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Orpheus in der Unterwelt


Der Gesslerhut

Am Donnerstag, der folgte, am Nachmittag des 14. Januar, fuhr der Kaiser mit seinem deutschen Gast, dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg, spazieren. Die Kälte, die noch den Mittwoch gepackt hielt, war gebrochen, ein jäher und etwas hinterlistiger Frühling war aufgezogen. Die gutgelaunten Untertanen grüssten den Wagen mit einer gleichsam fahrigen Freude, so als hätten sie dem Kaiser des neuen Glücks auch für diesen Vorfrühling zu danken, und die Stadt, fast schon heil von den Glückswunden und fast schon so neu und jung und blank, wie es der Kaiser befahl und sein Haussmann bewirkte, grüsste mit vorlauter Sonne mit. Napoleon hatte den Zylinder tief in der Stirn, bekam kaum die Augen auf und sah nicht recht den allgemeinen Gruss; denn er dankte nicht recht, er nickte nur schläfrig mit dem Kopf. – Wie ernst er ist!, dachte der Gast; wie kann man so ernst sein, wenn man so viel Glück hat und solche Stadt und so viel schöne Frauen und so viel Liebe …

Der Wagen rollte über den Pont-Neuf, der Kaiser fuhr auf, wie aufgerüttelt, und zeigte auf den steinernen Henri-Quatre. »Wissen Sie, wen ich fürchte?«, fragte er. »Ich fürchte nur die Ravaillacs, nur die mit dem Dolch, nur die, die an ihrem Dolch haften und da sein müssen, wenn sie zustossen, und dastehen müssen und einstehen müssen für ihre Tat, nur die! Aber die Anarchisten, die Bomben werfen und zugleich an Flucht denken, paralysieren die Tat mit dem Gedanken.«

»Ça dépend«, sagte der Gast und ihm war unbehaglich zumute; denn man hatte über solche hässlichen Dinge garnicht gesprochen.

An diesem Donnerstagabend sass der kleine Journalist Henri Rochefort auf seinem Kritikerplatz im Théâtre-Français, starrte auf das Programm, das eine voraussichtlich langweilige Neueinstudierung aus dem »grand répertoire« versprach, und dachte an die Rachel, die nicht mehr auf diesen Blättern figurieren wird und nicht mehr auf dieser allzu ehrwürdigen Bühne die angestaubten Kolossalfiguren der Antike mit ihrer wunderbaren Lebensleidenschaft zu Menschen machen wird. Sie starb bei Cannes. Da sie nicht in der Villa Sardou sterben wollte, wo sie Erholung zu finden hoffte, liess sie sich auf einer Bahre nach Cannes hinauftragen, und die Träger mussten sich durch das Gestrüpp einen Weg zu dem einsamen Häuschen im Olivenhain bahnen. Was für eine grosse Szene war dieser Passionsweg der Tragödin! Die Rachel verstand, auf Bahren zu liegen, und war schon viele Tode gestorben, bis sie der Beifall der Lebenden wieder erweckte. Vielleicht ist die gemeisterte Darstellung des Todes ein Überschreiten der erlaubten Grenze, vielleicht ist das exemplarische Spiel des Sterbens eine Blasphemie, die der wahre Tod mit einer furchtbaren Vernichtung der Sterbekunst vergilt, mit einer entsetzlichen Einsamkeit und Beifallslosigkeit der letzten Stunde. Wer weiss, wie arm und schwer und gleichsam anfängerhaft die grosse Sterbekünstlerin gestorben ist?

Rochefort strich sich über die Stirnbuckeln. Was für sonderbare Gedanken eines Theaterkritikers! Nun, er war mehr als das, er war der Kritiker des grossen Welttheaters: man wusste es nur noch nicht. Er war ausgesetzt auf diese anstössige Welt, nicht allein, um sich an ihr zu stossen – das hält kein Mensch aus und das wäre auch kein Sinn und Verstand des überaus wichtigen Lebens –, sondern um sie zurechtzuweisen. Und das kann nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen; denn solche Aufgabe ist entweder öffentlich oder wahnwitzig, und dies nur war die Gefahr für ihn: vor der eigenen kritischen Vernunft auf die Dauer nicht bestehen zu können. Auf die Dauer nämlich waren seine kleinen, öffentlichen Handlungen als Witzbold und Rezensent von einer so krassen Unzulänglichkeit und abgestandenen Vorläufigkeit, dass er nachgerade Gefahr lief, sich an sich selber zu stossen und schliesslich, vor lauter Ingrimm und Korrektur-Hunger, sich selber aufzufressen. Und was geschähe dann, wenn seine Flamme nicht hochschlüge oder sich selber auslöschte, mit dem Zunder dieser Gesellschaft und dieses Staates?

Rochefort starrte menschenfresserisch auf das Programm, die schwarze Flamme von Haupthaar und Braue und Bart fuhr aus dem Teufelsschädel, und es war gut, dass man ihn auch als Rezensent recht spärlich kannte; denn man hätte sonst für die armen, nachgelassenen Schauspieler zittern müssen. Doch er wollte ja nicht die Schauspieler fressen, dieses berühmten Theaters erlesene Spieltruppe, für die er Sachkenntnis und geziemende Anerkennung aufzubieten pflegte, sondern das schlechte Theater der Zeit und ihren anstössigen Autor und Hauptdarsteller, den neuen Cäsar. Und im Augenblick frass er sich an, weil er immer noch ein Nichts war, ein Embryo von einem Tiger, eine eingekesselte Flamme, eine verkochte Kraft, ein an allen Ecken Angestossener, nirgends Zustossender. Es war auch nicht so, dass er mit seinen jähzornigen Gedanken gänzlich von der guten Trauer um die Rachel abgeschweift wäre: o nein, das schlechte Theater sorgte für die Konsequenz der Kritik.

