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Genre Fatal

Der Versonnene liebte tiefe Sessel und ihre ausladende Ruhe, auch früher schon, als die Müdigkeit nur das ausgehängte Schild war, welches vor Störungen warnte und auf diese bequeme Weise sorgte, dass er insgeheim so wach sein könne, wie er wolle. Der Sessel war das listig verkleidete Bollwerk, gegen das er die Unruhe anlaufen liess, und wenn er einmal während des Angriffs aufstand, war es ein durchdachter Ausfall. Es standen viele Schutzsessel in seinem Leben, an allen möglichen Orten, auch bei den Frauen, die mit ihm verbunden waren; denn die Unruhe war hartnäckig hinter ihm her. Die Erfahrung brachte es mit sich, dass er der Frau, der er eine Wohnung einrichtete, das Polster-Fort in gültiger Beschaffenheit vorsorglich mitlieferte. Der Sessel, ausdrücklich für die persönliche Benützung bestimmt, wurde schliesslich zu einer Art morganatischer Legende, die bewirkte, dass die Auserwählte das Möbel, ohne seinen strategischen Sinn zu ahnen, wie einen verkappten Thron behandelte und nach des schönen Dienstes Ende als Reliquie.

Es gab nicht wenig solcher Devotional-Sessel, fromm verwaist, behütet und gestreichelt; denn es gehörte zu dem Zauber des einzigen Benützers, dass ihm die Frauen immer ein gutes Andenken und oft eine ganz verstiegene Art des Erinnerungskultes bewahrten. Doch es gab nur ganz wenige Cäsarsessel, die mehr bedeuteten als einen Erinnerungsträger im Privatmuseum des persönlichen Erlebnisses – Sessel von sozusagen historischer Bedeutung, wie jener im Besitz der einst berühmten, immer noch weizengelben Miss Howard, die vor zehn Jahren eine schlanke Klio war, eine wunderschöne, kleine Geschichtsgöttin von so eigenartiger Mitarbeit, dass heute kein Mensch mehr von ihr zu sprechen wagte, auch nicht die Eingeweihten, und dass sich nur ein zukünftiger Brandstifter wie der buckelstirnige Rochefort ihre diskrete Finanzierung des Cäsars zu merken hatte. Sie aber, heute nicht mehr so schön, nicht mehr so schlank, nicht mehr Klio in der Kulisse und niemals Josefine, wie es ihr kurzer, heftiger und sehr törichter Traum gewesen war – aber doch Gräfin mit einem schönen, französischen Namen, einem Schloss und fünf kaiserlichen Millionen (so grosszügig verzinste er die Einlage in sein Glück): sie aber starrte oft von ihrem musealen Empire-Bett, einer einst kostspieligen Kopie des berühmten und handlungsreichen Malmaison-Bettes der Josefine, auf den Cäsarsessel, der daneben stand, und dachte daran, wie er damals auf ihm sass, der schläfrige Staatsstreichler, der ihr den Eintritt in die sichtbare Historie verbot, sogar ins Elysée, aus dem er durch das symbolische Mauerpförtchen zu ihr zu schlüpfen pflegte, wie er sich an jenem Märzabend geduldig von ihrer Eifersucht auf die Andere, die Neue, die Rote, die Schönste, auf Eugenie quälen liess, wie er ihren Aufruhr gegen den Sessel anrennen liess und dann mit einemmal sanft und unerbittlich die Unruhe, die von ihr kam, abschüttelte: ihren Traum, ihren Anspruch, ihre Drohung und sie selber. Dann ging er. Auf dem Rauchtischchen blieben die Zigaretten zurück und ausserdem der Millionenscheck, den das Kaiserreich auf die Stunde einlöste – und es war nur die erste Ausschüttung des sonderbar gewissen Glücks gewesen. Der Sessel blieb zurück und die immer lieblichere Erinnerung, vom gelegentlichen Wiedersehen kaum verwirrt. Der liebe Kaiser liebte nicht die grobe Trennung; aber er war dann doch schon ganz entfernt, sozusagen nur ein lebendes Bild mit eigenhändiger Widmung, er war noch unnahbarer als damals auf dem Sessel; und nahe war er eigentlich nie gewesen.

 

Als jetzt der Versonnene in seinem Sondersessel bei der Castiglione sass und sich in Rauch hüllte, dachte er unversehens an den abschliessenden Abend mit Miss Howard und wusste warum. Die Requisiten waren die gleichen: Sessel, Rauchtischchen, Rauchwolke, ahnungslose Frau. Die dramaturgische Konstellation der Szene war nicht unähnlich, der Mann lächelte. Je älter man wird, desto enger werden die Kehren der Wiederholungen. Man wird schliesslich zum Bühnentechniker fataler Dialoge, man weiss ganz genau, zu genau den Schluss des Auftritts, wenn auch nicht des Aktes. Man beherrscht den Auftritt, die Klugheit beherrscht die Dummheit, aber im Finale ist man leider nicht mehr Autor, sondern nur noch Darsteller, den Schluss beherrscht die Vorsehung. Und nun pürscht man sich wieder einmal an sie heran, als alter Glücksjäger und Handlungsurheber, mittels der Szenentechnik.

Gewiss, der violette Stern sang keine englischen Kinderliedchen mit süssem, dünnem Kinderstimmchen wie Lizzy Howard und klimperte nicht mit unbegabten Fingern und dem kleinen Beilaut der zu langen Fingernägel auf dem Elfenbein der Tasten die simple Begleitung: und das war ihm angenehm gewesen, die Tönchen lullten ihn ein. Auch die laute Eifersucht, die den englischen Singsang ablöste, war sehr fremd der bösen Blume, die sich narzissisch in der eigenen Schönheit wiegte, gleichgültig gegen andere Frauen und stumm in der lasterhaften Sicherheit des Körpers. Der Stern glänzte gleichmässig, kalt und ziemlich langweilig. Es gab also Unterschiede zwischen dem englischen und dem florentiner Bild, nicht nur die der Haare. Aber es gab hier wie dort die Politik, den Anspruch und wohl auch den Traum. Bei der Howard wurde es schliesslich lästig und durch ihren etwas erpresserischen Hinweis auf jene geheimhistorische Assistenz ihres Bankkontos – noch dazu eines aus galanten Quellen gespeisten – nachgerade gefährlich. Bei der Castiglione war der politische Hinweis auf ihre Heimat zugleich rührend und komisch; denn sie verband ihn mit der Liebe, sogar mit der Ekstase, die bei ihr an und für sich schon unglaubwürdig war. Sie war also, wenn man will, uneigennütziger als die weizenblonde Einlegerin, und nicht die Unruhe selbst, sondern nur ein unzulängliches Instrument der Unruhe. Doch gerade das Mittelbare ihres politischen Anspruchs war mit einemmal das Bedenkliche und rechtzeitig Abzuschüttelnde geworden. Der Mann im Schutzsessel hatte sich die Frage vorgelegt, die neulich der Bruder, der verhängniswitternde, zur Debatte stellte. Bei einem Mordinstrument zum Beispiel kommt es nicht auf die Mangelhaftigkeit der Waffe, sondern auf den Vernichtungswillen an. Es bedarf keiner Höllenmaschine: auch eine Haarnadel kann töten, von höllischer Hand geführt.

