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Der Salut

Einundzwanzig Schuss bedeuten eine kaiserliche Prinzessin, hundertundein Schuss den kaiserlichen Prinzen, das wusste jedes Kind. Es kam also auf den zweiundzwanzigsten Schuss an. Als die Kanone vom Invalidenhotel zu krachen begann, war es drei Uhr nachts. Die Stadt schlief; sie hatte noch ein paar Stunden Ruhe, bis die tägliche Armee der Spitzhacke in sie einmarschierte. Aber sie wartete auf dieses Wecken, das sie anging; denn Eugenie war die Wehschwester und die Schrittmacherin auf der Glücksstrasse. Die Stadt zweifelte nicht am Wecken und kaum am zweiundzwanzigsten Schuss. Was wäre es für ein Cäsar, der das Glück dekretierte, wahrlich nicht wehleidig, sondern wehtuend, und es nicht selber hätte!

Wir haben Glück!

Ein alter, bedeutsamer Herr, der sich mit dem Schlaf ohnedies nicht mehr recht vertrug, zählte vom ersten Schuss an mit. Sein grossartiger Kopf war viel geliebt worden, sein glattes Leben – merkwürdig nur, weil es ein störungssüchtiges und wandelbares Halbsäkulum beinahe respektvoll in Ruhe liess – hatte er dem vielgeliebten Kopf zu verdanken, nichts anderem. Dieser schöne, alte Herr de Flahaut wurde schon General und Graf unter dem ersten Kaiser, und als der Kriegsgott unterging und seine Kreaturen mit ihm, wurde er ins sanfte Ausland hinübergeliebt und zum schottischen Granden hinaufgeheiratet; und wie die Zeit verging und mit ihr zwei restaurierte Könige von Frankreich, aber nicht seine Liebenswürdigkeit, glitt er sanft gestreichelt ins Julikönigtum zurück, ein General, ein Pair, ein Botschafter; und wie die Zeit verging, die Revolution kam, der neue Cäsar und sogar das Alter, wurde der Liebenswerte ein besonders bedeutsamer Greis: wegen der Beziehung seines alten Glückes zum neuen Glück. Die Beziehung war diskret, die Bedeutung also auch, man kannte sie, schätzte sie, aber sprach sie nicht aus; der angenehme Abend dieses angenehmen Lebens war von einer sanften Diskretion, so schön, dass die liebe Welt nur noch flüsterte: denn der schöne, alte Herr hörte schlecht. Es war so ziemlich sein einziges Gebrechen; aber da er sehr verwöhnt vom Leben war, belud er nicht sich damit, sondern die liebe Welt. Man flüsterte um ihn herum, äusserst respektvoll, manchmal unhörbar. Man flüsterte von seiner Bedeutung und von der Beziehung. Ein diskreter Sohn Talleyrands zu sein, war von Bedeutung: man vermittelte die väterliche Liebenswürdigkeit, die man selber besass, und das väterliche Genie, das man nicht besass oder dessen man nicht teilhaftig zu werden brauchte (dafür war man schön), und natürlich auch das väterliche Glück, das glatte Glück, wieder dem eigenen diskreten Sohn. Und so ist dieser Sohn: der grosse Morny, genannt der Vicekaiser. Warum soll man ihn nicht so nennen? Wer die Mutter war, weiss jedes Kind.

Die Diskretion, die um drei Generationen als sanfte Aureole spielte – und er, Flahaut, war die beziehungsreiche Mitte – und die jetzt gemach die äussere Welt abdichtete und unhörbar machte, erlaubte ihm, Flahaut, mit seinem vielgeliebten Leben umzugehen wie mit einem grossen und reichen Bilderbuch. Er konnte darin blättern, ganz für sich, ungestört und dennoch ehrfürchtig umflüstert: das war der Sieg und der Lohn eines meisterlich diskreten Daseins. Er konnte darin lesen, unterstützt von einem unverbrauchten und gleichsam spezialisierten Gedächtnis, und auf jeder Seite seine heimliche Bedeutung feststellen, sein zugleich angenehmes und wichtiges Erlebnis mit der Beziehung zu den drei Fällen der Zeit: zur Vatervergangenheit, zur selbstsicheren Gegenwart und zur Zukunft des Sohnes. Jetzt ist er alt und der Sohn die Gegenwart. Der Sohn ist der Bruder des Kaisers und das Alter Ego des Kaiserreichs. Es gab gar ein Flüstern um ihn, den Vater, das die Wirksamkeit und Wichtigkeit des Sohnes der cäsarischen gleichsetzte und das die Summe der geistigen und körperlichen Eigenschaften vielleicht noch zu Gunsten des Sohnes errechnete. Aber Flahaut war schwerhörig, und das Flüstern kam manchmal aus ihm selber; so lächelte er diskret und ganz für sich anzüglich. Er konnte es sich leisten.