Heute war Donnerstag, irgend ein lauer, nervöser, falscher Vorfrühlingstag im Januar. Gestern aber war Mittwoch der 13., der harte, kalte, enge, klirrend traurige Grautag, an dem sich das öffentliche Leichenbegängnis der Rachel, des armen, nach Paris verbrachten Körpers durch die Strassen bewegte. Gewiss, der Trauerzug war gross gewesen, so gross wie der bunte Hofstaat dieser launischen Kaiserin und wie das Liebesbedürfnis ihres exaltierten Lebens. Ihre Herrschaft reichte von den Schlössern der Granden bis zum Lateinischen Viertel, nein, bis zu den Vorstädten der Arbeiter, denen sie einmal im Jahr ohne Eintrittsgeld die Phädra vorspielte, am Geburtstag des Kaisers. Aber wo war dieser Kaiser? Gab es in dem Getu seines spanischen Zeremoniells die Vorschrift, die ihm erlaubte, zu Ehren seines verhängnisvollen Geburtstages das Volk mit dem Spiel der Rachel zu beschenken, aber die ihm verbot, zu Ehren der ausgespielten Rachel ihrem Sarg zu folgen oder auch nur eine öffentliche Geste der Trauer zu machen? Spürte sein zuchtloses Herz nicht die Pflicht, die letzte Ehre einer Frau zu erweisen, der man es nicht mehr nachtragen soll, dass sie sich ihm einmal geschenkt hatte? Da war gegen ihn der peinliche [Plonplon] mit dem groben Wachskopf eines Panoptikum-Napoleon wahrhaftig noch ein Mann von Gemüt; denn er raste nach Cannes und heulte vor ihrem armen Bett und empfing den einzigen Segen seines wüsten Lebens, als die Sterbende flüsterte: »Er hat mich nicht vergessen«, und mit ihm vielleicht die Sterbensleere ein wenig ausfüllte, und er hatte den Mut und den Anstand des Herzens gehabt, um der Rachel willen zwei Tage zu spät im Heerlager von Chalons anzutreten, in jenem schlechten Theater aufzutreten, auf dem der zuchtlose Cäsar dem beunruhigten Europa das Spiel vom Krieg zu zeigen willens war. Und wo war gestern, am grauen Tag, der Kaiser, während der Trauerzug zum Père-Lachaise zog, zum kleinen, jüdischen Friedhof rechts vom Eingang – nicht weit doch vom Denkmal von Heloise und Abälard? Die Rachel war keine Heloise; aber vielleicht suchte sie doch vom Dynasten bis zum Bohemien nach einem Abälard und war nur aus Enttäuschung immer wahlloser und hungriger geworden. Doch der Kaiser war eher noch ein Cäsar als ein Abälard: er jagte in Fontainebleau, meldeten die Gazetten dieses 13. Januar. –

Rochefort stiess sich die Seele wund, so anstössig war die Welt, so ohne Sinn für Gerechtigkeit, so ungerecht im Glück und Unglück. Und dabei gibt es doch viel mehr Unglück als Glück, in jedem Glück hockt das Unglück als ausgleichender Zufall, als Ausgleich der Gerechtigkeit – der Menschenfresser zerbiss sich die Unterlippe –, dabei gäbe es doch genug Möglichkeiten für das Unglück, zum Beispiel auf der Jagd: da gehen Gewehre los, da gibt es fatale Ungeschicklichkeiten, wenn nicht eigenhändige, dann aus zweiter Hand – warum bleibt der heillose Jäger heil? –

Jetzt musste der Hasser Rochefort aufsehen und aufstehen. Mit dem ersten Klingelzeichen, wie eingeläutet und angemeldet also, kam ein Herr in seine Parkettreihe und verlangte höflich aber merkwürdig kurzatmig an ihm vorbei. Rochefort, im Aufstehen, sah ihn an. Es war ein noch junger Mann mit modischem Kaiserbart und einem Gesicht, das nicht abgehetzt war wie die Stimme – vom Laufen etwa und von der Furcht, zu spät zu kommen –, sondern das erschüttert war. Ja, es war ein erschüttertes Gesicht, nicht so sehr von innen wie von aussen, nicht vom Stoss des eigenen, sondern vom Eindruck des fremden Unglücks: so etwa, wie es der Zuschauer haben mag, der eben die Bühnen-Rachel hat sterben sehen und nicht recht hat Beifall klatschen können vor Mitgenommenheit und aufsteht und weggeht. Es war das Zuschauergesicht nach dem fünften Akt, nicht beim ersten Klingelzeichen. – Oder trauert auch er um die ausgespielte, um die endgültig tote Rachel? Und warum bleibt er vor mir stehen, unziemlich nahe fast in der Klammer der Stuhlreihe, und starrt mich mit seinen erschrockenen Augen an, so als sei auch mein Gesicht erstaunlich ausser Rand und Band? – Der Herr ging schon weiter, es war nur das Zögern eines Augenblicks gewesen, und schob sich seitlich an ihm vorbei, höflich zurückgebeugt, um ihn nicht zu berühren: jetzt war er schon auf seiner anderen Seite und wandte ihm noch einmal das Gesicht zu, wohl um Danke zu sagen. Doch er flüsterte aufgeregt und wie gestossen:

»Sie wissen wohl nicht: der Kaiser ist tot …«

Rochefort blieb stehn, das Programm entfiel seiner Hand – es war nur das Zögern eines Augenblicks: dann entfielen ihm die Vorstellung, die Rezension und das dramenhaft erschütterte Gesicht des Unglücksboten, der sich irgendwo zu seiner Rechten eingereiht hatte und aus seinem Leben verschwunden war, nach getaner Pflicht. Rochefort eilte hinaus. Hinter ihm versank das Parkett mit dem zweiten Klingelzeichen im Dunkel.

Der Abend war unglaubhaft mild und wie verstört, so als bangte ihm vor seinem falschen Frühling. Es gibt in dieser Glücksstadt, zumal in ganz früher oder ganz später Zeit des Jahres, oft einen rätselhaften Druck von Verhängnis, eine Brustklammer der schlimmen Ahnung, der Angst vor Unbekanntem, der Hilflosigkeit des kleinen Menschen vor dem grossen und mit einemmal erbarmungslos unbekümmerten Umtrieb des Lebens. Rochefort kannte das und litt darunter. Seine Wildheit war nicht sicher aufgebaut, sein Kern war weich oder doch empfindlich, er war ein Teufel mit schlechtem Magen.