Die Castiglione lag in einem lila Seidenhauch auf einem ganz niedrigen Sofa. Da sie trotz ihrer Neigung für ein Nichts an Kleidung leicht fror, pflegten ihre Räume überheizt zu sein. Schon das war ein Grund, dass er sich niemals ganz wohl bei ihr fühlte; denn er liebte Kühle. Die Castiglione, bereits bekannt als Schöpferin des »Genre fatal« innerhalb der Mode, eignete sich in einer Weise für die Darstellung der Judith, zum Beispiel auf einem Kostümball, dass es dem Szenengestalter in den ironischen Sinn kam, es ihr vorzuschlagen und sie auf diese vertrackte Art auf das politische Glatteis zu führen. Hätte er denn nötig, den Auftritt mit einer Angst zu motivieren, die gerade sie ihm nicht einflösste? Das war noch eine technische Frage. – Aber das Instrument, das noch so ungeeignete, das zu fürchten war? Nun, sie sah zu sehr nach Gefahr aus, sie war keine: aber schon die Allegorie, die aufzuführen sie in keinem Augenblick lassen konnte, erinnerte an Gefahr. Der Kaiser war nervös und wusste nicht warum.

Sie sprach wenig. Das war wiederum ihr Vorzug. Er konnte die Szene ziemlich ungestört fertig stellen und sie dann aufsagen. Sie sah ihn endlos an, glasschwarzen Blickes. Er spürte es nicht, es war wie der Blick der Wände ringsum, es störte nicht. Aber warum präparierte er sich so genau für eine ganz billige Szene, für eine aus dem Handgelenk zu schüttelnde, warum rüstete er so heftig gegen den schwächsten Gegner, warum begann er nicht? War es Trägheit oder der Druck der Zimmerhitze oder eben die Drucklosigkeit ihrer ahnungslosen Gegenwart? Die Howard damals griff doch wenigstens den Sessel an …

»Caro mio …«, sagte sie mit ihrer harten Stimme. Sie konnte nicht flüstern, in der Zärtlichkeit wurde sie heiser und erinnerte sie ihn an Eugenie, die so wenig zärtlich war wie sie und immer heiser, immer keusch. Die Castiglione war immer unkeusch, von heiserer, harter, kaltzermalmender Unzüchtigkeit. Warum nimmt er nicht das vollkommene und erbarmungslose Instrument ihres Körpers als Gefahr und als Widerpart, um endlich anzufangen?

»Caro mio …«, sagte sie, richtete sich auf, zog die Knie an, beugte sich vor, legte auf die Knie die flachverschränkten Hände, auf die Handrücken das Kinn und sah ihn von unten an, sehr dämonisch. Und der Seidenhauch hatte sich davongemacht, um das schlanke Bein der Griechengöttin zu zeigen, auch den Fuss, der in Sandalen aus weichem lila Leder steckte, damit man auch die Zehen sähe. Und so schön waren die Zehen, dass der liebhaberisch bildhauernde Oberintendant der Schönen Künste nur den Fuss modellieren wollte und dann schon glücklich wäre – er kannte also wenigstens schon die Zehen.

Der Kaiser lächelte müde und nicht angriffslustig. Er wusste, dass die gefügige Seide jetzt von den Amazonenschenkeln gleiten würde und gleichzeitig auch von den praxiteleischen Schultern, er war mit aller Art Denkmalsenthüllung vertraut, auch mit der blinkenden Anadyomene, die dann übrig blieb. Er kannte auch die drei Steigerungen ihrer liebkosenden Anrede, wenn die gern benutzten, kaiserlichen Titel nicht mehr am Platze waren; sie lauteten: Caro mio, carissimo mio und amore. Sie nannte ihn niemals beim Namen, jedenfalls aus Respekt, wohl auch, weil es schwierig war und hinderlich für die Liebe, Napoleon zu sagen. – Oh, es war nicht nur für die Liebe hinderlich, dachte Napoleon, jeder Zunge fiel es schwer, selbst der eigenen – das war noch das Nachwehen der alten Ungehörigkeit. – Caro, carissimo, amore: die Komparation gehörte nicht mehr in die Szene. Es war anzufangen höchste Zeit …

Doch die Seide lief nicht weiter, es geschah das Ungewöhnliche, dass die Hand ihr plötzlich nacheilte und sie wieder über die Knie streifte. Dann fragte die Castiglione: »Wissen Sie, Sire, oder wissen Sie nicht?«

»Was?«, fragte er verwirrt zurück.

