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Der Graf August de Morny, noch nicht Herzog, aber dennoch bekanntlich Vicekaiser benannt, bot stets einen angenehmen Anblick. Er war des Reiches elegantester Grande, elegantester Börsianer und elegantester Beamter. Nur er konnte drei so unterschiedliche Stände vertreten, ohne Missfallen zu erregen. Er konnte dazu noch einen kleinen, literarischen Ehrgeiz und eine grosse Sammelpassion besitzen, er konnte nebenbei dem verschmitzt genialen Jacques Offenbach zu einem Theater, dem journalistischen Genie Villemessant zu einer Zeitung und hübschen Schauspielerinnen zu Rollen verhelfen. Er vermochte zu bemerken, dass hinter einem anderen Journalisten namens Rochefort, Henri Rochefort, dessen bösen Glossen er schon früher begegnete und dessen scharfe und gute Kunstkritiken im »Nain Jaune« er jüngst entdeckte, ein Teufelskerl stecke. Er konnte als ausserordentlicher Botschafter nach St. Petersburg gehen, das neue europäische Gleichgewicht im Sinne des Pariser Friedenskongresses formen und ausser der russischen Freundschaft eine russische Prinzessin als Frau heimbringen. Er konnte den Skandal, den eine schöne Frau auf die Nachricht von seiner Verheiratung hin in Paris entfachte – weil sie nicht nur seine benachteiligte Geliebte, sondern auch seine benachteiligte Partnerin in unabgewickelten Börsengeschäften sei –, seelenruhig dem Bruder Cäsar zur moralischen und finanziellen Erledigung überlassen. Er konnte zu diesem verwirrend undeutlichen und schwer zu fassenden Bruder, dem er zur Macht verholfen hatte, deutlich werden wie kaum einer, den grobianischen Persigny, der zudem auf den englischen Botschafterposten abgeschoben war, ausgenommen. Er, Morny, ein bis zur Herzenskühle klarer Mann, hasste den Nebel, ausser der taktischen Verneblung, und die zunehmende Besorgnis, ob der Zeitführer noch ein Vernebler oder gemach schon ein Verirrter sei, macht ihm zu schaffen; denn er, Morny, kannte die Zeit wie sich selbst, und sich kannte er gut. Er konnte sich vieles, beinahe alles leisten.
Es war zumal eine Freude für Auge und Ohr, ihn in seiner amtlichen Eigenschaft als Kammerpräsident zu erleben – genau gesagt: als Präsident des Gesetzgebenden Körpers; denn es gab ja kein Abgeordnetenhaus, es gab ja zum neuen Glück kein Parlament. Was war es für ein sanftes und gleichzeitig doch herrisches Amt! Wie anmutig dirigierte er das vollkommen ergebene und artig eingespielte Orchester, dem die lauten Instrumente und sogar die lauten Töne fehlten! Das Volk der Rhetoren machte kleine Kammermusik und durfte sich nicht einmal Kammer nennen. Der Raum der Redestürme war zum Hort der Windstille geworden und hatte die neue Form der politischen Mitteilung gefunden: die Morny-Form des Plauderns. Der feierliche Saal war zum Salon geworden, auf dem feierlichen Präsidentenstuhl sass der erste Kavalier des Reiches, das natürlichste und selbstverständlichste der neuen Kaisergesichter, das überlegenste und höflichste Exemplar des neuen Glückes, der vollkommene Gentleman: es sah gut aus und hörte sich gut an. Die Rhetorik – es gäbe ja auch eine Rhetorik der Ergebenheit – war abgeschafft; denn der Präsident war kein Rhetoriker. Er sprach wenig, unförmlich und in amüsiertem, oft geistreichem Stakkato – gewiss mit gekreuzten Beinen und eine Hand in der Hosentasche, man sah es ja nicht hinter dem Repräsentationswall seiner hohen Tribüne –, in jener etwas wegwerfenden, pausenreichen, wie rundausgestochenen Kleinsatzprägung, die als Morny-Stil von den jungen Lebeleuten billig kopiert werden konnte. Er lenkte seine folgsame Truppe ganz gewiss nicht mit eiserner Faust – wozu auch? –, aber doch nicht unsichtbar. Oh, er war da und passte auf, dass es glatt ginge. Er hatte eine neue Kontrollmethode: die Zwischenbemerkung. Das war nicht der Zwischenruf des überwundenen Systems, der vorlaut und hinderlich aus den Bänken kam und von dem heute nur das artigste Rudiment übrig geblieben war, das »Bravo!« oder das »Sehr gut!« für die Fermaten einer präsidentiellen oder ministeriellen Rede: das war ganz im Gegenteil das wachsame, immer einsatzbereite und dabei doch fast lässig höfliche, geradezu charmante Korrektiv des Staates, eines scheinbar so starken Staates, dass schliesslich schon die gehobene Braue oder die leise auf das Tischholz trommelnden Finger des vorsitzenden Staatsmannes eine verweisende Bedeutung gewannen. Die Mornysche Zwischenbemerkung vollends, eine mit der Zeit meisterliche Legierung von Diplomatie, Ironie und Geistesgegenwart, konnte nicht nur bremsen, antreiben, ablenken oder abschneiden, also den Gang der Staatsunterhaltung regulieren, sondern andererseits auch den Anschein erwecken, als sei die Tätigkeit dieses Körpers, dessen Haupt er war, wahrhaftig die, Gesetz zu geben, nicht nur, es anzunehmen. So kam es, dass man ihn nicht allein fürchtete, sondern auch liebte, gleich als ob man gewusst hätte, wie eifrig er insgeheim, zumal dem Kaiser gegenüber, die Prärogative einer Institution verteidigte, deren staatswichtige Ohnmacht er doch selber überwachte.
Dieser grosse Herr, der das Zeitglück repräsentierte und als Staatsmann das Korrektiv der Staatsform war, konnte sich beinahe alles leisten: warum nicht auch, lächelten die Auguren, jene Brücke zwischen Glück und Politik, die dorthin führte, wo man selbst als Grandseigneur das Glück zu korrigieren vermochte? Morny zog an. Er legte es nicht darauf ab, es war sein Zauber. Morny zieht das Glück an. Wenn einer Zauberer ist und dazu noch Vicekaiser, ist er auch Korrektiv des Glücks, ob er es darauf ablegt oder nicht. Morny ist im Geschäft! Das war der Glücksschrei der zeitgenössischen Spekulation.