Jetzt aber, als es ihn in den Menschenstrom hineinriss und im Sog des Ereignisses die endlose Richelieu-Strasse hinaufzog, nach Norden, zum Schauplatz des rumorenden Todes: jetzt war es anders, jetzt trug nur der ängstlich laue Abend die Brustklammer der ungewissen Bedrohung, und manchem auch im Menschenstrom sass die Beklemmung wie ein Geisterhandschatten auf dem verfliessenden Gesicht – aber ihm, dem Draufgänger Rochefort, sass kein Druck auf dem Herzen und keine Hand auf dem Gesicht, der Druck war fort, und die Hand war hinter ihm und schob ihn vor, und wenn es vorhin eine Ahnung war oder das zweite Gesicht, als es um Jagd und Schuss und heillosen Jäger ging, dann war es keine Beklemmung, sondern eine Ausweitung des Gedankens in den Wunsch, des Wunsches in den Gedanken, ein Rundschwung des befreienden Wunsches, eine Wunsch-Sense, ein Wunsch-Geschoss.

Aber ist sein Wunsch wahrhaftig eine Höllenmaschine, ein Ding zugleich des Teufels und des Uhrwerks, die exakte Vernichtung? Ist kein Irrtum möglich?

Allerorten auf dem Menschenstrom hüpfte das Wort von der Bombe – »Eine Bombe?« – »Viele Bomben!«, es war beinahe ein Spiel mit ungewissen Bomben, vielleicht ein Verspielen des erfüllten Wunsches. Der Draufgänger, im Sturmschritt nach Norden, fragte um sich herum, und es regnete die Antwort: eine Bombe, viele Bomben unter seinem Wagen – tot und zerrissen … –

Der Strom wurde langsamer, immer mehr von gegenflutenden Menschen behindert – seltsam auch: der rumorende Tod verlor immer mehr an schrecklichen Einzelheiten, an Sicherheit der Aussage und gar an Gewissheit seines Werks, je mehr sich die Strasse ihrem Ende näherte. Und dann stockte der Strom noch vor der Mündung in den Boulevard. Der Draufgänger arbeitete sich vor, nicht mehr im Schwung der Gewissheit, sondern im Jähzorn des Wissenwollens – so wies es den Gymnasiasten im Februaraufruhr 48 und den Magistratsbeamten im Staatsstreich-Dezember auf die gefährliche Strasse getrieben hatte. Revolution war Ungewissheit und wilde Neugierde auf das Gelingen. Jetzt war es Revolution, allein für ihn, Rochefort.

Die Mündung der Rue Le Pelletier, wo die Oper war, zum Boulevard des Italiens, war wie ein schwarzes Loch; denn alle Gaslaternen waren erloschen, wie aus Scham oder aus Trauer. Der Strassenraum um das Loch herum war in weitem Umkreis von Polizei und Mobilgarde abgesperrt. Hier war die Grenze, auch für Rochefort; doch er gab noch nicht klein bei, er schob sich die Uniformmauer entlang, ja, er fragte sie, ob der Kaiser lebe – das darf doch ein Bürger, das spricht doch für den besorgten Geist des Untertans: aber eine Mauer gibt keine Antwort.

Lebt er noch? Die Menschen hinter der Uniformmauer fragen nicht einmal mehr. Sie sind verstockt und versteint und starren durch die Lücken des Polizeikordons zum dunklen Loch hinüber.

Rochefort kam nicht mehr weiter; denn der absperrende Wall bog im rechten Winkel von der Strasse ab und schlug sich über den Bürgersteig gegen ein Haus. Rochefort stand neben einem geschlossenen Barbierladen, zur Ladentür führten zwei Treppen, auf der obersten Stufe stand der Meister in weissem Kittel und schaute verschränkten Armes über die Sperre hinweg, ein Bild des Gleichmuts. Rochefort hatte Vertrauen zu ihm.

»Lebt er?«, fragte er hinauf.

»Ja«, sagte der Meister, ohne hinab zu sehn.

»Wissen Sie es genau?«, schrie Rochefort.

»Ja«, sagte der Meister; »aber jetzt bringen sie schon wieder einen armen Teufel.«

Rochefort sprang zu ihm hinauf, und wäre es nach ihm gegangen, so wäre er aus der Haut gefahren und geradeswegs in den Himmel, zur Kritik und Anklage in den parteiischen, ungerechten, ganz und gar blinden und anstössigen Himmel. Nebenan, zwischen der eingebuchteten Sperre, war eine Apotheke. Zwei Sanitäter trugen mit raschen, kleinen Schritten eine Bahre. Auf der Brust des ersten Sanitäters schaukelte eine kleine, matte Laterne. Auf der Bahre lag etwas, mit einem Mantel zugedeckt, wohl mit einem Uniformmantel; denn es glitzerten Knöpfe. Wären nicht diese ungehörigen Knöpfe, so sähe es aus wie ein ambulantes Grabhügelchen. Die Apotheke mit dem grossen, hellen Maul ihrer offenen Doppeltüren schluckte die Träger und den Getragenen. Der Blick lief das Gässchen zwischen den Uniformmauern zurück zum entleerten und verstockt umkränzten Boulevardstück und brauchte nicht weit zu laufen. Aus dem dunklen Loch der Le Pelletier kamen Laternchen hinter Laternchen, wie ein Zug gefallener und verendender Sterne.