Ihr Kinn lag auf den Händen, die die flüchtige Seide zusammenhielten, ihr Blick kam von unten, als genre fatal. Sie sagte: »Kurz und gut, bei mir war gestern Haussuchung.«

Er drückte sich noch tiefer in die Polster und rauchte heftig, um den gelinden Stoss der Überraschung schnell abzutun. Die Szene eröffnete sich mit einer unvorhergesehenen Variante. Es war im Augenblick noch nicht zu entscheiden, ob er den eigenmächtigen Urhebern – dem heimlichen Bruder und der unheimlichen Polizei, die beide sich verhängnisvoll zu entwickeln schienen – zürnen oder dankbar sein sollte. Er konnte dem unvermuteten Vorgriff jetzt auf einfache Weise die eigene Absicht als Nachgriff folgen lassen: aber wich er damit nicht schon vor dem ersten kühnen Schritt zur Nebenregierung und zur Palastrevolution zurück? Kam nicht plötzlich die Unruhe von einer ganz anderen Seite, mit dieser unglückseligen Dämonin nicht als Waffe, sondern als erstes Opfer? – Er meinte unbestimmt und mit einem vorsichtigen Lächeln: »Sollte man denn etwa Gründe gehabt haben …«

Auch sie lächelte jetzt, aber nicht vorsichtig, sondern wohlgefällig – wahrhaftig, sie lächelte geschmeichelt wie noch nie, und dabei stand ihrem melodramatischen Gesicht nicht einmal das Lächeln der dunklen Lockung, das sie zuweilen ausgab, eine unverbindliche Formel der professionellen Zauberei. Jetzt aber, mit dem verbindlichen Glücksglanz der neuen Wichtigkeit, war das Gesicht nichts als töricht.

»Man scheint nicht allzuviel gefunden zu haben«, sprach sie abgründig und stolz. Ach, sie wucherte mit ihrem dämonischen Pfündlein, wie es keine Intrigantin einer Wanderschmiere hätte zu spielen wagen dürfen. – Man sollte sie auspfeifen!, dachte er verzweifelt belustigt. Sie schilderte mit Genuss und geradezu farbig ihre grosse Szene: wie die Beamten erschienen seien, zu unanständig früher Stunde, und sie schlief natürlich noch, wie sie, kaum geweckt und schon geistesgegenwärtig, die Männer in die erste Beklemmung führen liess, in ihr Schlafzimmer, an ihr schwarzseidenes Bett, und auf ihren beklommenen Untersuchungswunsch mit dem hellsten »Aber gerne! – Aber bitte sehr!« antwortete und schon aufstand und betäubend dastand, im Hauch aus schwarzen Spitzen, und also die Betäubten durch die Räume führte und lässig und durchsichtig ihrer amtlichen Durchsicht beiwohnte, zugleich hilfreich und hemmend, masslos überlegen, sogar hochmütig, und keinen Augenblick doch merken lassend, wie heftig sie fror.

Was für eine Partnerin!, stöhnte er für sich und bekam die Augen nicht mehr auf, was soll man mit ihr anfangen? Grosser Gott, was für eine Gans! Und er sagte unfreundlich: »Ihre Zimmerhitze, Gina, hält die Nacht durch, ich weiss es leider aus Erfahrung, ich glaube, sie hält ewig. Man kann auch aus Angst frieren, aus schlechtem Gewissen.«

»Angst!«, rief sie und lachte sogar, löste sogar die Pose, die das Kinn, die Hände, die Seide und die Knie reizend verbunden hatte, warf die Arme in die Luft und tat nichts dagegen, dass die Seide eilig von ihnen abfloss und lieblich auch vom Busen um ein kleines abglitt, »Angst, caro mio! Wie passt das zu mir? Das kenne ich nicht – das werde ich auch niemals kennen lernen – ach, gutes Gewissen, schlechtes Gewissen, das kenne ich auch nicht, ich habe vielleicht gar kein Gewissen, carissimo: ich habe ganz einfach gefroren, weil mir kalt war, weil ich nichts anhatte und du nicht da warst, mich zu wärmen, amore …«

Jetzt stöhnte er vernehmlich, trommelte böse mit den Fingern auf die Armlehne und hatte mit dem Drang zu kämpfen, ihr zu sagen, was er dachte – ihr laut und abschliessend zu sagen: Gina, Sie sind eine Gans! Auch das wäre eine Abschüttelung gewesen, wenngleich eine extemporierte und ungewöhnlich derbe, und sie widerstrebte seiner höflichen Art, auch der Unruhe, die von der anderen Seite kam. »So viel Mut, liebe Gina«, meinte er verbissen, »und solche Gewissenlosigkeit rechtfertigen ja beinahe die Massnahmen …« »Aber man hat nichts gefunden!«, triumphierte sie.

»Aber Gina, Sie bestätigen ja geradezu den Verdacht, der schon geraume Zeit auf Ihnen lastet: dass Sie nämlich die Agentin einer ausländischen Macht sind.«

»Ich bin keine Agentin«, sprach sie wie eine Königin, »eine Agentin steht im Sold, ich werde nicht bezahlt …« Hier nun lächelte der Kaiser, es gluckste sogar das Lachen durch die Nase, und da sie missverstand, rief sie in schönem Zorn: »Ich bin eine Patriotin!«

»In Passy?«

»Ja, hier und überall – wo Sie mich haben wollen, Sire!«

»Ich will Sie ja beileibe nicht patriotisch haben, Gina, viel lieber in Sold …«

»Ich aber will haben, Sire, dass Sie an mein Land denken, wenn Sie an mich denken, an sein Unglück, wenn Sie mit mir glücklich sind, und es lieben wie mich!«

»Armes Gleichnis«, sprach Napoleon leise, beinahe freundlich, von so viel Harmlosigkeit entwaffnet, »armes Land!«

Was sollte aus dieser gänzlich verfahrenen Szene werden? Die Frau gefiel sich immer mehr, und der sonderbar träge Mann verwunderte sich über seine mitleidige Geduld. Warum stand er nicht auf und ging ins Bett oder nach Hause? Vielleicht, weil es einen Grad von inbrünstiger Torheit gibt, ein so bemühtes Bild des verkehrten Daseins, dass man sitzen bleiben muss, um nicht unnötig weh zu tun. Sie sprach so viel wie noch nie – lauter grosse, dumme Worte, die Seide floh und wurde wieder eingeholt, ein Rhythmus schliesslich. Ihre Gestikulation liess ihn an eine grosse Tragödin denken, an die grösste, an Rachel, die ihm einmal nahe stand und jetzt die noble Ausnahme in seines Vetters Plonplon kommunen Neigungen darstellte – er dachte an eine Achtundvierziger Karikatur (sie lag im Geheimschrank, Fach: Pamphlete), die sehr witzig zeigte, wie die Diva dem Diktator den Cäsar einstudierte, und ihre mächtige Geste glich ein wenig der castiglioneschen: wie falsch aber!, wie klug und wahrhaftig im Wandel der Gestalten muss eine grosse Schauspielerin sein, wie klug und einfach ist die grosse Rachel, die zugleich zarte und wilde Frau, – ein wenig zu klug für die Liebe und dennoch immer durstig nach ihr, und so erfahren in der Darstellung der Leidenschaft, dass sie Scheu trug vor sich selber und in den Mitteln immer sparsamer wurde, auf ergreifende Art aus Sicherheit unsicher; denn ihr Leben war durch die Schau-Stellung angegriffen, durch und durch geknetet, zu heftig belichtet, es liess ihr keine heimliche Zelle mehr, und das war schmerzlich auch für den, den sie liebte, – sie fühlte es am schmerzlichsten – und selbst ihr Gesicht war schon zu viel angesehen, zu heftig belastet von den Schaustücken, darunter brach sie zusammen, die Unglückliche und Kranke.