Da die Gefahr bestand, dass selbst die Invalidenkanone ihm gegenüber Diskretion übte und er die Schüsse überhörte, hatte er seinen Kammerdiener ins Schlafzimmer kommandiert und ans offene Fenster gesetzt, eingehüllt in einen mächtigen Kutscherpelz und mit der ausserordentlichen Erlaubnis versehen, gräfliche Zigarren rauchen zu dürfen, um der Schlaflust zu widerstehen. Der alte Herr lag in seinem breiten, guten Bett, leise lächelnd, frei von Müdigkeit, voll von Bildern und seinen Schusszähler im Auge. Denn diese Schüsse waren ihm wichtig, dieses Kaiserreich ging ihn an, aus väterlichen Gründen – oh, nicht allein aus väterlichen Gründen. Denn er war ja der Generaladjutant der Königin von Holland gewesen, der geliebte Generaladjutant der Hortense, der Kaisermutter, der Mutter seines Vicekaisers. Er wusste alles, er wusste, was die Flüsterer nicht zu flüstern wagten – und von der Mutter seines Sohnes flüsterte alle Welt. Aber vom Vater des Kaisers? – Der schöne, alte Herr lächelte ganz für sich und rief in tückischen Abständen: »Jean!« Und Jean am Fenster hatte laut zu antworten: »Jawohl, Herr Graf!« Das war, um den Schusszähler wach zu halten. Und dieser alte Jean war es doch, zu dem vor langer, langer Zeit, als Hortense den neuen Cäsar trug, der gekrönte Cocu von Holland kam und den er böse fragte, wo der Oberst Flahaut in den letzten drei Monaten gewesen sei. Aber er, Flahaut, war damals noch nicht der Generaladjutant gewesen, er war im Juli und August 1807 nicht bei ihr in Cauterets gewesen, er nicht, sondern der Admiral Verhuell, holländischer Gesandter in Paris, ein gelbhäutiger Mann mit grosser Nase und schläfrigen Augen …

Der alte Herr Flahaut lächelte vergnügt und rief: »Jean!« Und Jean antwortete befehlsgemäss: »Jawohl, Herr Graf!«

Der bedeutungsvolle Greis nickte in sich hinein. Wer in dieser wunderbar vergesslichen Stadt konnte so wie er, mit einem sicheren Griff ins Bilderbuch des sanftbunten Lebens, das Gleichnis und die Beziehung zum Kanonensalut des Kaisererbes herstellen? Wer konnte heute noch vom Glück des zweiten Kaiserreichs zum Glück des ersten Kaiserreichs zurückgelangen, allein durch seine überbrückende und verbindende Person? Wer schliesslich ausser ihm konnte wagen, solches Glück anzüglich zu vergleichen? Da sass damals, auch an einem Märztag – und beinahe wollte es die anzügliche Historie, dass es der gleiche Märztag war – die Königin Hortense in ihrem Wagen und wartete auf einem Hof der Tuilerien auf die Schüsse; und neben ihr sass er, der geliebte Generaladjutant, und er duldete höflich ihre böse Laune; denn er wusste, was sie litt und was sie hoffte. Sie litt für ihren dreijährigen Louis, weil die erwarteten Schüsse ihn um das grosse Erbe bringen konnten, und sie hoffte, dass es mit der jungen Österreicherin im Schloss nicht gut ginge oder dass es doch nur einundzwanzig Mal schösse, nicht für den König von Rom. Sie wartete und wartete und war hässlich zu ihm, dem Geliebten, und offenbarte ihm auf hässliche Art ein grosses, ein betäubendes Geheimnis, und er schwieg diskret und beklommen. Es war ein peinlicher Morgen – heute ist es eine beinahe wohlige Nacht: und endlich schoss es.

Endlich schiesst es. Jean springt auf und zählt mit; und da die Gefahr besteht, dass der alte Herr diese oder jene Zahl überhört, zählt er auf die sichtlichste Art mit den Fingern mit, befehlsgemäss. Der alte Herr zählt zur Kontrolle mit, bequem nach den deutlich vorgewiesenen Fingern Jeans. Und damals zählte Hortense mit, rote Flecken im Gesicht, ihr Mund ging im Schussrhythmus auf und zu, ihre Augen, die berühmten, grossen Augen, waren ohne Beherrschung böse. Es schiesst und schiesst, es schoss und schoss.

»Zweiundzwanzig!«, brüllt Jean aus Leibeskräften, befehlsgemäss. Der alte Herr Flahaut lächelte diskret.

»Zweiundzwanzig!«, schrie damals Hortense. Sie schrie so laut, dass der Geliebte zusammenfuhr. Und dann geschah es zum ersten und eigentlich auch zum letzten Mal, dass das Leben ihn schlug. Hortense schlug ihn ins Gesicht. Sie schlug ihn nach dem Takt der Schüsse. Er hielt es aus, die Königin trug ein Kind von ihm. Er konnte es aushalten; denn die Schüsse und die Schläge galten einem König von Rom, der nur ein unglücklicher, kleiner, österreichischer Kavalier und Moribundus wurde. Das Kind aber, das enterbte Kind Louis, für das sie litt und schlug, ist Kaiser geworden, und das Kind, das sie trug, sein Kind ist Vicekaiser geworden.

Der schöne, alte Herr Flahaut lächelte weise. Jean konnte gehen und bekam die Kiste Zigarren geschenkt. Es schoss und schoss.

Was braucht man sich, als alter Mann, um die Zukunft Neugeborener zu sorgen, wenn sie die Gegenwart wunderbar bestätigt? Die Gegenwart ist sein Sohn, das Kaiserreich. Es ist mit hundertein Schuss gestärkt. Das reicht für eine gute Weile seines Lebens.

»Ich habe Glück«, sagte der Greis zu sich und löschte das Licht aus.


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