 

Von der Kapelle Saint André schlägt es viertel neun. Der Abend verhängt tückisch mild und tückisch verschwiegen das Verhängnis und lockt viele Menschen an. Es ist Opern-Gala-abend, die Zeitungen haben versprochen, dass das Kaiserpaar käme und ihr deutscher Gast und viele grosse Herren und Damen – man sieht es an den Vorbereitungen: die Fassade des Opernhauses ist mit Gaslichtgirlanden illuminiert, vor dem Theater stehen Garde-Trommler in Paradeuniform, auch die berittene Munizipalgarde, die Schutzleute und selbst die Theaterdiener sind in Gala, und der Weg zum kaiserlichen Sondereingang ist mit feinem Sand bestreut, der im verschwenderischen Aufgebot der Lichter wie silbrig blauer Schnee erglänzt.

Der Strassenportier hatte am späten Nachmittag, als er den Sand streute, einen kleinen, dunkelhaarigen Mann, der lästig neugierig um ihn herum stand, zum Teufel schicken müssen; denn was zum Teufel ist schon gross zu schauen und um die Säulen des Peristyls zu schnüffeln, wenn Sand gestreut wird? Aber jetzt denkt der Beamte nicht mehr daran, denn jetzt hat er die Pflicht, die Equipagen zu erwarten, die Wagentüren zu öffnen und zu schliessen und den Kutschern scharfe Kommandos zuzurufen. Er kommandiert gern und schickt gern zum Teufel; denn er ist ein ehemaliger Feldwebel. Und bevor er sich eine halbe Stunde später an den zum Teufel geschickten Sandbeschauer erinnert, ist sein herrschsüchtiger, weissbärtiger Kopf schon zerschlagen. Er sieht auch nicht, dass der fortgewiesene Mann immer noch oder schon wieder da ist, auf der Strasse, unmittelbar vor den Stufen der Säulenhalle, und dass er die Hände nicht aus den grossen Manteltaschen herausbringt und dass es scheint, als seien es geballte Fäuste, und dass es mächtige Fäuste für einen kleinen Mann sein müssen; denn die Taschen stehen ab, die rechte noch mehr als die linke.

Gewiss, es stehen viele Leute auf der Vortreppe und auf dem Trottoir, es sind fraglos Neugierige und beifallsfreudige Untertanen, die die Doppelfreude des lieblichen Abends und des kaiserlichen Aufzuges zu geniessen wünschen. Der deutsche Gast, der eben mit seinem Ehrenkavalier, dem schimmernden Generaladjutanten des Kaisers, angekommen ist und mit ihm an der Glaswand steht, welche die Säulenhalle vom Foyer trennt, äussert indessen einige Zweifel an der vollkommenen Harmlosigkeit der Neugierigen und fragt geradezu, ob denn in zureichendem Masse für die Sicherheit des Souveräns gesorgt sei oder gesorgt werden könne. – Wie kommt er nur darauf?, fragt sich der Generaladjutant und weist mit leiser Ironie den timiden und etwas provinziellen Dynasten darauf hin, dass nach der Technik einer nicht nur zureichenden, sondern sogar unübertrefflichen Überwachungsorganisation die massierte Neugierde auf üppige Weise mit Kriminalpolizei durchsetzt und überwacht werde, dass also die Ansammlung zu ihren Füssen tatsächlich nicht harmlos sei, weil auf fünf Hurrarufer mindestens ein Detektiv komme. Der Gast mustert die vielen Menschen, beschliesst, das Henri-Quatre-Gleichnis des Kaisers von heute nachmittag für sich zu behalten, und hält Paris nicht für gemütlich, im Vergleich mit Coburg.

Unter den vielen Menschen ist also auch der beleibte Herr, der aussieht wie ein gutmütiger Onkel. Er schaut so friedlich in das festliche Treiben, ja, er passt so vorzüglich in den lauen und menschenfreundlichen Abend, dass man ihn für einen recht untauglichen Späher halten mag. Dennoch aber späht er, und keineswegs ins Leere, wie es sich erweisen wird. Seit acht Uhr, also seit einer Viertelstunde, haben seine harmlosen Augen ein ganz bestimmtes Ziel, und wenn er bis Schlag viertel neun mit dem Angriff wartet, so tut er es aus der richtigen, aber leider nicht genügenden Erwägung, festzustellen, ob der kleine, schwarzhaarige Mann mit den abstehenden Manteltaschen ein Einzelgänger sei oder nicht. Jetzt also, Schlag viertel neun, geht Herr Hyrvoix, Chef der Geheimpolizei, persönlicher Sicherheitskommissar Seiner Majestät, zweimal um das Ziel herum, und dann pflanzt er sich vor ihm auf. Der kleine, schwarzhaarige Mann steht wie ein Stock, das Gesicht ist ganz weiss, auch in den Augen ist viel Weiss, und sein Rücken, eben beim Rundgang, wurde ganz rund. Herr Hyrvoix sieht derlei, er sieht nicht nur auf den Rücken und jetzt ins Gesicht, sondern auch auf die schweren Taschen, vielleicht sogar in die Taschen; denn mit einemmal ist sein angenehmer Blick recht lastend und durchdringend; und dann fragt er freundlich und unauffällig: »Herr Pieri, nicht wahr?«

Der Mann sagt darauf nur zwei leise, gequälte Worte: »Warum …« und »nein …«; aber das erste Wort hat das südlich rollende »r« und statt »non« sagt er gar »no«.

»Gehen Sie mit«, befiehlt Herr Hyrvoix; und mit einemmal sind rechts und links neben dem Mann zwei andere Herren, die man eben noch für Hurraruf er gehalten hätte, wenn sie auch viel weniger gutmütig aussahen als der Onkel.

