefressen hatte, bis die Revolution begraben war, und ihn endlich in den Elysée-Palast führte. Und dann begrub er die Republik, in der Hoffnung auf das Kaiserreich. Aus den Gräbern jenes 4. Dezember trat die Hoffnung auf die absolute Macht. Aus den Massengräbern des Krimkriegs stieg die Hoffnung auf die europäische Hegemonie. O Gott, die Hoffnung lief immer zu ihm hin, anhänglich und herrisch und zumeist aus Gräbern! Der gerechte Le Bas hatte in der kleinen Abendstunde gesagt, dass das Glück des neuen Cäsar keine Sonne sei, sondern ein Grubenlicht.

Der Kaiser trat ans Bett, seine Schultern bebten, die Hand auf seinem Rücken zählte endlos unsichtbares Geld. Eugenie schloss schnell die Augen und war bleich, hart und schön wie ein totes Steinbild. – Welche Hoffnung, o Gott, welche Hoffnung kommt zu ihm aus diesem Leid? – Er wandte sich ab und trat weit weg, so weit, wie es der grosse, dunkle Raum erlaubte. Und jetzt geschah es, dass er aufschluchzte, einmal nur. Die Ärzte und die weise Frau hoben die Köpfe. Eugenie öffnete die Augen. Dann öffnete sie langsam und weit den Mund. Sie stöhnte – und dann schrie sie.

 

Er muss ihr helfen, jetzt muss er ihr helfen; denn sie müht sich furchtbar. Er muss die Hoffnung aus der Grabesnähe reissen, das neue Glück aus den Spekulationen des Unglücks. Wenn es gut geht, Eugenie, sind wir auf dem Berg und haben eine weite Sicht. Als in der Staatsstreichnacht die Truppen aufmarschierten, Eugenie, nicht im Takt der Hoffnungslosigkeit, sondern der Kraft, der Macht, der Macht, und der Raum voll war von ihrem und meinem starken Herzschlag: da wollte ich ein guter Kaiser sein, kein grosser, Eugenie, ein guter. Und bin ich es nicht, Eugenie, bist du nicht die Wohltätigkeit in Person, die junge und schöne Wohltätigkeit, die gute Fee der Spitäler, Armenhäuser und Kinderheime? Ist es nicht, als bräche so etwas wie ein goldenes Zeitalter an, als bräche ein Strom von Gold auf, als wehte ein Wind des allgemeinen Glücks? Neue Städte, neue Ordnung, neue Schönheit, neuer Bau des Lebens; wir fangen ja erst an! Wie kann die Hoffnung fehlen, Eugenie, bei solcher Gnade des Werks und der Aufgabe? Eisenbahnen, Telegraphen, Strassenbau, Verkehrsgesellschaften, Schiffahrtslinien, Handelsverträge, Freihandel womöglich, mächtige und wohlorganisierte Kreditanstalten, Sparkassen, Konsumvereine, Warenhäuser, das Glück für jedermann, das Glück der grössten Zahl für alle, auch für die Arbeiter, vor allem für die Arbeiter, Lohnerhöhungen für sie, Siedlungen, Hilfskassen, Pensionskassen für sie und vielleicht sogar, einmal sogar die Koalitionsfreiheit. Das alles sind Hoffnungen und Gelübde, wenn es gut geht, Eugenie.

Wenn es gut geht, Eugenie, ist das allmächtige Kaiserreich, durch den Erben gesichert, der Friede, ich bleibe dabei. Ich habe Europa in der Hand, und es soll die Hand nicht merken. Ich behandele die Russen, als seien sie die Sieger und nicht ich. Ich werde Morny zu ihnen schicken, Morny fängt alle, Morny besitzt die eleganteste Klugheit der Zeit, er ist liebenswert, ohne je zu lieben, er ist der geglückteste Ausdruck meiner Zeit, er ist, was ich nicht bin: er ist auf die anmutigste Weise herzlos und vernünftig – und deshalb nur, weil meine Mutter Hortense das Wunder des Herzens und der Unvernunft besass, höre ich es nicht gerne von ihm, wenn er sich seiner Mutter Hortense rühmt. Du besitzt andere Wunder, Eugenie, auch du bist nicht wie Hortense, du liebst die Marie-Antoinette gerechterweise, die andere Fremde, und sammelst Andenken an sie. Wenn es gut geht, Eugenie, wirst du ihr nicht ähnlicher werden. Ich aber weiss, was war, ich will keinem ähnlich werden, auch nicht dem Kriegsgott, ich will Bündnisse, ich zerstöre nur die Koalitionen, die ihn zerstört hatten, ich liebe England und bin sein bester Freund, ich behandele sogar die Preussen gut, die im Kongress von niemand gut behandelt werden, und ich schone die druckempfindlichen Österreicher, wo ich nur kann. Da ist noch dieser Cavour, ein Stier wie mein Persigny, aber ein Stier mit Brille, man sieht seine Augen nicht. Ich habe ein wenig Angst vor ihm, ich weiss, was er will, doch ich weiss nicht, was alles er kann. Aber dass er Glück hat, das Genie des Glücks, das weiss ich, und man soll sich mit dem Glück verbinden, Eugenie. Man muss etwas für Italien tun, es gehört zum Glück, zur Politik und sogar zu meinem Gesicht; denn der Bart, den ich trage, stammt aus meinem ersten Versuch, das Glück Italiens zu korrigieren. Wenn es gut geht, Eugenie, tu ich es wieder. Auch das ist ein Gelübde.