Er blinzelte durch den Rauch auf das harmlos törichte, unleidlich leidlose Aufspiel der schlechten Spielerin. Schluss, Schluss, und sei es die abgespielte Komparation! Worauf wartete er?

Die Szene wurde nicht abgeschlossen, sie wurde unterbrochen, durch eine neue, äusserst überraschende, überaus kühne Variante.

Draussen fiel ein Schuss.

Es knallte empörend durch die Nachtstille des ländlichen Vorortes. Indessen, warum sollte es nächtens nicht in Passy schiessen? Nicht weit war der Bois de Boulogne, alte Stätte für Selbstmörder, oder ein Mann schoss auf eine Frau oder, bist du sehr optimistisch, ein aufgestörter Concierge schoss auf herrenloses Getier. So mag der oder jener Anwohner denken, der jetzt aus dem Schlaf fuhr. Aber der Cäsaren schauriges Vorrecht ist es, jeden Schuss auf sich zu beziehen.

Der Kaiser sprang auf, und weil er die Frau anstarrte, entsetzt und böse, nicht weil sie der Schuss über den Schock des Knalls hinaus erschreckte, sprang auch sie auf.

»Was bedeutet das?«, schrie er, unbeherrscht wie noch nie, und seine Augenlider gingen unaufhörlich auf und ab.

»Aber wie soll ich das wissen?«, flüsterte sie heiser, so erschreckte er sie.

Er sah sich im Zimmer um, als habe er es noch nie gesehen. Seine rechte Hand, die sonst nur hinter dem Rücken ihre Fingertriller spielte oder mit Daumen und Zeigefinger die befremdliche Bewegung des Geldzählens machte, war jetzt mit flackernden Fingern ratlos angehoben, wie Ruhe heischend oder Aufschluss suchend. »So läuten Sie doch!«, herrschte er sie an.

»Aber es ist doch niemand auf!«, klagte sie, »es ist doch der ausdrückliche Wunsch Eurer Majestät …«

Die Finger schnitten heftig aufflackernd ihre Rede ab. Beide lauschten. Es rührte sich nichts mehr. Die Nachtstille war so tief und unerschüttert, dass es der Frau recht unsinnig schien, dazustehn und auf das Nichts zu lauschen. Warum sollte es einmal nachts nicht schiessen? – Sie sah zu ihm hin. Seine Hand war abgesunken, die Finger waren ruhig geworden, auch die Augen. Sie gingen ganz langsam auf und zu, dann blieben sie geschlossen. Aber der Mund war etwas offen und das Gesicht fremd; denn man sah seine Zähne, die er selten zeigte. Er hatte hässliche und schlechte Zähne und viel Gold im Mund. Sein amerikanischer Zahnarzt spielte im Ärztestab des Hofes eine grosse Rolle. Sie sah ihn betroffen an. Er lauschte immer noch, geschlossenen Auges und blinkenden Mundes, mit losem Kinn. Selbst seine schöne Stirn war angestrengt gefaltet und wie verschoben. Sie fand zum ersten Mal, dass er hässlich sei.

Plötzlich ging er aus dem Zimmer, ohne ein Wort, ohne eine Bewegung zu ihr hin. Sie hatte nicht einmal gesehen, dass er die Augen geöffnet und den Mund geschlossen hatte. Er ging, als sei sie nicht da. Er ging, als hätte er an sie vergessen. Wie kann man an eine kaum verhüllte Griechengöttin vergessen, deren Zehen schon die Bildhauer nicht schlafen liessen? Das Modell stand starr wie ein Steinbild. Die hastigen Schritte des Kaisers, eben noch vom Korridor deutlich wiedergegeben, vergingen schon auf dem dicken Treppenläufer. Vielleicht erkundigt er sich nur wegen dieses dummen Schusses und wird gleich zurückkommen, – dass sich ein Kaiser von irgend einem Strassenknall stören lässt wie eine Köchin! – vielleicht aber …

Jetzt erst lief sie ihm nach. Aber im Treppenhaus traf sie ein kalter Luftzug, sie fuhr zurück und kehrte um. Auch die Hingabe der Dämonie hat Grenzen. Unten fiel eine Tür ins Schloss.

 

Der Kriminalkommissar Griscelli, Leibwächter des Kaisers bei seinen inoffiziellen Ausflügen, stand im Vorgarten der kleinen Villa; denn er besass den Schlüssel zum Gartentor, aber nicht zur Haustür. Er meldete ohne Aufregung, er habe ein verdächtiges Individuum bei dem Versuch angetroffen, das Gartengitter zu überklettern, und dem Davonlaufenden, der nach dreimaligem Anruf nicht stand, einen Schuss nachgeschickt, einen Fehlschuss offenbar; denn der Mann, mittelgross, ohne Mantel, mit Mütze, sei in Richtung Boulevard de l'Empereur verschwunden; er, Griscelli, sei dann in den Vorgarten eingetreten, um ihn abzupatrouillieren und das Haustor zu bewachen; da jetzt die Majestät schon erschienen sei, habe er nur gehorsamst zu bitten, die paar Meter von der Gartentür zum Wagen im Laufschritt zurückzulegen; die Rückfahrt erfolge natürlich nicht via Boulevard-Seinequai, wie sonst, sondern mit nördlichem Umweg über den Rond-Point.