Herr Hyrvoix entlässt die wenig auffällige Gruppe und scheint durch den Erfolg gesättigt; denn jetzt kehrt er der Strasse den Rücken und schlendert durch den Reservateingang ins Foyer, um dort nach dem rechten zu sehen. Das ist ein Unglück für die Strasse, aber ein Glück für ihn; so blieb er heil und gesund. Zehn Schritt von der Verhaftungsstelle, dem Boulevard zu, kommt der Abgeführte an einem stattlichen, bärtigen Mann vorbei: Pieri zieht die dicken Brauen auf und ab und rollt die Augen von links nach rechts, von rechts nach links – ein Zeichen für den Stattlichen. Wo ist Herr Hyrvoix, der derlei sieht? Denn die beiden Kriminalbeamten sehen es nicht. Und fünfzehn Schritt weiter wird ein Mann angeblinzelt, der etwas in einem roten Taschentuch trägt, vielleicht einen Laib Brot. Und zwanzig Schritt weiter wird ein Herr angeblinzelt, der ein kleines Paket trägt, vielleicht ein paar neue Stiefel. Wo ist Herr Hyrvoix, der alles sieht und sich auf die drei Angeblinzelten stürzt, auf den Stattlichen, den Mann mit dem roten Taschentuch, den Herrn mit dem Paket, auf den Anführer Orsini, den Lumpen Gomez und den Mitläufer di Rudio, und auf ihnen die Bomben findet und die Revolver und die Dolche, und zur Sicherheit die ganze Zufahrtstrasse räumen und die Häuser besetzen lässt und dem Abend den tückischen Frieden vorsorglich vom falschen Frühlingsgesicht reisst, damit hundertsechsundfünfzig Menschen ihr Leben oder ihre heilen Glieder behalten? – Ach, die beiden Beamten hatten Befehl, den Verhafteten auf die nächste Polizeistation zu bringen, Befehl ist Befehl, das zuständige Revier ist auf der Rue du Faubourg Montmartre 33, nicht ganz nah, und als man angelangt ist und den ganz ergebenen Mann untersucht, die Bombe, den sechsschüssigen Revolver und den Dolch gefunden, das Signalement Pieri verglichen und das wichtige Protokoll begonnen hat, ist die illuminierte Welt um die Oper schon blind geworden wie die Nacht, ein schwarzes Bett für den roten Fluss des Unglücks.

 

Saint-André schlägt halb neun. Vom Boulevard her weht ein Wind des Beifalls heran, das bekannte und erwartete Rauschen der Begrüssung, Rufen und Händeklatschen, wohltemperiert und in der Ordnung wie in einem gesitteten Theater. Auch die Bewegung, die jetzt durch die Menge vor dem Opernhaus geht, ist durch die Gewissheit des Schauspiels und die schon handgreifliche Erfüllung des Schauwunsches gehalten und gemessen, gleichsam vernünftig. Die nichts als Neugierigen rücken das Gesicht in die Richtung des Beifalls, die Uniformen nehmen Haltung an, die Polizisten machen den Fahrdamm frei, der weisshaarige Theaterfeldwebel scheucht einen Diplomatenwagen aus der Nähe der Sondereinfahrt und mustert liebevoll seinen unberührten Silbersand, die Gardetrommler heben die Schlegel, die Mörder lockern die Bombenhülle.

Der Beifall, wie ein Herold, biegt in die Le Pelletier, und dann kommen die Vorreiter und der Wagen mit den Hausoffizieren und der Zug Garde-Ulanen, und dann kommt die geschlossene, kaiserliche Equipage mit Lakaien und Lanciers. Das Opernhaus ist aufgetan wie eine leuchtende Theaterrampe, das Kortege, eben noch ein Funkeln der abendlichen Strasse, blitzt schon im Bühnensonnenschein, schon tanzt das Licht auf den Tschakos, den Pallaschen, dem schönen Pferdegeschirr und auf dem grossen, goldenen, gekrönten N der Prunkdecke, die den Kutschbock der Kaiserkarosse pomphaft bekleidet. Das Schauspiel kommt immer näher und wird immer heller, mit jedem Atemzug, man atmet ruhig, wohlig, ohne Aufregung und rüstet sich zum vernünftigen Beifall – und jetzt wirbeln die Trommeln. –

Der Kaiser war schweigsam und schläfrig, wie immer. Eugenie neben ihm war wach wie immer. Sie sass sehr gerade, fast auf der Kante des Sitzpolsters. Wer in den Wagen blickte, sah zuerst sie. Sie nahm den Beifall an, der rechts und links den kurzen Fahrweg mitlief. Sie tat es immer, sie nickte immerzu mit dem wunderbaren Kopf, und dann spielten die langen Perlentropfen ihrer Ohrringe lieblich über ihre Wange. Sie war die Märchenkaiserin, auf dem immer goldneren Haar sass ein Diadem, das aussah wie ein Krönchen, sie nickte immerzu, die sehr langen Wimpern nickten für sich mit, nur die hochgewölbten, hochmütigen Brauen rührten sich nicht, und die Linie ihres Göttinnenprofils, welches so vollkommen war, dass es schon ein Lächeln stören konnte, blieb wie gemeisselt. Der Kaiser sah ihr gerne zu, wenn sie huldvoll war in der allgemeinen Schau und die Schönheit ihres Gesichts wie eine Gnade austeilte – ihres spanischen Gesichts, das zugleich anmutig und stolz und ganz ohne Mühe die Öffentlichkeit ertrug. Wie schnell hatte sie gelernt, Kaiserin zu sein! Napoleon lächelte vor sich hin und dachte an den Hochzeitstag: wie sie in Notre-Dame eintrat, weiss wie ihr Kleid und zögernd, mit gesenkter Stirn, fast ein wenig gebeugt von der Öffentlichkeit – und wie sie an seinem Arm hinaustrat, lächelnd, grüssend, mit zaubrischer Sicherheit im Jubel der plötzlich in sie verliebten Stadt, Kaiserin aus dem Märchen. Und er dachte lächelnd an ihren Zorn, als einmal die Theaterkaiserin Rachel, die vom Obersthofmarschall (zugleich auch ihres Hofes Marschall) einen kaiserlichen Wagen zur Verfügung gestellt bekam, die irrtümliche Akklamation des Publikums mutwillig annahm und als nickende Eugenie, die schwarzen Haare von der modischen Schute verdeckt, die Champs Elysées befuhr. Oh, Eugenie war eine genaue Kaiserin und eifersüchtig nur auf sich und sie vergab die Komödie der Komödiantin niemals – und siehe, die Rachel ist jetzt tot –, sie vergab der Castiglione niemals den Rücken auf dem Parkteich von Villeneuve-l'Etang, sie führte Buch über den Dank, der ihr zukam, wie ein Steuereinnehmer, sie hob peinlich jede schriftliche Form der Dankbarkeit auf, zur Kontrolle auch des nichtentrichteten Tributs, wohl auch zur Ahndung des Undanks. Der Kaiser streifte die gesammelte Schönheit ihres Gesichts: das tat die Rachel nicht, die grosse Verschwenderin, dachte er, sie gab und nahm, ohne Rechnung, sie gab viel mehr als sie nahm, sie verschleuderte sich, sie war der äusserste Gegensatz zu der genauen Kaiserin – und darum ist sie jetzt schon tot.