Es war eine Freude für Auge und Ohr, ihn im Geschäft zu sehen. Er blieb ganz der gleiche wie im Sitzungssaal, der ja im gleichen königlichen Bau der Bourbonen war. Er wurde kein anderer Mensch, wenn er spekulierte, er hatte kein anderes Gesicht, keine andere Sprache, keinen bürgerlichen Überwurf über dem Kleid des Granden. Er blieb der grosse Morny und machte die Börse hoffähig. Er machte das Börsenspiel vicekaiserlich. Der Gesetzgeber-Präsident sass in dem alten Prunk des Bourbonenpalastes, seines Amtssitzes, liess die Bankiers von Transaktionen sprechen und tauchte sie in den Glanz des Kaiserreichs. In dem mächtigen Arbeitskabinett hingen ein paar Italiener und Niederländer seiner berühmten Sammlung; wohin diese Geschäftsmänner blickten, sahen sie Werte; und hinter dem wundervollen Louis-XV-Schreibtisch, der zugleich wuchtig und zart war, sass der wertvollste Mann des Reiches und trat ins Geschäft, um es wertvoll zu machen. Er verstand viel vom Geschäft, man konnte ihm nichts vormachen, er verlangte viel vom Geschäft: und wenn die Dinge nicht ganz glatt gingen, wenn es an der Zeit war, daran zu erinnern, dass man hier beinahe auf dem Thron des Reiches sass, erschien ein kaiserlicher Kammerhusar und bat die Exzellenz dringend in die Tuilerien. Dann gingen die Dinge glatt. – Morny ist im Geschäft!
Liebte er denn das Geld, das er so kühl belustigt gewann wie verlor, so leicht vertat wie gewann? Liebte er denn die Politik, die noch viel folgsamer und biegsamer war als die Börse und schon ganz ohne den Reiz des Glücksspiels? Liebte er denn die Frauen, die seinem Glanz zutrieben wie Motten und vor denen er sich vielleicht durch seine überraschende Heirat schützen wollte? Liebte er nur sich allein? – Es mag die Selbstliebe sein, dass er so sehr seine Zeit liebte, mit allem, was zu ihr gehörte, mit ihrer Anmut, ihrer Frivolität, Skepsis und Ironie, sogar mit ihrer frühen Todesangst. Es mag die Zeit sein, dass er sich liebte und am Leben hing, welches vielleicht nicht lange währte, an seinem Leben und der Zeit. Es mag wegen dieser wechselseitigen Umarmung und Durchdringung sein, dass er dem Gestalter der Zeit angehörte wie keinem sonst. Er liebte seinen Bruder.
Es war doch nicht so, wie die Auguren flüsterten: dass nämlich der berühmte Kammerhusar zu Mornys Dienerschaft gehörte und auf ein besonderes Klingelzeichen hin seine Kabinettsrolle spielte. Der Kaiserbruder hatte es nicht nötig, einen Trick zu gebrauchen und ihn gar noch so zu strapazieren, dass man ihn kolportieren konnte. Die Ordonnanz war echt und kam oft von der anderen Seite des Stromes. Sie kam auch heute, als die Bankiers zur Hausse neigten, weil das Reichsglück immer noch stieg und die italienische Faselei umsoweniger den Schatten einer Realität werfen konnte, als die Tuilerien, so abgedichtet sie waren, doch die gute Verbindung mit Wien nicht leugnen wollten. Der grosse Herr warnte vor Hausse-Engagements. Er riet nicht gerade zur entgegengesetzten Haltung, er sagte auch nicht, welche Gründe er für sein Misstrauen habe, er warnte nur. Er war auch ernster als gewöhnlich. Als der Kammerhusar kam, brach er sofort die Unterhaltung ab. Er liess den Kaiserboten also garnicht zur geschäftlichen Auswirkung kommen. Die Bankiers sahen sich an und gaben schon im Vorzimmer die Baisse-Parole aus. Morny ist nicht im Geschäft!
Auch der Kaiser war in seinem Arbeitskabinett, einem grossen, schlichten Raum im Erdgeschoss mit der Sicht zum Garten, von einem grossen Teppich ganz bedeckt, mit wenigen Möbeln bestellt, mit gerahmten Stadtplänen und Landkarten an der Wand statt Bildern, den mächtigen, dunklen, gleichsam geduckten, bronzebeschlagenen Diplomatenschreibtisch frei im Raum, der Flügeltür zum Vorzimmer gegenüber. Es sah aus wie das Büro eines Generalstabschefs, es sah anders aus als Mornys bestechend königliches Spekulationskontor. Aber es gab ja auch in diesem Kaiserbau genug des alten und neuen Prunkes, es gab ja auch hier den Angriff des neuen Glücks auf die alte Architektur. Cäsars Zuflucht zur Einfachheit, zur soldatischen gar, war nicht überzeugend, fand der Bruder, oder die Rettung aus dem Meer der Nippes, die Eugenies Salons überfluteten. Morny liebte nicht die Schönste; aber er liebte vielleicht niemanden ausser dem Bruder, er sah möglicherweise zu viel der Gefahren für ihn und die Zeit.
Unter einer riesigen Karte von Paris – vom neuen und glücksdurchfurchten natürlich, und die Karte nahm einen guten Teil der Längswand ein – stand eine niedrige, langgestreckte Mahagoni-Kommode mit zahllosen Fächern, deren aufdringliche Bronzegriffe sich zu breitglitzernden Girlanden zusammentaten. Man wusste nicht, was sie enthielt; denn der Kaiser trug den Schlüssel für das geheime Zentralschloss des Geheimschrankes immer bei sich. Jeder vermutete, dass es die Dokumente seiner ministerlosen Privatpolitik verbarg. Morny fürchtete diese Politik und hasste diesen Schrank. Neben dem fragwürdigen Möbel, immer noch unter dem Stadtplan, drei Schritte vom Schreibtischstuhl entfernt, stand ein grosser, tiefer, üppig gepolsterter Lehnsessel mit Ohrenbacken, ein gänzlich unsoldatisches Gerät und dennoch das meistbenutzte des Raumes. Hier dachte er nach, der nachdenkliche Mann mit der hellen, stillen Stirn, und dahinter sass verkrochen die Unruhe, die Unruhe des immer tätigen Geistes, die Unruhe Europas, die Unruhe des wunderbaren Lebens – und dann gab es für ihn auch noch die Unruhe des Herzens. Hier sass er und sah, ob er nun die Augen ein wenig öffnete oder geschlossen hielt, die Marmorbüste der Mutter Hortense, die ihm gegenüber auf einer schwarzen Steinsäule an der Fensterwand stand, neben dem Ausschnitt des kinderlauten oder nachtleisen Gartens, und die ihn immer anschaute, ihn auf dem Sessel, ihn am Schreibtisch. Hier sass er ein kleines, halbes Vormittagsstündchen, den kleinen, stillen Sohn auf dem Schoss, und da war er heiter und durfte nicht gestört werden. Hier auch schlief er manchmal ein, tief erschöpft, ausgeschöpft. Jetzt geschah es noch nicht oft.
Hier sass er, als der Bruder kam. Morny hatte es erwartet; er nannte den Sessel: den Thron des inneren Reiches. Der Kaiser sah schläfrig aus wie immer; man konnte immer meinen, er sei eben aufgewacht oder er wolle eben einschlafen. Die Wahrheit war, dass er ein wenig geschlafen hatte; denn er war erst in der Frühe aus Passy gekommen. In Passy wohnte jetzt die Castiglione. Man sagte oder sie sagte, dass sie ihn monatlich fünfzigtausend Franken koste und er sie doch nur vier Mal monatlich besuche. Es blieb verborgen, ob der Unterschied zwischen der sehr grossen und der sehr kleinen Ziffer eine besondere Auszeichnung oder besondere Missachtung war. Man sprach noch sehr viel von ihr; denn sie war letzthin zu einem Kostümball in den Tuilerien – allerdings erst um drei Uhr morgens, als sich die Kaiserin schon zurückgezogen hatte – fast nackt erschienen, als »Römerin der Décadence«, Amethystringe sogar an den Zehen; und Walewski tanzte immerzu mit ihr; denn der Kaiser tanzte immerzu mit der Walewska.