Der Rapport war dem Inhalt nach beunruhigend, in der Form aber beruhigend. Die kalte Nachtluft und die vollkommene Nachtruhe nahmen von Kopf und Brust den Druck. Es war neblig; der Schein der Blendlaterne, die der Beamte trug, zerfloss in milchigen Schwaden, ein nacktes Bäumchen in seinem Licht löste sich undeutlich auf, kein Umriss war von Bestand, der gute Nebel verhüllte alles, auch das gefährdete Leben, der Kaiser war in seinem Element. Der Geheimagent nahm die Laterne in die andere Hand; dabei sah man, dass er eine Pistole hielt. Zurecht besehen passt der Nebel zur Pistole wie die Faust aufs Auge. Im Nebel ist es schlecht schiessen, aber gut denken, scharf denken: der befreite Kopf dachte nirgends besser und schärfer. Man hatte die Angst los; aber man hatte es gegen ein anderes Gefühl eingetauscht: dass nämlich etwas nicht stimmte. Zurecht besehen war es kein Tausch, sondern nur die Blosslegung eines Gefühls, das schon geraume Zeit drinnen mit ihm im Schutzsessel sass. Die Unstimmigkeit gehörte nicht zum törichten Mädchen, sondern zur Szenenvariante, die weder von ihm noch von der Partnerin stammte, sondern von aussen. Die Unruhe kam von aussen, wie der Schuss. Zum Schuss gehörte der Schütze, der Schütze gehörte zum Korps jener unberufenen Mitarbeiter, die den Theatercoup der Haussuchung erfunden hatten. Zurecht besehen, war er nicht aus der Unruhe hinaus, sondern in sie hineingelaufen: Unstimmigkeit herrschte schon zwischen Inhalt und Form des Rapports.

»Griscelli«, befahl der Kaiser, »leuchten Sie in Ihr Gesicht.«

Die Laterne zögerte; dann hob sie sich langsam, ihr Schein glitt wie verwundert oder auch wie prüfend über das Antlitz des Befehlenden, ein ungewöhnlich waches und spähendes, ein ungewohntes Antlitz, fegte über das Segment des brauenden Nebels und hielt schliesslich auf dem Gesicht des Gehorchenden, ein übernächtiges, nebelnasses, zugleich geblendet blinzelndes und angestrengt gesteiftes Gesicht unter dem tropfenden Hutrand. »Wiederholen Sie jetzt den Bericht über den Vorfall«, befahl der Kaiser.

Es mag gleich schwierig sein, aus langer und unverletzter Nacht heraus in eine Blendlaterne hineinzusprechen wie in sie hineinzusehen. Es flatterten nicht nur die geblendeten Augen, sondern auch die geblendeten Lippen; das Weiss der Zähne und der Augen, das Schwarz des borstigen Bärtchens und der borstigen Brauen traten miteinander in eine sonderbare Verbindung des unruhigen Gebarens vor dem Licht. Selbst der Hand fiel es schwer, das Gerät der Selbstbelichtung zu halten – im Verhältnis zum geblendeten Blick und geblendeten Wort eine recht einfache Aufgabe, sollte man meinen. »Ein Individuum, ein verdächtiges …«, stotterte der Geheimagent und kam schon ins Keuchen; sowohl die Laternenhand als auch die Pistolenhand kamen ins Schwingen, man sah im heftigen Schaukelspiel des Lichtes auf unheimlich flüchtige Weise, dass auch die Pistole wie bemüht schien, sich auf das inquirierte Gesicht einzustellen, so als sei sie eine zweite Lichtquelle.

Der Kaiser nahm ihm die Laterne ab und sagte: »Stecken Sie das Pistol ein und nehmen Sie sich zusammen.« Das eine war leicht getan, das andere nicht; denn jetzt ruhte die Laterne in einer peinlich festen Hand, und das Licht lag auf dem Gesicht wie festgeklebt und klebte die Augen zu und auch den Mund. »Schade«, meinte der Kaiser, »wenn auch den Umständen nach verständlich. Aber können Sie wenigstens noch hören, poverino?« Der Kopf im Licht nickte blind und stumm. »Stand der Wagen vor dem Portal wie immer?« Der Kopf nickte. »Finden Sie dann nicht, mein Freund, dass die Verwegenheit des Individuums geradezu wahnwitzig ist: angesichts und in unmittelbarer Nachbarschaft eines doppeltbemannten Wagens seine Kletterversuche zu machen?« Der Kopf nickte. »Zum zweiten, Griscelli. Der Wagen steht wie immer in Richtung Boulevard, nicht wahr? – Gut. Das Coupé hat wohl den schnellsten englischen Traber, der in Paris läuft, nicht wahr? – Gut. Finden Sie es dann nicht eine vollkommen unerklärliche Unterlassungssünde, mit einem solchen Gefährt dem Flüchtenden nicht nachzujagen und ihn, sei er auch Schnelläufer von Beruf, in einer halben Minute zu stellen?« Der Kopf nickte und rechts und links aus den schwarzen Favoris lief ein dicker Tropfen über die Backen, so nass war die Nacht oder so heiss machte das Licht. »Dann sind wir uns ja einig«, schloss der Kaiser freundlich das Verhör, löste die Lichtpein von dem gequälten Gesicht und schritt hinter der Laterne zum Gartentor.

»Laufschritt …«, flehte hinter ihm der Geheimagent mit ganz hoffnungsloser, immer noch geblendeter Stimme. Doch der Kaiser hörte nicht auf den lahmen Versuch, die schwer mitgenommene Gefahr neu zu beleben: er ging ruhigen Schrittes durch das Tor, das er selber öffnete, zum wartenden Wagen und verschmähte es sogar, der Strasse das geringste Misstrauen zu schenken und die Laterne seitlich zu lenken. Der Geheimagent schloss hinter sich die eiserne Gartentür, er schlug sie zu, da er erregt war, und der Knall, ein vertrauter Lärm, drang bis zu Anadyomenes Schlafzimmer, obgleich es an der Rückfront des Hauses lag.

Jetzt erst?, dachte sie verwundert; was hat er so lange gemacht? Vielleicht hat er so lange geschwankt, ob er nicht doch zu mir zurückkommen solle – ach, er liebt mich doch! Und sie löschte das Licht aus.