Wenn es gut geht, Eugenie, und das Glück so gross und rund scheint wie der Vollmond und nur wieder abnehmen kann, dann wollen wir massvoll und geduldig auf den nächsten Mond warten, in der gottruhigen Hoffnung auf den Wechsel der Gezeiten. Und wenn die Kanonen krachen, die Glocken läuten und das Te Deum tönt, dann darf es uns sein, Eugenie, als hörten wir Gott … –

 

Der Kaiser konnte nicht mehr, sein gelbes Gesicht war grau geworden, er hockte auf einem Stuhl, mit krummem Rücken, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und hielt sich die Ohren zu. Er schloss auch die Augen, und plötzlich kam die Müdigkeit zu ihm, er nahm sie gerne an, es war ein Ausweg.

Er schlief ein wenig, das Kinn auf der Brust. Es musste schon tief in der Nacht sein. Als man ihm die Geburt des Sohnes meldete, eine glückliche Geburt, hob er nicht sofort den Kopf: er wusste dennoch, dass es kein Traum sei. Der Erbe! Das war das grosse Wort seines Lebens, das Mutterwort, das Triebwort der Jugend, das Altarwort von Arenenberg, das Warnwort des Lehrers, das Spottwort der Spötter, das Fluchwort der Feinde, das geliebte und gehasste Wort. Jetzt, in diesem Augenblick des Kaisers von Europa, hatte der Erbe den Erben. Das war nicht mehr das Regiegenie Persigny, es war viel mehr, es war Regie der Vorsehung – ja, es ist der liebe Gott dabei!

Napoleon, einst Louis, riss den verzehrten Kopf hoch und lachte. Wer hörte ihn, im besten Fall einen Lächler, je so lachen? Er sprang auf und war mit einemmal vom grossen Glücksschluck betrunken, der niemals Betrunkene. Er taumelte ans Bett und küsste das steinerne Gesicht. Er küsste die Ärzte, die Hebamme und ein wimmerndes, blaurotes Stückchen Fleisch, das nach Rosenöl roch. Er taumelte ins Nebenzimmer und umarmte fünf blitzende Männer, Adjutanten, Kämmerer, was wusste er.

Es schoss. Der Kaiser fuhr zusammen und strich sich über die Stirn. Seine Stirn war schön, breit und klar, das einzig Klare in seinem Gesicht, und trieb seitlich eine tiefe Bucht in das schon schüttere Haar. »Ich kann euch nicht alle küssen«, sagte er beinahe grob. Die Herren zogen sich taktvoll zurück.

Er griff nach der Zigarettendose. Jemand, der hinter ihm stand, reichte ihm Feuer. Es war Doktor Conneau, der Leibarzt, der treuste Freund, der alte Vertraute, einst Arzt der Hortense, der freiwillig Mitgefangene von Ham, Gefährte des Unglücks und des Glücks, immer noch den Quäkerbart um das kluge, gute, flächige Gesicht, und seine Augen schauten aus halboffenen Lidern, wie der Kaiser schaute, seine Stimme war wie die des Kaisers geworden. Sie liebten sich.

Napoleon hob die Rechte auf den Rücken. »Habe ich dich auch geküsst, Conneau?«

»Ja, Sire«, antwortete der Arzt und lächelte ein wenig.

»Dann ist es gut«, sagte der Kaiser, sah den Freund an und atmete tief den Rauch ein. Conneau war in der Lombardei geboren, ein Freund Italiens, ein Helfer Cavours. »Ich werde etwas für Italien tun«, sagte Napoleon, und der Rauch ringelte sich um seine Worte. »Ich werde die italienische Frage auf dem Kongress anschneiden lassen. Ich werde Walewski Direktiven geben. Du kannst es dem Cavour sagen. Er soll zu mir kommen. Er hat Glück.«

Es schoss und schoss.


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