Der Kaiser hob mit freundlichem Lächeln dem Bruder die Hand entgegen und wies auf den nahen Schreibtischstuhl, einen ziemlich hässlichen Polsterstuhl mit Armlehnen und dicken Rahmenfransen, die die Füsse verdeckten. Es machte ihm nichts aus, wenn der Vicekaiser den Arbeitssitz des Kaisers einnahm. Morny drehte den Stuhl um und setzte sich, den Schreibtisch im Rücken.
Es hatte eine Zeit gegeben, wo sich die beiden ähnlicher waren, damals, als sie sich fanden und zusammentaten, um das Jahr Achtundvierzig zu narkotisieren und die erste Säkularhälfte zu Tode zu operieren. Damals schien es, als suche auch Morny Deckung hinter dem eigenen Gesicht und als sähe er dem Bruder selbst den Nebelschutz des Blickes ab. Jetzt war sein Gesicht klar geworden, wach und überlegen wie sein Leben, so als könne es nicht mehr überrascht werden. Die Stirn mit dem nackten Schädel stand gegen jede Illusion. Die immer dünneren Haarbüschel über den Ohren setzten sich schüchtern, spärlich und nackentief um den Hinterkopf fort, so als hätten sie vor ihm Angst. Die Augen schauten nicht gross, aber genau; die lange, gerade Hortense-Nase war sehr verschieden von der grossen, gebogenen und etwas schiefen Nase der Kaisers, von der Rätselnase, die bekanntlich keinen Vater und keine Mutter hatte; und selbst der Imperialbart war anders als der Imperatorbart, dichter, fester und kürzer. Die Brüder waren einander ähnlicher, wenn sie sich nicht gegenüber sassen. Sah man sie gleichzeitig, so sah man, dass die gleiche Zeit verschieden mit ihnen verfuhr. Sie wussten es übrigens selber; es war indessen seltsam, dass dieses Wissen das klare Gesicht leicht bekümmerte, das unklare aber leise verbitterte. Wäre die Zeit so etwas wie eine Geliebte zwischen ihnen, so würde es verständlicher sein. Aber liebte denn der Kaiser die Zeit, die er geschaffen hatte, wenn nicht einmal sein Gesicht sich erhellen konnte und sein trüber Eifer nicht aufhörte, sich gegen sie, gegen das eigene Glück, gegen die eigene Person zu verschwören? War es der Fluch des ewigen Verschwörers oder die Verfluchung eines gewaltigen Betruges? Oder war es die bessere, die weitere, die strengere Zeiterkenntnis? Morny fragte es sich oft.
Und warum, fragte er sich immer wieder, liebe ich ihn immer mehr und er mich immer weniger?
Beide rauchten und beide schwiegen eine Zeitlang. An den Gartenbäumen hielten sich allerletzte Blätter vergilbt und abgestorben und töricht widerspenstig fest, für die Kinder war es schon lange zu kalt, das Rauschen der Stadt nur drang leise durch die geschlossenen Fenster. Der Kaiser im Ruhesessel sass niedriger und zusammengekauerter als der Vicekaiser auf dem Arbeitsstuhl. Es gehörte sich, dass der Souverän die Unterhaltung eröffnete, auch wenn sie ihm nicht gefallen mochte. Morny war nicht ungeduldig.
Der Kaiser hob die Zigarette vom Mund ab und fragte endlich: »Also, Monsieur?«
Schon die Anrede war boshaft; denn sie gebrauchte jene bourbonische Rangbezeichnung für den Königsbruder, die man in der Gesellschaft ein wenig byzantinisch und ein wenig spöttisch auf Morny anwendete. Monsieur schien nicht getroffen und antwortete gelassen: »Es hat sich allerlei angesammelt, Sire. Sie beliebten in der letzten Zeit, mich niemals allein zu sprechen.«
»Ach«, staunte der Kaiser wie ein Pharisäer, »das habe ich garnicht bemerkt – also beliebte ich es nicht …«, und er lachte ein wenig hinterher, ohne den Mund zu öffnen, durch die rauchende Nase glucksend, wie es seine Art war. Es schien ihm heute zu belieben, mit Genuss zu lügen.
»Louis«, sagte der Bruder mit einer so unerwarteten Vertraulichkeit, dass sich der andere in dem alten Namen verfing und nicht mehr rührte, »es wäre schon ein Unglück, zu glauben, dass alles so bleiben würde, wie es ist, oder dass sich alles so drehen liesse, wie man wolle.«
»Wer glaubt das?«, fragte Napoleon hastig zurück; »ich doch nicht, ich doch gerade nicht!«, und als Morny darauf nichts erwiderte, befahl er kurz: »Fangen Sie schon an!«
»Ich will der Reihe nach gehn«, sagte Morny und spielte mit dem schwarzen Kneiferband auf der schwarzen Weste, der goldene Kneifer kam ins Tanzen, »ich will Ihnen zuerst eine grundsätzliche Frage vorlegen, Sire, die Sie schon kennen und auch schon beantwortet haben, die ich aber wiederhole, weil sie mir aufs neue der Debatte wert erscheint. Werden Sie in absehbarer Zeit die Legislative als Parlament arbeiten lassen, als echtes Parlament, meine ich, mit Redefreiheit?«
Napoleon bewegte langsam den Kopf hin und her, ohne ihn von der weichen Wand des Sessels zu lösen. »Ich sehe noch keine Zeit ab«, antwortete er; »warum sollte ich heute eine andere Antwort geben können als nach den Juni-Neuwahlen?«
»Erstens, weil man über das Resultat nicht genug nachdenken kann, Louis …«
»Weil wir ganze sechs Republikaner im Haus haben?«
»Weil von den zehn Seine-Wahlkreisen fünf gegen das Kaiserreich stimmten. Das ist die Hälfte.«
»Und das ganze übrige Land, das dem Regime treu blieb wie ein Mann und den fünfundsiebzigprozentigen Erfolg brachte?«
»Paris ist sehr wichtig, Sire, und die hochprozentigen Wahlresultate wollen wir beide nicht bewundern, Louis.«
Der Kaiser warf die Zigarette fort. »Lieber Freund, Sie sind ja daran schuld, dass wir überhaupt die Sechs haben oder die Fünf; denn der arme Cavaignac ist ja inzwischen eiligst gestorben. Mein barbarischer Innenminister und mein Präfektgenie Haussmann hätten ohne Ihren Einspruch dafür gesorgt, dass keiner von den sogenannten Unabhängigen zur Wahl auch nur aufgestellt würde. Wir wollen also auch nicht unsere Objektivität bewundern, Morny.«
»Wir wollen nichts bewundern und nichts missachten, Majestät. Gewiss, ich habe jene Manipulation verhindert, nicht weil sie unrecht, sondern weil sie unnötig war. Ich bin der Meinung, dass eine kontrollierbare Opposition leichter zu bekämpfen ist als eine unsichtbare. Ich bin ferner der Meinung, dass eine ventilierte Opposition ungefährlicher ist als eine äusserlich verstopfte. Es gibt auf die Dauer keinen stummen Staat. Ich brauche es Ihnen nicht zu sagen, Louis.«
»Nein, Sie brauchen es mir nicht zu sagen«, sprach der Kaiser leise und strich sich über die Stirn; »wenn es gut geht, lasse ich sie wieder reden – vielleicht schon in drei Jahren …« Er strich sich immerzu über die Stirn, als wollte er sich wachhalten.