So kam es nun durch die stille Kritik an Eugenie, dass der Kaiser in der Kutsche zur selben Zeit an die Rachel dachte wie sein Kritiker im Theaterparkett – und es hätte dem wilden Rochefort nicht viel ausgemacht, würde ihn der liebe Gott, der einzige, der von dieser Gleichzeitigkeit wissen konnte, auf die nicht ganz gerechte Rezension des kaiserlichen Herzens, des zuchtlosen Herzens nach Rochefort, aufmerksam gemacht haben. Aber Gott tat ein übriges; denn er wusste ja auch von dem, was kam: er gab dem Kaiser, einem noch bis zu diesem Nachmittag verdüsterten und ahnungsvollen Mann, die Gedanken über Eugenie zu Rachel, damit er nicht an sich denke, sondern schliesslich nur an einen anderen, schon gefällten und übersehbaren Tod. Und dann hielt er ja die Hand über ihn.

Eugenie sagte hin und wieder ein kleines, belangloses Wort zu dem Adjutanten vom Dienst, der gerade und knapp wie sie auf dem Rücksitz sass. Der Kaiser blinzelte zu ihm hinüber. Der General trug seinen Bart und seine Uniform, nur nicht so viele Orden und keinen Grosskordon über der straffen Brust. Im mageren Licht der Seitenlaternen war es, als trüge er auch sein Gesicht. Die Kaiserin konnte sich trösten: es gab viel mehr Napoleons als Eugenies. Dass fast alle hohen Offiziere aussahen wie er, war eigentlich keine Schmeichelei; der grosse Kaiser hatte keine Suite von Doppelgängern. Ein überaus böses und gehässiges Buch des verbannten Dichtergottes, der sich auf Jersey langweilte und in allen Stellungen fotografieren liess, hiess: Napoleon der Kleine. Es hatte schon seine Richtigkeit mit dem Augustulus, man behält es nur für sich; denn selbst jene tollen Cäsarleins, die zwischen Marc Aurel und Konstantin das Weltreich zertrümmerten wie einen Porzellanladen, waren zu fürchten, so lange sie den Purpur trugen. Es war schliesslich nur noch das Kleid, das gegrüsst wurde, oder der Gesslerhut (man fuhr ja zur Oper »Wilhelm Teil«). Der Hut! Napoleon der Kleine lächelte in sich hinein; denn seine Gedanken sprangen plötzlich weit zurück: zum kleinen Querhut von Strassburg. Er und sein Adjutant trugen den gleichen Generalshut, einen straussenfederngeschmückten Zweispitz. Was hatte sich seit dem Strassburger Plagiat-Hut geändert, ausser der Grösse und der Posamenterie? Man trug ihn nicht mehr quer, es war ein Längshut geworden, er schloss jeden Irrtum aus, so wie der ausdrückliche Imperial. Schnurrbartlos mit Querhut waren nur noch Leibkutscher und Lakaien. – Ich wahre vor der Historie das Gesicht, lächelte der Kaiser, und die niemals erreichte Kaiserin ist eine Epoche für sich; was will man mehr?

Der Wagen schaukelte um eine Ecke, es wurde heller, die deutliche Eugenie nickte der untertänigen Illumination zu, es wurde immer heller, der Kaiser kniff die empfindlichen Augen zusammen. Plötzlich, so als sei es der laute Ausdruck des grellen Lichtes, wirbelten Trommeln. Napoleon zuckte zusammen und dachte an die Strassburger Regimentspauke, die ihm damals aus furchtbarer Nähe ins Hirn dröhnte und unerbittlich nach dem Takt der Marseillaise den komisch tragischen Weg donnernd wies. Er hasste grelles Licht und Trommeln; aber beides gehörte zur kaiserlichen Repräsentation. Die vollkommene Kaiserin nickte einmal nach rechts und einmal nach links, auch für ihn. Man sah noch die Untertanen zufrieden rufen und klatschen, man hörte sie im Trommelwirbel nicht. Gomez liess das rote Taschentuch fallen, di Rudio das braune Packpapier. Der Wagen wollte in den Sondereingang biegen. Orsini holte aus.

 

Der erste Donnerschlag zerfetzt das Licht und stäupt die Nacht über die Welt. Welches Licht ist erschlagen – nur die Illumination des eitlen Abends oder alles Licht, das Licht des Lebens, das Leben des Gesichts, ein für allemal? Aber in den zehn Sekunden bis zum zweiten Donnerschlag gibt es noch Leben genug, ein Höllenleben für die Ohren, eine Kakophonie des geblendeten Entsetzens, des brüllenden Leids und des plötzlich lebendigen, furchtbar körperlichen Zerberstens, Zersplitterns, Zerfallens der leblosen Dinge. Und nach neuen zehn Sekunden des gellenden Miserere und tiefster Lebensfinsternis kommt der dritte Donnerschlag. Hört es nicht auf und ist die Grenze zwischen Leben und Tod nicht schon entsetzlich verwischt genug?