Der Geheimagent war zum Wagen gesprungen, im Laufschritt wenigstens er, und hatte den Schlag aufgerissen, ganz undeutlich murmelnd: »Schnell, Majestät, schnell …«

Nein, der Kaiser machte nicht schnell, ach, er blieb stehen, lenkte die fatale Laterne gegen den Kutscher, der blinzelnd salutierte, und fragte freundlich: »Jean, haben Sie Ihre Rolle gut gelernt oder soll ich Sie lieber nicht abhören, nun?«

Der Kutscher sah nicht zur Seite, er sah genau zwischen die nervösen Ohren des Trabers und murmelte: »Majestät halten zu Gnaden …«

»Wissen Sie auch, dass Sie mit derlei Ihre Stellung riskieren? Ich verstehe Sie nicht, Jean.«

Die seidige Fahne des weissen, sehr gepflegten Backenbartes kam in Bewegung, der Mund kaute heftig, und schliesslich sagte Jean, unverrückbar geradeaus schauend: »Majestät, ich weiss von nichts.«

»Dann ist es ja gut«, sprach der Kaiser; aber es war noch nicht gut, das Laternenlicht hing noch am armen Kutscher, seine Rechte im weissen Stulphandschuh hing noch salutierend am Hutrand, der Geheimpolizist hing noch erbarmungswürdig am offenen Schlag: und jetzt kam noch der Befehl, ein betäubender Befehl: »Fahren Sie sofort zum Polizeipräsidium, auf dem kürzesten Weg.« Die Laterne wanderte endlich in Griscellis Hand zurück, der Kaiser stieg endlich ein, der Geheimagent kletterte auf den Bock, seine Zähne klapperten.

Das Erste Büro des secrétariat particulier der Polizeipräfektur, das überaus wichtige und unübertreffliche, politische Zentralbüro, das auch die Verantwortung für die Sicherheit der kaiserlichen Person trug, kannte keine Nachtruhe. Es war auch nicht nötig, den Chef der Geheimpolizei aus dem Bett zu holen. Der ausgezeichnete Beamte tat noch Dienst. Es schien sogar, als ob gerade in seinen Räumen ein besonderes Leben herrsche. Im Vorzimmer standen drei Kriminalkommissare in Hut und Mantel; sie sahen nicht aus, als wäre ihr Werk getan; sie standen offenbar bereit, es zu beginnen. Einer von ihnen hatte eine Reisetasche neben sich auf dem Boden. Als der Kaiser erschien, hinter sich den blassen und nebelnassen Griscelli, flogen die Hüte von den Köpfen und die Gesichter erstarrten. Herr Hyrvoix, der ausgezeichnete Chef, sah so aus, wie sich Kinder einen guten Onkel vorstellen. Er hatte ein feistes, rotes Gesicht, einen weissen Imperial und einen Bauch. Er trug die Gutmütigkeit so dick aufgetragen, dass man nichts sah als sie und so etwas wie ein ständiges Staunen über das eigene gute Herz: das gehörte zu seinen bemerkenswerten, kriminalistischen Gaben. Mit seiner Gutmütigkeit narkotisierte er auch den Teufel, wenn es hätte sein müssen.

Herr Hyrvoix erhob sich und verbeugte sich, wobei er die Hände auf die Schreibtischplatte stützte. Er sah aus wie ein erfreuter Onkel, der gerne überrascht, aber selber nicht überrascht werden kann, auch nicht durch diesen erstaunlichen Besuch, oder im besten Falle, aus Gutmütigkeit, nur so tut, als sei er auf das Angenehmste überrumpelt. Er schaute herzlich und gemütlich auf seinen allerhöchsten Herrn und schien, da er selber noch auf war, auch die Stunde nicht ungewöhnlich zu finden. Der Kaiser reichte ihm freundlich die Hand. Hier kamen zwei Gutmütige zusammen. »Sie wissen doch schon«, meinte Napoleon harmlos. Der Onkel, die Hände auf der Tischplatte, wusste im Augenblick leider nicht, was zu wissen sei. »Ach natürlich«, lächelte der Kaiser, »ich bin schon so gewöhnt, Sie für allwissend zu halten … – Also, lieber Griscelli, sagen Sie Ihren Rapport auf.«

Der vielgeprüfte Geheimagent begann wieder die böse Geschichte vom verdächtigen Individuum, eine mühselige Geschichte; denn sie kostete ihn wieder Schweiss, auch ohne Scheinwerfer. Der Onkel hörte freundlich zu, sein Gesicht glänzte vor Gutmütigkeit, seine Hände stützten sich auf die Tischplatte, auf der allerlei Papiere lagen, beschriebene und unbeschriebene – und obwohl seine Hände fest auf den Papieren lagen, schob sich ganz langsam, ganz langsam ein grosser, weisser, leerer Bogen über die anderen.

Der Kaiser sass schläfrig in einem grünen Plüschsessel, den hohen Hut tief in der Stirn, Haarbüschel über den Ohren, den Pelzmantel nur aufgeknöpft, und rauchte. »Sie haben doch den Schuss gehört«, warf er ein. Der Onkel bezweifelte humorig die Möglichkeit: von der Cité bis Passy? Man sässe hier doch etwas zu weit vom Schuss, Majestät. – »Ach natürlich«, lächelte der Kaiser, »ich bin schon so gewöhnt, Sie für allhörig zu halten …«

Hier waren zwei Spassvögel beisammen; und als der leichenbitterliche Dritte, der Geheimagent, seinen Spruch aufgesagt hatte, mit Hängen und Würgen, hob Herr Hyrvoix das strahlende Gesicht und sagte herzlich: »Da müsste man doch wohl, möchte mir scheinen, ein bisschen Vorsicht und nicht allzuviel Nachsicht walten lassen, Majestät.«

»Ein bisschen Vorsicht und nicht allzuviel Nachsicht«, wiederholte der Kaiser, »vortrefflich! – Aber zuvor auch noch ein bisschen Nachsicht. Der Kommissar Griscelli wird von dem persönlichen Dienst entbunden, nicht etwa wegen des fehlgegangenen Schusses, sondern aus Rücksicht auf seine offenbar beschädigte Konstitution, wie es sich heute nacht sogar in gewissen Sprachstörungen zeigte – er wird, unter Beförderung zum Hauptkommissar und nach einem kurzen Erholungsurlaub, zur Dienstleistung ins Zweite Büro versetzt, Abteilung: Theaterüberwachung.«

»Sehr wohl, Majestät«, sagte Herr Hyrvoix und strahlte den Beförderten an, recht wie ein gebefreudiger Onkel. Herr Griscelli dagegen hatte sich zu fassen noch einige Mühe und schien mit dem Geschenk noch nichts Rechtes anfangen zu können. Er schaute nicht auf, immer noch wie geblendet.