Morny sah auf die unruhige Hand, sein Kneifer kam ins Kreisen. »Was für eine herausfordernde Kausalität steckt in Ihrem Bedingungssatz, Louis! Die Diktatur lebt von Erfolgen. Garantiert Ihnen der liebe Gott noch drei oder dreissig Jahre lang nichts als Glück, Glück, Glück, eine Perlenkette, die nicht kleiner werden und nicht enden darf? Was für ein Staatsleben, Louis, das vor jedem Misserfolg zu zittern hat!«
Der Kaiser hob langsam die Hand von der Stirn, tastete zur Silberschale auf dem Rauchtischchen neben dem Sessel und nahm eine Zigarette. Er hielt sie zwischen den Lippen. Er war nicht gewohnt, sie sich selber anzuzünden, und hob wie verwundert den Zeigefinger. Doch der Bruder war zu erregt, um aufmerksam zu sein. »Oder«, sagte Napoleon, die kalte Zigarette zwischen den Lippen, »oder wenn es schlecht geht, lasse ich sie wieder reden. Jetzt geht es noch nicht schlecht. Jetzt geht es noch nicht lange genug gut. Vielleicht fordert man immer den lieben Gott heraus, so oder so. – Feuer bitte.« Der Bruder stand auf, nicht einmal hastig, und bediente ihn. Der Kaiser blinzelte in das Zündholzflämmchen. »Wie geht es Ihrer reizenden Frau?«, fragte er und zog den Rauch ein. Morny, noch über ihn geneigt, blieb einen Augenblick unbeweglich, wie verklammert von dieser kleinen, freundlichen Zwischenfrage. Dann antwortete er kurz: »Danke, gut«, und kehrte auf seinen Platz zurück.
Der Kaiser lächelte vor sich hin. »Fordere ich so viel heraus?«, fragte er sonderbar. Morny antwortete nicht und sah zum Fenster hin oder zum Steinhaupt der Hortense. Napoleon machte die Augen auf, und mit einemmal waren die Augen flink, sie liefen zwischen der Mutter und dem Bruder hin und her, einmal, zweimal – dann deckten sie sich wieder zu. Dieser Bruder, dem Gesicht Hortenses ähnlicher als er, hatte die Hortensia im Garten und überall im Haus und er hatte sich ein Wappen geschaffen mit der Hortensia und diesen kühnen Worten darüber: »tace, sed memento«, er eignete sich die Mutter an, er nahm sich, was sie ihm nicht gegeben hatte, er nahm sich, was sein Recht war und was er dennoch nicht verdiente. Denn es war ja nicht Liebe, die späte Liebe für die Mutter, die er nicht kannte, sondern eben nur ein Wappen für seine Equipage und sein Tafelsilber, das beste Aushängeschild für die Zeit. Der Kaiser dachte: er ist die Kugel an meinem rechten Bein, und das Genie Persigny ist die Kugel an meinem linken Bein, und dies verdienen doch beide: dass ich sie weiter schleppe. Er zog die Uhr. »Weiter, weiter, Monsieur, in zwanzig Minuten bringt man mir meinen Loulou, der so Gott will einmal so parlamentarisch regieren kann, dass ein Kammerpräsident wie Sie als Diktaturventil vor den Staatsgerichtshof käme. Zunächst aber müssen wir auf dem anderen Weg bleiben. Zunächst kann das System nicht geändert und der Zwang nicht gelockert werden. Das darf ich Ihnen auch schon auf Ihr zweites Argument sagen, das Sie mir noch vorenthalten.«
»Dies wäre der zweite Punkt«, sagte Morny; »ich habe heute von zwei Abgeordneten der neugewählten Opposition die Mitteilung erhalten, dass sie die Eidesleistung verweigern und das Mandat niederlegen.«
»Grossartig!«, rief Napoleon, »dann bleiben von den Fünf noch Drei.«
»Das nicht, Sire; denn die Nachwahlen werden sie mit vollkommener Sicherheit wieder zu Fünf machen. Und auf der Ersatzliste steht Jules Favre, der alte Wort-Donnerer mit dem Seebärenbart, der in die Politik zurückkehren will, weil ihm politische Prozesse und ihre Verteidigung zu leise geworden sind. Und dann erscheint da noch ein ganz Neuer und Junger, ein Proskribiertensohn und politisches Mündel des seligen Cavaignac, natürlich auch ein Advokat, aber mit einem Gesicht wie ein gutmütiger Schullehrer, ein ideologisches Gesicht also, das sich beliebt machen wird. Er heisst Ollivier, ich glaube Emile mit Vornamen. Der Schlange wachsen die abgehauenen Köpfe nach, und was für welche!«
»Sehr gut, mein Freund; dann wird sofort der Senatskonsult herausgebracht, den ich schon nach den Wahlen haben wollte, um solche Theatereffekte zu vermeiden: dass nämlich die Eidesleistung jeder Kandidaturerklärung vorauszugehen habe. Damals rieten Sie davon ab. Heute bitte ich Sie, es garnicht erst zu versuchen.«
»Ich versuche es garnicht«, meinte Morny und sah zuerst in die Luft, dann aber auf den Bruder, »man kann heute die Konsequenz anerkennen, die Konsequenz der Herausforderung, und was mich betrifft, Louis: ich sehe Sie lieber eindeutig als undeutlich, wie Sie wissen. Aber ich habe das Eine zu bemerken: es findet sich immer der Mann, der schwört und der zugleich imstande ist, den Eid zu brechen. Der Zwang zum Schwur ist noch niemals ein politischer Schutz gewesen, aber schon manchmal zur Absolution für den Meineidigen geworden.«
Wird jetzt der Zusammengesunkene im Sessel auffahren oder doch wenigstens zusammenfahren? Morny sah genau hin. Der Kaiser rauchte schläfrig und nicht einmal seine unruhigen Hände schienen angerührt. Er sagte zwischen die Tabakswolken hinein: »Fünf falsche Schwörer sind mir lieber als ein echter Verschwörer. Ich absolviere sie selber, wenn es so weit ist. Ich habe gelernt, wie man das macht. Man macht sie zu Baronen, Grosskreuzen, Senatoren oder zu Mitgliedern der Akademie, je nach ihrem Bedürfnis. Und wenn die Fünf, was Gott vielleicht nicht verhütet, die Stammväter einer Majorität werden und wenn ich und Sie es erleben, dann mache ich sie zu Ministern und einen von ihnen zum Ministerpräsidenten. Ich habe nämlich vor den Menschen, ob sie schwören oder nicht, keine übermässige Achtung, lieber Morny, und schliesse mich dabei nicht einmal aus.«
Ich glaube, dachte Morny, dass er sich nicht ausschliesst. Daher rührt wohl seine absonderliche Fähigkeit, sich vom eigenen Anstand abzuhängen, wenn er Lust hat. Das macht ihn wohl so unabhängig und so unverwundbar – ein eigentümlich begabter Cäsar.