Als es glassplitternd und metallisch pfeifend durch den finsteren Wagenraum fegte, ist der Kaiser nach hinten in den Fond gesunken, und der Hut, mit dem rückwärtigen Spitz gegen die Polsterung stossend, stülpt sich über sein Gesicht. Er hält ihn mit beiden Händen fest und drückt das Gesicht in die weiche Futterseide, die nach Haarwasser duftet. Einmal hat er den kleinen Querhut getragen, tief in der Stirn und am liebsten zur nachtschlafenden Zeit, um sein Gesicht vor der Historie zu schützen; aber sie hatte ihn erwischt und verworfen. Was versteckt er jetzt das Gesicht im neukaiserlichen Längshut: dass ihn der Tod nicht erwische oder salutierend vorüber gehe? Er gleitet durch die krachende Nachthülle immer tiefer, das Gesicht im Hut, und liegt schon fast auf dem Sitzpolster. Irgendwo in der Nähe schlagen Pferdehufe das Pflaster wie in rasendem Galopp; aber sie kommen ja nicht von der Stelle, es ist nur eine Variante des blinden Kampfes mit dem Tod, Hufschlag neben Menschenschrei und Glasgeprassel. Die Hölle lötet Mensch, Tier und Ding im schwarzen Loch des Unglücks fest, um sie leichter zu zertrümmern. Die Taktik leuchtet ein. Und kommt nach dem dritten Donnerkeil noch ein vierter? Der Kaiser hält im Hut den Atem an. Was kann atemloser und lebenswütiger machen als das Warten auf den vierten Todesschlag? Noch lebt man ja – noch lebe ich ja – das Gesicht im guten Gesslerhut, noch kreist der Tod um mich herum, gleichsam respektvoll … Mein Stern, so alt wie das Leben, so treu wie das Leben! – Es kommt kein vierter Schlag; aber über das Miserere erheben sich Kommandos, männliche Laute des Lebens; und ausserhalb des Hutes, ganz nahe, fragt eine Stimme im kleinen, schwarzen Raum umher, sticht umher wie eine Sonde: »Sire! Sire!«, und dann fragt Eugenie, ganz heiser: »Louis! Louis!« Ach Gott, da ist ja noch die vollkommene Kaiserin, und man hat sie vergessen, sie und den anderen Generalshut, so als habe sie nichts mit dem umschwingenden Tod zu tun. Wie seltsam, dass er ganz genau weiss: Eugenie hat nichts mit diesem Tod zu tun, sie ist heil, sie ist gefeit. – Ich bin es nicht, ich habe nur Glück gehabt, ich bin ihm nur entronnen …

»Louis!«, schrie jetzt Eugenie, rauh und hässlich, furchtbar aufgebracht, so als sei sie beschimpft, »bist du verwundet?« Und sie tastete über seinen zurückgeworfenen Körper; aber sie tat es nicht mit barmherziger, sondern mit böser Hand; und dann blieb die Hand auf dem Hut über seinem Gesicht und fand ein fingergrosses Loch am Bug des Vorderspitzes und rüttelte am Hut wie an einer verschlossenen Tür.

 

Laternen kamen, Windlichter, Fackeln. Das Leben also machte sich wieder Licht und Luft. Mit einemmal sah man, wie viele Menschen noch auf der Erde waren, wie viele Uniformen.

»Haltung!«, sagte die Kaiserin an des Kaisers Ohr.

Napoleon straffte gehorsam den Rücken und drückte den Längshut fest in die Stirn. Dann stieg er aus, mit deutlicher Geschmeidigkeit. Der Adjutant, der am offenen Schlag stand, konnte nur eine Geste der Hilfe machen; er war zudem behindert, er presste mit der Linken das Taschentuch an die Backe, er hatte Schnittwunden. Sein schöner Generalsmantel hing in Fetzen. Der Kaiser half der Kaiserin aus dem Wagen, sie stützte sich lieblich auf seinen Arm, sie war sehr blass und wunderbar schön. Die Menschen, eben doch noch in der schwarzen Hölle des Todes, riefen, dass sie leben mögen, der Kaiser und die Kaiserin; aber der Ruf war eng und trocken, wie knöchern. Eugenie nickte, Napoleon legte die Hand an den durchlöcherten Hut und sah sich um. Er sah eine Uniformmauer, die gebieterisch den Weg zum Sondereingang wies und jeden Blick auf das Unglück verstellte. Dahinter waren die Kadaver von Mensch, Tier und Ding eiligst aus dem Weg geräumt. Ein Polizist streute Sand auf den Sand. Wo Blut gewesen war, blieb der Sand etwas dunkler: das liess sich nicht ändern. Der Kaiser schaute seinen Wagen an. Es war, als suchte er Beweise. Die Fensterscheiben waren zerbrochen, der Lack zerstossen, die Türwand durchlöchert, Radspeichen zertrümmert. Der Kutschbock war leer; der Kutscher war abgestiegen und kniete hinter der Uniformmauer bei den Pferden; das eine war schon tot, das andere schlug immer noch die Hufe auf das Pflaster, aber nicht mehr im Galopp, sondern im erlöschenden Schritt des Todes: man wartete mit dem Erschiessen, bis das Kaiserpaar sich entferne. Der Leibjäger war hinabgestürzt und lag hinter der Mauer als Sterbender. Das sah der Kaiser nicht: doch er fragte nach ihm, und sofort auch wollte die Kaiserin, die barmherzige Fee der Spitäler, sich um die Opfer kümmern. Doch die Mauer rührte sich nicht, sie gab keine Antwort und gab keinen anderen Weg frei. Aber wo der Leibjäger gewesen war, auf dem rechten Bockplatz, war sein Blut, und sein Blut war auf der Prunkdecke und verdunkelte die goldene Krone ganz und das goldene N zur Hälfte. Das sah der Kaiser und er ging, er ging den vorgeschriebenen Weg, die Hand am Hut, am Arm die Kaiserin.