»Und da die Vorsicht«, fuhr der Kaiser fort, »nach Ihrem eigenen Vorschlag eine neue Bedeutung gewinnt, bestimme ich zur persönlichen Dienstleistung den Chef des Geheimdienstes selber, und das bleiben Sie, Herr Hyrvoix.«

»Sehr wohl, Majestät«, sagte Herr Hyrvoix schwer von Gutmütigkeit, fast sogar ein wenig bedrückt.

»Und jetzt«, sprach der Souverän und schlug mit den flachen Händen auf die Lehne, den Kopf hebend, »jetzt ist es aus mit der Nachsicht: jetzt zeigen Sie mir bitte den Akt Castiglione.«

»Den Akt … ja, den Akt Castiglione …«, wiederholte Herr Hyrvoix freundlich versonnen, blickte mit gewinnendem Ausdruck den Kaiser an und dann den grossen Aktenschrank und war doch mit den Händen an die Schreibtischplatte festgeklebt; »sehr wohl, Majestät, wird zusammengestellt, wird vormittags Punkt halb zehn Eurer Majestät vorgelegt …«

»Wird jetzt vorgelegt, Herr Hyrvoix!«

»Natürlich jetzt, gewiss, Majestät – nur ist unglücklicherweise der Registrator …«

»Vielleicht finden Sie den Akt auf Ihrem Schreibtisch, Herr Hyrvoix.«

»Auf meinem Schreibtisch …«, wiederholte der Kriminalchef mit Herzlichkeit; und nicht sein wohlwollendes Gesicht, sondern seine eben noch festgeklebten Hände überfiel mit einemmal eine heftige Nervosität, eine Such-Nervosität: sie stöberten so hastig und auch ungeschickt durch die Papiere, dass ein grosses Durcheinander entstand, ein Sturm durch die Papiere, und es schliesslich nicht verwunderlich war, dass einige Blätter vom Tisch gefegt wurden. Herr Griscelli lief zur Hilfe.

»Halt!«, sagte der Kaiser, »halt, meine Herren, ich werde Ihnen helfen.« Er stand auf, der Geheimagent wich bis an die Wand zurück, der Kriminalchef hielt gutmütigen Gesichts die papierene Verwirrung mit den Händen fest, als könne jeden Augenblick ein boshafter Zugwind von neuem losbrechen, und mit dem Stiefel trat er auf die heruntergefegten Blätter.

»Herr Hyrvoix«, sagte der Kaiser, »gehen Sie bitte vom Schreibtisch fort.«

Der Freundliche zögerte, lächelnd, festgeklebt.

»Herr Hyrvoix, gehen Sie vom Schreibtisch fort!«

Herr Hyrvoix ging, und das amtliche Folio-Blatt unter seiner Sohle, das mit ihm gehen sollte, flog boshafterweise vor die Füsse des Kaisers, der sich bückte und es aufhob, ein überaus loyaler Monarch. Er betrachtete es, lächelte liebenswürdig und setzte sich an den Schreibtisch.

»Wie recht ich hatte!«, meinte er; »es war doch keine leere Schmeichelei vorhin, Herr Hyrvoix, Sie sehen alles, Sie hören alles, Sie wissen alles – und dass Sie ein solches Dokument Ihrer Ausserordentlichkeit wie diesen Ausweisungsbefehl mit Füssen treten wollen, ist denn nun doch zu grosse Bescheidenheit. Man soll das Wunderbare nach Gebühr bewundern. Die Castiglione soll also ausgewiesen werden: ›wegen Verdachts der Teilnahme an dem Komplottversuch gegen Seine Majestät in der Nacht vom 7. zum 8. Januar 1858 vor dem von der Inkulpatin bewohnten Haus Nr. 3 der Rue St. Pierre zu Passy, XVI. Arrondissement‹. Das ist bewundernswert, Herr Hyrvoix. Sie jonglieren mit Zeit und Raum und mit den Gesetzen der Kausalität, wie es selbst der liebe Gott zu tun vermeidet, um uns das Leben nicht noch wunderbarer zu machen. Sie aber sind schlechthin ein Magier, Herr [Hyrvoix], ein Schwarzkünstler, und früher hätte man Sie dafür verbrannt.«

Der Kaiser sah nicht auf, während er sprach, sondern sammelte die verstreuten Blätter, ordnete mit flinker Hand die Verwirrung und las. Herr Hyrvoix stand in einiger Entfernung; sein rotes Gesicht, sein immer röteres Gesicht troff von Gutmütigkeit, und er musste ein grosses, blaues Taschentuch ziehen. Herr Griscelli stand viel weiter zurück an der Wand, und sein bleiches Gesicht blinkte immer noch von der nassen Nebelnacht.

»Wie heisst der Beamte im Vorzimmer mit dem Köfferchen?«, wollte der Lesende wissen.