Ich glaube, dachte Napoleon, dass er sich ausschliesst, dieser lieblose Zeitkenner, sowohl von meiner Missachtung als auch von der eigenen. Was für ein einsamer Arrivierter …
Da war ein Kaiserwort gewesen, fast so alt wie der Kaisersohn, vielleicht eine der seltenen Prophetien des wortkargen Mannes, der für sich zu behalten pflegte, was er in den Wolken sah; vielleicht aber nur ein politisches Wort, nur nütze, wenn es weiterrollte und ausgegeben wurde wie ein fragwürdiges Goldstück; vielleicht nur das Abschiedsgeschenk für den Mann, zu dem es gesprochen wurde, für jenen Cavour, der ein zukunftsträchtiger und taschenspielerhafter Mann war, fähig, aus einem suspekten Goldstück einen Staatsschatz zu zaubern oder aus einer Prophetie den Wind für das Segel. Er nahm das Wort nicht nur mit, er liess es zugleich auch zurück. Der dunkle Spruch schwamm über dem Himmel der Eingeweihten wie eine Wolke. Man kannte cäsarische Dauerwolken, der Bruder zumal, Bruder des Staatsstreiches, kannte sie. Er ging noch nicht fort und zeigte auf sie heute, gerade heute, als sei es ein Tag der bösen Hinweise. Aber man zeigte auf sie schon lange auch in Wien und in Rom.
Dies war der dunkle und formbescheidene Spruch: »Ich habe das Gefühl, dass der gegenwärtige Friede nicht lange dauern wird.«
Aber der Friede war doch eben erst geschlossen, der Kaiser von Europa stand im Märchenregen des neuen Glückes, umkränzt von Bündnissen und Freundschaften, und er hatte, betäubend sinnfällig, gerade jetzt den Erben! Was für ein Geburtsgeschenk des Vaters an den Sohn war dieser Spruch! Oder war es nur ein Trinkgeld für den durstigen Cavour, eine unverbindliche Abfindung für das Gelübde, für das vielleicht unüberlegte Gelübde?
Doch dieser Mann war nicht unüberlegt, auch nicht, wenn es ihm schlecht ging oder er Angst hatte. Und das Gelübde während der Geburt des Sohnes war wohl auch nicht das erste dieser Art, nicht das erste für die Befreiung Italiens: es war vielleicht nur eine halb freiwillige und halb erzwungene Erneuerung jenes Bundschwures, den der Vierundzwanzigjährige, ob Komödiant oder nicht, als Carbonaro geleistet hatte und dessen sich zu entledigen nicht einmal ratsam sein mag, selbst nicht für den Kaiser von Europa. Wer weiss es genau, wo bei diesem alten Verschwörer der Zwang beginnt und das politische Spiel aufhört? Wer weiss, ob nicht der Spruch die grosse, politische Wendung darstellt, die Abwendung von der praktischen Dankbarkeit, jahrelang geübt und genossen, und die Hinwendung zur praktisch werdenden Bundestreue, der jahrzehntelang versteckten, die Abwendung vom grossen Pio Nono und die Hinwendung zum grösseren Italien? Aber er ist doch Kaiser der Franzosen! Was lässt er Europa, das eben von ihm weise und gütig befriedete, nicht in Ruhe! Was wühlt er mit seinen unruhigen Fingern in allen ausländischen Wunden, eben in der Türkei und jetzt in Piemont und morgen am Rhein? Ist sein eigenes Land nicht noch wund, sei es auch nur vom Streckbett des neuen Glücks? Ist es Kraft oder Schwäche, Sicherheit oder Unsicherheit, Führung oder Ablenkung, gutes oder schlechtes Gewissen?
Er jagt nach Glück, der unselige Beglücker, dachte Morny, und dann, mit kalten Augen und der kühlen, präzisen, bekanntlich etwas stilisierten Stimme, zitierte er den Wendespruch, mit dem angriffslustigen Zusatz: »Man müsste allmählich wissen, warum Sie das Gefühl haben, Louis.«
»Wer möchte es wissen? Die Börse?«, fragte der im Sessel gelassen zurück; »für wen sprechen Sie, Morny, für die Börse?«
»Für die Freunde«, antwortete der Bruder.
»Ach, die Freunde …«, meinte der Kaiser, ein wenig lächelnd, und stand auf. Er erhob sich viel schneller und straffer, als es sein versunkenes Sitzen erwarten liess, trat zum Geheimschrank, öffnete mit der Sicherheit eines Archivars, der in seinen Akten Bescheid weiss, eines der vielen Fächer und entnahm ihm Papiere. »Da schrieb mir der Freund Persigny aus London in seinem bekannten Tenor: ›Ein herrischer oder ungeduldiger Geist, der seine Blicke auf die Rheinprovinzen, auf Italien, auf Polen, auf Ungarn richtet, könnte den Gedanken fassen, das Antlitz Europas zu verändern. Ich würde es im Interesse der kaiserlichen Dynastie beklagen, wenn ein derartiger Gedanke im Kopf des Kaisers entstünde; denn unsere Dynastie braucht nicht Ruhm, sondern Zeit, und die Zeit lässt sich durch nichts ersetzen. Wenn ich folglich annehmen müsste, man wolle Frankreich in ein System grosser Aktionen hetzen, würde ich es tief bedauern, da die schönste Aktion der Welt dem napoleonischen Ruhm nichts hinzufügen und noch weniger dem Erben des Kaiserreichs zwanzig Jahre schenken kann‹.« Der Kaiser las sehr schnell und flüchtig, er rasselte es herunter, er stand mit dem Rücken zum Schreibtisch, man konnte sein Gesicht nicht sehen. Machte er sich über den guten und ernsten Brief lustig? Er tat ihn ins Fach zurück, schob die Lade knallend zu und sagte fast heftig: »Mir aus der Seele gesprochen.« Dann setzte er sich wieder, und sein trübes Gesicht sah wahrlich weder herrisch noch ungeduldig aus.
»Ein ausgezeichneter Brief«, meinte Morny und liess den Kneifer an der Schnur tanzen, »unser Persigny ist ein mittelmässiger Botschafter, aber ein grosser Prophet und ein noch grösserer Freund. Ich darf ihn loben, weil ich ihn schon oft getadelt habe.«
»Lobt euch nur«, sagte der Kaiser schläfrig, »und freut euch an der Zeit, die ihr habt. Ich bin nicht vermessen genug – oder nicht langatmig genug – oder nicht dickfellig genug …« Er sprach nicht weiter.