Das Theater spielte – ja, das Theater spielte. Die drei Donnerschläge, die nur mit Mühe in das tönemächtige Melodram eines Volksaufstandes drangen, gehörten in eine andere Welt, hier lauschte ein festliches Haus auf die erzene Stimme des Adolphe Nourrit und wartete auf die Gala-Zugabe des kaiserlichen Erscheinens; Kanonenschüsse gehörten nicht zum Stück, denn Teil wird mit der Armbrust schiessen – und so weit wird es heute abend nicht kommen, man gibt nur zwei Akte »Wilhelm Teil« und dann Ballet, und noch hing der Gesslerhut auf der Stange. Als die Kunde von dem Attentat einsickerte und unter dem Sturzbach der Musik einiges Gerinnsel von Angst bildete, erschien das Kaiserpaar in der Loge – es war also ein missglücktes Attentat und kein Spielverderber –, und als es Licht wurde, akklamierte man Herrn Nourrit, weil er den Gessler töten wird, und das Kaiserpaar, weil es am Leben geblieben ist. Das Orchester intonierte die ersten Takte von »Partant pour la Syrie«, Romanze der Königin Hortense, jetzt Nationalhymne, das Publikum stand auf und klatschte. Das Kaiserpaar war von bewunderungswürdiger Haltung: so wie man sich wünscht, dass Souveräne dem Tod ins Auge schauen. Eugenie lächelte blass und schön, liess sich von den bestürzten und glückwünschenden Granden die Hand küssen und merkte sich alle, die kamen. Sie hatte einen winzigen Hautschnitt neben dem rechten Auge, die Gratulanten entdeckten ihn erst. Im Vorsalon der Kaiserloge war der getroffene Adjutantenmantel ausgestellt und angestaunt wie eine Reliquie.

Napoleon war ganz gelb, und quer über seiner grossen, gelben Nase sass eine breite, rote Schramme, der Attentatsbeweis. Er sprach kaum ein Wort, er antwortete auf den Beifall des Publikums und auch auf die Fragen und Wünsche der einströmenden Höflinge nur mit einer winzigen Bewegung der weissbehandschuhten Rechten. Und das Ballett kam, und die wunderbaren Beine der Taglioni zogen die Blicke von der Kaiserloge; aber der Kaiser schloss die Augen, furchtbar müde, und öffnete sie auch nicht, als hinter seinem Sessel ein finsterer Gast erschien, Polizeipräfekt Pietri, und grob meldete: »Wir wissen nichts.« (Denn der Bombenträger Pieri wurde fernab auf Revier 35 verhört.) Die Trikotbeine der Tänzerinnen turnten exakt und kompliziert auf den Tönen, jetzt zeigte das Ballett die Ermordung des Königs Gustav III. von Schweden. Napoleon hatte auch noch den Gesslerhut gesehen, das Programm war anzüglich, er machte eine Bewegung, als ob er gehen wollte.

»Bitte bleiben Sie gerade jetzt!«, flüsterte Eugenie.

»Was macht der Leibjäger?«, fragte der Kaiser über die Schulter. Man antwortete verlegen. Er stand auf und ging hinaus. Als er zehn Minuten später zurückkam, hatte er auf der Brust einen Orden weniger. Aber da er sehr viele Orden trug, merkte man es nicht. Doch auf der Brust des toten Leibjägers nahm sich das einsame, kleine Diamantenkreuz würdig und sogar heroisch aus. Der Kaiser setzte sich still. Der Schwedenkönig war schon tot, von den Damen Taglioni und Murawiew tragisch umtanzt.

Präfekt Pietri erschien wieder. »Einige Verhaftungen, noch keine Klarheit.«

Aber während sich das Heer der Polizisten und Geheimagenten durch die Strassen und in die Häuser des Opernviertels ergoss, bahnte sich schon die Klarheit an. Orsini, von der eigenen Bombe verwundet und in der Gosse der nahen Rossinistrasse die zweite Bombe und die Pistole zurücklassend, brauchte seine Flucht nicht mit seinem Blut zu markieren, dass man ihn finde, und nicht in einer Apotheke der Rue Laffitte sich den Kopf verbinden zu lassen, mit italienischem Idiom versichernd, dass er Engländer sei, und nach dem kürzesten Weg zur Rue Mont-Thabor fragend: er lag nicht lange in seinem Zimmer in der Rue Mont-Thabor 10, blutbedeckt, geschwächt und von allen Zweifeln gefoltert, als sie ihn aus dem Bett holten. Denn der Lump Gomez, der so lange in einem Restaurant des Opern-Viertels weinte und mit sich, wirr gestikulierend, napolitanisch sprach, bis man ihn verhaftete, hatte seinen Herrn und die gemeinsame Wohnung genannt. Und Pieri auf Revier 35 hatte das Hotel de France et Champagne in der Rue Montmartre genannt, und dort fand man den völlig starren di Rudio. Die Polizei hatte Glück in dieser Nacht.

Der Kaiser in der Loge sagte plötzlich:

»Ich habe genug!«

Er warf die Worte kurz und streng über die Schulter, Adjutanten eilten hinaus, um die Rückfahrt vorzubereiten; denn er hatte doch wohl vom Theater genug. Eugenie hielt sich still und sah vorsichtig von der Seite auf seine gelbe Maske mit dem roten Strich. Sie beachtete nicht einmal seine sehr ungewohnte Unhöflichkeit: sie nicht zu fragen, ob auch sie gehen wolle. Denn er hatte doch wohl vom Theater genug. Sie war zu klug, um sich einzubilden, dass sie ihn kenne, oder gar, dass es mit ihm ein leichtes Machen sei. Das Attentat auf den Frieden war möglicherweise geglückt, fürchtete sie.

Als der kaiserliche Wagen – es gab ihrer ja genug – sich in Bewegung setzte, reichte die Uniformmauer bereits bis zu den Tuilerien, auch der mitwehende Chor der Vivats. Rochefort hörte sie, es war der schlechte Lohn für sein qualvolles Warten neben der Laternen-Parade der ambulanten Grabhügelchen oder die Strafe für seine rebellische Ungläubigkeit und der Schlussstrich unter seine wilde, falsche Rechnung. Er verliess seinen Platz auf der Friseurladentreppe und ging nach Haus und haderte mit Gott.


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