Das besondere Klima dieser Nacht, das schweisstreibende und sprachstörende, hinderte sogar Herrn Hyrvoix an der Antwort, an der sinnvollen zum mindesten; denn er murmelte nur: »Sehr wohl, Majestät …«

»Hier steht«, sagte der Lesende, »das Kommissar Poulet beordert ist, die Dame an die Grenze zu begleiten. Öffnen Sie die Tür zum Vorzimmer, Griscelli. – Kommissar Poulet!« Der Mann trat in die Tür, in der einen Hand das Köfferchen, in der anderen den Hut, aktionsbereit. »Gehen Sie mit dem Köfferchen nach Hause, Herr Poulet, aus Rücksicht auf die Poulette. Ihre Kollegen dürfen auch schlafen gehen.« Der Beamte ging, die Tür schloss sich. »Sie haben es unheimlich eilig, Herr Hyrvoix, oder so sehr den Zeitbegriff verloren, dass dabei auch Ihr Anstandsgefühl zum Teufel gegangen zu sein scheint. Man schiesst doch eine Dame nicht zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett, aus dem Haus, aus Paris. Sie sind ein unanständiger Magier, Herr Hyrvoix.« – Er las aufmerksam weiter, Seite um Seite. Im Büro wäre es ganz still gewesen, wenn der Kriminalchef hätte leise atmen können; aber das konnte er nicht, er schien an leichtem Herzasthma zu leiden. »Hier stehen ziemlich oft zwei Chiffern«, sagte der Lesende. »Was das grosse N bedeutet, weiss ich einigermassen, sozusagen aus Erfahrung. Dass aber statt des grossen M, welches ich in diesem Zusammenhang allenfalls noch begreifen könnte, ein grosses E zu finden ist oder gar: ›Insinuation E‹, bereitet mir arge Verlegenheit. Wer um Gottes willen mag E sein, das insinuierende E?«

Der Kaiser sah auf. Herr Hyrvoix lächelte ihn an wie ein Onkel, der so gut dem Leben ist, dass er sogar noch lächelt, wenn ihn der Schlag bedroht. Er lächelte sehr roten Gesichts und bedrohten Atems. Der Kaiser stand auf und zerriss den Ausweisungsbefehl. »So tüchtig Sie sind, lieber Freund, so vor der Zeit vorschnell und vorlaut: Sie kommen doch zu spät. Die Dame ist nämlich schon ausgewiesen und darf dennoch in ihrem Bett weiter schlafen. Sparen Sie sich also bitte jede weitere Mühe, Hyrvoix. Sie werden die Castiglione fortan in Ruhe lassen. Ich tue es nämlich auch.«

 

Einige Tage später – am Sonntag, der folgte – erschien der Oberintendant der Schönen Künste bei der Castiglione, im doppelten Auftrag, wie er sagte: im Auftrag des Kaisers und des eigenen Herzens. Er überbrachte ein Billet und ein Kleinod. In dem Billet stand: »Liebe Gina, ich schicke Ihnen den Bildhauer für Ihre schönen Füsse und einen Smaragd für Ihre schönen Hände – keinen Amethyst, einen Smaragd, dass er die Dämonie beschwöre; denn Sie sind ja so gefährlich, Madame, auch wenn die Politik jetzt überflüssig werden sollte. Ich hoffe, Sie hin und wieder zu sehen, und sehe auch aus der Entfernung Ihre Schönheit, so gross ist sie.«

»Ist das der Abschied?«, fragte sie und hatte ein tragisches Gesicht.

»Nicchia, ich liebe Sie«, sagte der Oberintendant.

»Er hat Angst vor mir«, sagte sie düster und etwas grausam, »alle haben Angst vor mir …« Der Oberintendant versicherte, dass er mit Lust in sein Verderben renne.

»Ich bin zu gefährlich«, flüsterte sie, vor sich selber erschauernd, und erzählte flüsternd die Geschichte von der Haussuchung, die er schon kannte; dann weinte sie ein wenig und klagte: »Mein armes Land …« Der Oberintendant aber bewies ihr, dass sein Einfluss über die schönen Künste hinaus bis zur grossen Politik reiche. Und schliesslich war es beinahe so, als sei es nur ein Auftrag gewesen: der seines Herzens, und als gehöre der Smaragd dazu, ein Stein von ungewöhnlicher Schönheit und Grösse. Denn der Mann erntete den Dank, der mehr war als ein Botenlohn.

 

An diesem Vormittag erschien in den Tuilerien der berühmte Polizeipräfekt von Paris, Herr Pierre Pietri, kein Onkel, ein etwas finsterer Korse. Der Kaiser schätzte ihn, weil er auf eine nüchterne und zuverlässige Art anhänglich war, schon seit der Zubereitung der Präsidentschaft – er schätzte die ganze Familie, es gab etliche Pietris in der Umgebung des Thrones, und einer von ihnen, Antomarchi Pietri, im Sekretariat der Kaiserin, war ein Jugendfreund des Hassers Rochefort und seine einzige Verbindung mit dem Hof. Aber das wusste Napoleon nicht, und wüsste er es auch: wer war damals Rochefort? Nur Morny ahnte, wer er war, und seine beiden Schützlinge: der hurtige Theaterdirektor und Komponist Offenbach, der ihn sich gelegentlich mittels einer Librettobestellung kaufen, und der beinahe schon grosse Chefredakteur Villemessant, der ihn gelegentlich für seinen »Figaro« erwerben wird.

Der Kaiser, im Arbeitszimmersessel sitzend, hob überrascht den Kopf. Was will Pierre Pietri, kein Antichambrist, von ihm am Sonntag? Der Polizeipräfekt brachte eine Depesche des französischen Ministers in Brüssel vom gleichen Tag, von diesem 10. Januar: einer der gefährlichsten italienischen Anarchisten, namens Pieri, sei mit einem, vielleicht auch mit mehreren Komplizen von Brüssel nach Paris gefahren; Komplottgefahr.

»Schon wieder!«, sagte der Kaiser gelangweilt.

Das Signalement dieses Pieri sei bekannt, sagte der Polizeipräfekt, er sei 1852 ausgewiesen worden.

»Na also«, sagte der Kaiser, »dann verhaften Sie ihn, wenn er da ist.«

»Sire«, meinte Pietri; »bagatellisieren Sie die Gefahr nicht.«

»Das tat bisher Ihre Geheimpolizei«, sagte der Kaiser unmutig. »Was soll ich denn tun, mein Lieber? Noch mehr oder noch weniger Angst haben als ich habe?«

Der Freund Conneau kam und meldete, dass die Rachel gestorben sei, an ihrer Lungentuberkulose. – Ich habe doch noch kürzlich an sie gedacht, sann der Kaiser.

Es war ein bedrückender Tag. Der kalte, niedrige Januarhimmel bedrückte das Leben. Der Kaiser hielt den stillen, kleinen Sohn auf dem Schoss und legte seine Stirn auf das weiche Kinderhaar, das nach Spanisch Wasser roch. Vielleicht war sein Kopf zu schwer, vielleicht bedrückte er das Kind; denn Loulou begann zu weinen, ganz gegen seine Gewohnheit.


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