»Nur wer die Wahrheit verträgt, Louis, verträgt die Zeit …«
»Ach«, warf der Kaiser dazwischen und es gluckste ihm das Lachen durch die Nase, »ist denn etwa Zeit gleich Wahrheit, mein Zeitgenosse?«
Wenn diese Zeit eine grosse Lüge ist, dachte Morny, durch wen ist sie es denn geworden? Man lässt besser die Maximen. – Er machte eine verlegene Handbewegung. »Sie haben, Sire, eine Persignysche Wahrheit verlesen und gebilligt, so weit ich es verstanden habe. Sie haben sie auf jeden Fall ertragen. Auch mir hat er kürzlich eine Epistel über die Wahrheit geschrieben; ich vermag die wichtigste Stelle beinahe wörtlich zu wiederholen. Es ist weder Indiskretion noch Intrige …«
»Es ist Liebe, Morny, Zeitliebe, ich weiss es ja.«
Der Bruder schluckte; dann sprach er: »Es hiess etwa: der Kaiser möge sich hüten, den Degen anzurühren; denn er versteht nicht, mit ihm umzugehen, und er wird sich in die Finger schneiden. Die kaiserliche Dynastie hat nur eine einzige Möglichkeit, zu Grunde zu gehen: den Krieg.«
Er sprach langsam, fast überdeutlich, er zitierte eigentlich nicht, sondern redete so besinnlich und gleichsam verantwortlich, als stamme die Wahrheit vom ungemässen Degen von ihm, und das letzte Wort betonte er stark. Er war ein mutiger Mann, es klang ziemlich feierlich.
Napoleon liess plötzlich die Hände auf die weichen Armpolster fallen, streckte die Beine aus, legte den Kopf zurück, den Blick nach oben, auch den fasrigen Kinnbart, und rief: »Du grosser Gott, was für ein Aufwand, was für eine Enzyklopädie meiner Unzulänglichkeit, um auf die Castiglione zu kommen! Das könnt ihr doch einfacher haben!«
Morny schien nicht überrascht; es mochte wohl seine Richtigkeit haben, dass er auch diese Piquedame noch in seinen Karten hatte und sie auszuspielen willens war; aber er sah nicht erkannt und ertappt aus. Er lächelte sogar und schüttelte leicht den Kopf. »Die hübsche und auffällige Frau«, meinte er, »verdient meine Mühe und meine Sorge ganz und gar nicht; denn Ihre Meinung über politisierende Kourtisanen ist bekannt und erwiesen, Louis, und die der Zeit nicht weniger. Die Dame ist höchstens symptomatisch – sozusagen als Wegelagerer. Uns geht nicht die Dame an, sondern nur der Weg, auf dem sie sich präsentiert. Denn dieser Weg ist offenbar von der berühmten Dankbarkeit abgewichen und führt nicht mehr nach Rom.«
»Es führen nun einmal nicht mehr alle Wege nach Rom«, sagte der Kaiser widerspenstig; »das sieht Pio Nono schon lange und das ist nur für ihn ein Unglück.« Er strich mit dem Finger den Mandarinbart entlang und sah nicht mehr aus den Augen. Aber es war doch eine halbe Antwort gewesen, vielleicht noch nicht die ganze. Der Bruder hielt sich still. –
Was war es denn mit dieser Dankbarkeit, die sowohl praktisch als auch berühmt genannt wurde? Die Dankbarkeit pflegt nicht zu den cäsarischen Tugenden zu gehören; man kann sogar sagen, dass die Undankbarkeit ein nicht unwichtiger Bestandteil der cäsarischen Notwendigkeiten ist und dass andererseits Gefühlsbindungen erfahrungsgemäss zu Hemmungen der Bewegungsfreiheit, zum Prätorianertum, zum Diadochentum, zu politischen und persönlichen Gefahren aller Art führen. Ob der Kaiser ein dankbarer Mensch sei, war eine alte Frage, viel älter als sein cäsarischer Titel und so schwierig zu beantworten wie jene andere Frage, die aus allerlei Gründen weniger oft gestellt wurde als diese und doch mit ihr in fatalem Zusammenhang stand: ob nämlich der neue Cäsar auch ein wirklicher sei. Wenn er sich einen Vicekaiser und einen Propheten hält, sie nur für sich als Kugeln an seinen Beinen bezeichnet und sie dennoch weiterschleppt mit ihren wuchtigen Ansprüchen als Räte, Kritiker und wahrhaftige Zeitgenossen, wenn er um sich herum alte und neue Kaisergesichter belässt, deshalb doch, weil er ihnen zu Dank verpflichtet ist, so spricht es für sein Gefühl und gegen die diktatorische Praktik, sogar gegen die cäsarische Eignung. Doch wenn man wiederum bedenkt, wie fern er auch diesen Nächsten bleibt, wie undeutlich selbst den bestellten Auguren, auf seine sanfte Art eigensinnig und unbeeinflussbar mitten im Haufen der berufenen Betreuer – ja, wie er, dankumstellt, seine eigenen Wege geht und plötzlich nicht mehr zu sehen ist, so eng um ihn herum die scharfäugige Schar der Staatsbeschauer bleibt: dann möchte man an eine neue und geradezu unheimliche Technik der Autokratie denken, die die selbstherrliche Unbefangenheit gerade hinter den Kulissen des Gefühls und der aufgespannten Pracht des Herzens wie hinter einem Windschutz kultiviert.
Er hat doch ein gutes Herz, sagte sich immer schon und auch heute noch der Lehrer Le Bas, der ihn liebt. – Er macht selbst aus seinem guten Herzen eine Mördergrube, und einmal werde ich sie aufdecken und zuschütten, sagte sich Henri Rochefort, der ihn hasst – jener kleine Journalist, für den sich der grosse Morny interessierte: er wusste noch nicht recht, warum. (Er interessierte sich doch für Viele, auch für den Cellisten, Komponisten und Theaterdirektor Jacques Offenbach, der ein ganz gefährlicher Zauberkünstler war, ob der Protektor es ahnte oder nicht: er konnte Spott aus Musik und Musik aus Spott machen. – Ach, sonderbar, verschiedene Leute sahen hinter die Kulissen!)
Einmal aber hiess der kaiserliche Techniker der Dankbarkeit – der Beruf sei ihm unterstellt – noch Louis, der grosse Name hing noch im Schlepptau des kleinen, von den Wellen des unruhig fragwürdigen Lebens überspült. Es geschah auch, dass Sturmwellen selbst über den kleinen Namen schlugen, über die ganze kleine Person, die italienische Revolution, in die der Prinz-Carbonaro trotz aller Berechnung ziemlich leichtsinnig hineinsprang, ertrank in der österreichischen Springflut, der Bruder war schon untergegangen, unheldisch tragisch, nicht in der Flut, sondern gleichsam in einem Tümpel, die Heldenmutter hatte den halbertrunkenen Kleinen herausgezogen, beide flohen vor der Springflut dem Süden zu, den der Kleine erobern wollte, in Spoleto gingen ihm die Kräfte aus. Dort war der Gottesmann mit der grossen Güte und der grossen Zukunft in den Augen. Er rettete den Kleinen, der Rom erobern und den Papst entmachten wollte. Er tat es in dem dunklen Gefühl, bei diesem sanften Lächler mit dem Kriegsgottnamen im Schlepptau auf Dank nicht rechnen zu können; denn er war ein Menschenkenner, trotz seiner Güte. Und dennoch begründete sich dort und damals der Dank, der berühmte Dank, der praktische Dank. Damals hiess der Gottesmann Mastai und war Erzbischof von Spoleto, fünfzehn Jahre später wurde er der Pio Nono. Siebzehn Jahre nach der guten Tat von Spoleto wurde der abenteuerliche Prinz-Carbonaro, inzwischen der meistberedete Mann Europas, Prinz-Präsident der kirchenfeindlichen Grossmacht, der Mutter der europäischen Revolution – der Heilige Vater dachte oft an die gute Tat von Spoleto. Aber er war ein evangelischer Geist und haderte nicht mit der eingeborenen Güte; er hatte genug zu tragen, weil er, der Gütige und Reformfreudige, berufen war, als harter Wahrer des Bestehenden die angegriffene Kirche zu verteidigen. Er hatte wahrlich genug für eine gute Tat zu tragen, er musste aus dem roten Rom fliehen, erschütternd unwürdig, – was konnte Schlimmeres noch kommen? Jetzt aber, als das Schlimmste zu kommen schien und die französische Mutter-Republik der wilden, römischen Jakobiner-Tochter ein Hilfskorps schickte, geschah das Wunder der Dankbarkeit. Der sanfte Lächler, der jetzt den Kriegsgottnamen mit dem eigenen kleinen verkoppelt hatte, ein unvergessenes Gesicht, nahm die Waffe in die Hand, nicht etwa mit usurpatorischer, sondern mit amtlicher Gewalt, und führte sie nicht der römischen Tochter zu, sondern führte sie gegen sie, ehe es sich die Mutter recht versah: das französische Hilfskorps des Louis-Napoleon half dem Heiligen Vater und führte ihn in das entfärbte Rom zurück und blieb dort, ihn zu behüten, ihn und die weltliche Macht der Kirche. Pius wurde das dunkle Gefühl von Spoleto dennoch nicht los: denn was für ein ergiebiges Wunder wurde es für den Wundertäter! Die Diktatur stand plötzlich auf beiden Füssen, auf Armee und Klerus, und so marschierte sie in den Staatsstreich, den das Volk wollte, und so, mit Volk, Kirche und Heer, marschierte sie ins Kaiserreich. War die berühmte Dankbarkeit, die wunderbar praktische, jetzt zu Ende? O nein, immer noch ging der Gabenregen auf die Kirche nieder, immer neue Freude wurde ihr bereitet, von der Rückgabe des Pantheon bis zur Teilnahme der Armee an den Prozessionen, und der französische Klerus gab dem Kaiser zu den vielen neuen Namen noch den des neuen Konstantin. – Was will der undeutliche Mann noch von mir?, fragte sich Pius, dem es nicht wohl wurde bei den Wohltaten. Und es kam ein junger, kluger, diskreter Priester zu ihm, in des Kaisers Namen, und nannte ihm den Sonderpreis für die Dankbarkeit: Salbung des Kaisers durch den Papst zu Notre-Dame. Was sollte diese Imitatio des Kriegsgottes? Wollte sie, mit dem tückisch vorbildlichen Hinweis auf die tiefe Demütigung eines Statthalters Christi, die Dankbarkeit an die Stelle des Zwanges setzen, um zum Ziel zu kommen? Würde sie so weit gehen, dass das Hilfskorps, welches noch immer in Rom stand, den Heiligen Vater mit ehrerbietiger Gewalt nach Paris schleppte? – War der Nachfolger des Bösen böser noch, weil er aus dem schönsten menschlichen Gefühl einen politischen Strick drehen konnte? Aber der Gottesmann hielt ihn nicht für schlecht, sondern nur für abgetrieben von Gott, also für arm. – Er soll nach Rom kommen, sagte Pius. – Er komme nicht nach Rom, sagte der Priester, er scheue gewisse unangenehme Vergleiche mit seinem Jugendaufenthalt zu Rom, er fürchte, dass die »Majestät der Zeremonie« verletzt werden könnte. – Die Carbonari schwuren nicht nur auf den Dolch, sie handhabten ihn auch: das fürchtete er. In der Mailänder Staatsanwaltschaft existierte noch die Anklageschrift gegen den Carbonaro-Prinzen, Wien hatte ein unüberwindliches Misstrauen gegen den Usurpator, ob er Minister zu Allianzverhandlungen in die Hofburg schickte oder sie plötzlich abberief, und eine nachgerade unkluge Geringschätzung für des Neukaisers unsolide Provenienz. Wie sollte Pio Nono hingehen zu ihm und ihn salben? Und wenn er Nein sagte: war dann die Dankbarkeit zu Ende? Der Krimkrieg begann, ein veritabler Kreuzzug doch, ein Kampf um das Heilige Grab gegen die Schismatiker, und die Flotte wurde dem Schutz Unserer Lieben Frau anvertraut, das Feldkaplanat den Patres der Gesellschaft Jesu: einen Augenblick dachte Pius daran, hinzugehen und ihn zu salben. Doch was wollten Dankbarkeit, Krieg und Salbung anders als eine Herrschaft stabilisieren, die von heillos dunklem Gefüge war und unheiligen Sinnes – was anders als Gottesfeindschaft kommt aus dieser Zeit der materialistischen Ironie, wenn sie stabilisiert war? Der Krieg war lang und zäh wie Höllenpech, und man vergass seine frommen Gründe, man fragte sich oft nach seinem Grund, und als sein Ende doch dem Cäsar recht gab und dem Ungesalbten das heidnische Glück bestätigte, beschloss sich der Friede mit dem offenen Patronat des Kreuzzugs-Kaisers über den Antichristen Cavour. War jetzt der praktische Dank abgedankt, verlässt jetzt der unlautere Fürsprech die Sache Gottes, weil er sie nicht mehr zu brauchen wähnt? Der Gottesmann aber hatte doch schon die Gottverlassenheit in den Augen des kleinen Flüchtlings von Spoleto gesehen und ihn dennoch gerettet aus Mitleid mit dem Unseligen, aus apostolischer Vollmacht und schliesslich aus Gottes nur zu ahnender Allklugheit. Denn wenn dieser Mann nach der langen Szene der Dankbarkeit, die ihm selbst noch als Travestie das Gute eingebracht hat, jetzt wieder der Feind wird, der er war: wie schwer wird er es haben müssen, von der alten Rolle angekränkelt und von der neuen sehr bald krank! Es scheint, Gott will die schwere Bürde dieser Zeit teilen, zu gleichen Teilen für den Retter und den Erretteten. So geht es wohl nicht um Dank und Undank, sondern nur um die Beschaffenheit der Lastträger-Schultern und gewiss auch der Herzen.
Der Bruder hatte nicht lange zu warten, der Kaiser gab noch eine halbe Antwort, er sagte: »Sie wissen, Morny, mein Monsignore bei Pio Nono, mein Mittelsmann der Dankbarkeit ist blind geworden. Gottes Fingerzeig ist oft zum Entsetzen.«
Morny schüttelte ärgerlich den Kopf. – Es ist unglaubhaft, dachte er, dass ihn gerade der Finger Gottes auf den anderen Weg weist, die beiden halben Antworten sind ihm schon zu viel, er vernebelt sie, er mystifiziert das Entsetzen, das wohl in ihm aufsteigen mag. »Louis, wir haben Angst«, sagte er kurz und wie entschlossen.
»Sie auch?«, fragte der andere, »Sie kennen auch die Gottesangst, mein Lieber? Man pflegt Sie im allgemeinen eher für einen Atheisten zu halten.«
»Sire«, entgegnete Morny sehr ernst, »so geht es nicht mit mir, das verfängt bei mir nicht, ich lasse doch nicht locker – nicht weil ich Sie quälen will, Louis. Aber wir brauchen Klarheit über den Weg, wir alle, auch die Kaiserin. Und haben wir jetzt Klarheit oder Andeutung, so haben wir Angst wegen des eingeschlagenen Weges, wir alle, die Freunde um des Reiches willen, die Kaiserin wohl zumeist aus religiösen Gründen. Das Gerücht spricht von Krieg – er mag noch nicht so nahe sein. Aber mein Gefühl spricht von einem Verhängnis, das vielleicht ganz nahe ist.«
»In Passy, nicht wahr?«, fragte Napoleon und verzog das Gesicht.
»Vielleicht in Passy!«, rief Morny. »Sie selber haben ja Angst, Louis, und ironisieren nur in der Öffentlichkeit die drei bisherigen Attentate, käsigen Gesichts, dass es noch lange nicht sieben seien wie gegen den dicken Louis-Philipp. Sie selber haben ja gesagt, dass die italienischen Revolutionäre nur eine Politik haben, die Sie beunruhigt, weil sie Erfolg haben kann: den politischen Mord.«
Der Kaiser richtete sich auf. »Also das ist es? Die Castiglione als Judith – auch das noch? Nun, die Dame mag mörderisch sein, aber auf höchst angenehme und naturgegebene Art, und ihre Waffe ist keineswegs aus Stahl …«
»Louis«, unterbrach der Bruder, »ich wage die Frage und hoffe nicht einmal auf die Antwort: könnte Sie die Angst vor dem Carbonaro-Dolch, eine alte Angst vielleicht, aufgefrischt durch eine frische Todesdrohung, in den neuen Weg hineinpressen?«
»Ich weiss es nicht«, antwortete Napoleon sofort, ehrlichen Tones, »ich weiss es wirklich nicht, mein Lieber, vielleicht könnte sie es; denn ich bin nur ein Mensch und habe nur dieses eine Leben und ich bin auch kein besonders mutiger Mensch – wenn auch wohl kein besonders feiger. Aber ich habe mich darüber noch garnicht befragt, und mein Monsignore ist auch ohne diese Frage erblindet. – Und was unsere Judith betrifft, lieber August Morny: ich bin ihr bekanntlich garnicht treu – so ein Held bin ich …«
Der Bruder hakte die Finger ineinander und senkte den Kopf. »So befragen Sie sich, Louis«, sprach er leise und merkwürdig erregt, »es ist sehr wichtig, fragen Sie sich dies und auch anderes noch – und vergessen Sie eine Frage nicht: ob nicht Ihre bekannte Untreue hässlich wird, sehr hässlich und auch gefährlich, wenn sie den Freund beraubt und dadurch aus dem Freund einen Feind macht, einen inwendigen natürlich, denn Sie haben die Macht, und unsereins hat verlernt, gegen die Macht aufzustehen – einen, der Ihr Feind wäre, wenn er es könnte …«
»Unsereins?«, unterbrach der Kaiser, wieder zurückgesunken und dampfumhüllt. »Sie sprechen also de facto von Walewski und prophylaktisch gleich für sich. Sie sind komisch, Morny.«
»Ich bin traurig, Louis.«
Napoleon zog die Uhr. »Ich bin es gleich nicht mehr«, sprach er, »und was die allgemeine Untreue betrifft: Walewski betrügt augenblicklich seine Frau mit einem Fräulein O. von der Comédie, die ich auch schon kenne. Der Graf Morny, jung verheiratet, betrügt seine junge Frau mit ihrer noch jüngeren Freundin aus Sankt Petersburg, die zu Besuch bei ihm weilt, ausserdem mit der neuen Diva deutschen Namens seines Offenbach. Meine Geheimpolizei, vor deren Unfehlbarkeit mir selber graut, betreut also nicht allein den Akt Castiglione, und wir alle sitzen im Glashaus, Monsieur. Und Sie dürfen ruhig Ihre charmante Frau von mir grüssen.«
Morny war etwas blass und still. »Lassen Sie bitte meine Frau aus dem Spiel, Louis.«
»Aber Sie bringen sie doch ins Spiel, ins Räuberspiel. Und damit Sie es wissen, mein Lieber, ich raube nicht, ich komme garnicht dazu, es macht mir nur Lust, geraubt zu werden, ich kann nun einmal nicht anders, und die süssen Räuberinnen stehen an. Seien Sie froh, Morny, Ihre Frau ist nicht darunter, sie hat keinen Ehrgeiz, wir scheinen ihr sogar widerlich, hoffentlich nicht auch Sie. Denn Sie gehören ja zu unsereinem. Ich verstehe so gut Ihre Todesangst um mich …«
Es klopfte. Eine junge Wärterin ganz in Weiss und mit ehrfurchtsstarrem Gesicht brachte das Kind. Der Kaiser warf die Zigarette fort und nahm es auf den Schoss. Die Wärterin ging rückwärts hinaus, auf Zehenspitzen.
Es war ein stilles, schönes Kind, viel zu still, viel zu schön. Das dunkle, lockige Haar war sorgsam gescheitelt und duftete nach Eau d'Espagne. Die grossen Augen schauten sanft, ernst und klar. Die Klarheit kommt von ihr, die Sanftheit wohl von mir, der Ernst aus unser beider Angst. Das Gesichtchen ist schon viel zu deutlich. Was will das Leben mit so früher Prägung? Will es sich keine Zeit lassen? Ich fühle mich so alt, mein Kindchen, und habe Zeitangst um uns beide, so liebe ich dich. Für dich will ich die Zeit besitzen, die selbstbesessene, und mir muss jedes Mittel recht sein; denn die Zeit ist uns nicht gut. Für dich bin ich treu und untreu, dankbar und undankbar, ruhegebietend und unruhestiftend, glückverbreitend und unheilbringend, auf geraden und krummen Wegen; denn wir wollen uns halten und der Zeit keinen Ausweg lassen. Und für dich bin ich traurig, mein Kindchen, wenn ich fühle, dass wir doch die Schwächeren sind und dass sie uns doch davonläuft, die böse Zeit. Aber jetzt bin ich froh, Loulou, denn wir sind für ein halbes Stündchen ganz allein, und sie mag uns davonlaufen …
Auch der grosse Zeitgenosse Morny war gegangen, ohne dass es der versunkene Vater merkte. Er hielt den Sohn auf dem Schoss und streichelte ihn still lächelnd und wortlos. So tat er es immer, und dem Kind gefiel es.