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Heimstätten

Als der Krieg vorüber war, hatte der Kommerzienrat Schnürpel eine Idee: Ein großes Kurhaus für Kriegsmüde. Kriegsmüde mit Geld natürlich. Ein befreundeter Psychiater hatte ihn darauf gebracht: »Ich versichere Ihnen, Herr Kommerzienrat, die Psychosen haben zugenommen. Nein, nicht die der Kämpfer draußen. Bei denen überwiegt Gesundung. Aber bei den Kämpfern drinnen –«

»Ah, Sie meinen Leidbetroffene, Herr Doktor?«

»Ach nee, Kriegsprofitler mein' ich, Herr Kommerzienrat. Sie glauben gar nicht, wie nervös es macht, die dicken Kriegsprofite durch die dünnen Paragraphendrähte der Gesetze – huschdibusch und hastdunichtgesehen – ungeschoren in den Frieden durchzuschleifen. Es gelingt ja schließlich mit Schmiegsamkeit und Seitensprüngen, und was an den Paragraphendrähten von Profiten hängen blieb, ist nicht der Rede wert. Aber das wissen Sie ja besser, Herr Kommerzienrat –«

»Herr Doktor, ich muß bitten –«

»Sehen Sie, da haben wir's: Nerven bleiben hängen. Vor dem Kriege konnten Sie mit Ihren wundervollen Nerven jeden Spaß verstehen – jetzt hängen sie –«

»Herr Doktor, ich muß wieder bitten!«

»– ›sie‹ klein geschrieben, mein' ich – jetzt hängen Nerven an den Drähten – es wird eine Massenkur einsetzen müssen nach dem Kriege –«

»Man wird sie lockern müssen, Doktor.«

»Die Nerven, meinen Sie?«

»Nein, den Draht.« Kommerzienrat Schnürpel machte eine leichte geldauszahlende Gebärde.

Dann ging er hin, gründete eine große Kurhausgesellschaft und nannte sie »Germania«. Und darauf hatte er die zweite Idee: Nach Ostpreußen damit, möglichst in eine von den Russen besetzt gewesene Landschaft. Das mußte ziehen. Gerade bei den besseren Kreisen.

Und endlich die dritte Idee, die er nicht mal mehr zu haben brauchte, die von selbst kam: Dort hinten war das Land ja noch unsinnig billig, und wenn man sich da tüchtig für private Rechnung Grund dazu kaufte, der durch das Kurhaus steigen würde – dreifach, fünffach, zehnfach …

*

Die kleine ostpreußische Gemeinde war nicht rosig dran. Zweimal geräumt, zweimal die Russen, zweimal tastende Rückkehr der Bewohner, immer die zögernde Hand am Pflug und den unrastig gewordenen Blick nach Osten – da kommen auch die Halme zögernd und dünnlich zu der Ernte. Da schneite ein Brief des Kommerzienrats Schnürpel in die Bürgermeisterei. Eine Viertelstunde später schneite der Bürgermeister selber in das kleine Seehaus des Majors Hasch. Das war ein verhutzeltes pensioniertes Männchen aus dem Siebziger Krieg. Der hatte sich hier niedergelassen. Noch immer fraß er einen Narren an der Gegend, wie sie sagten. Zum Vorstand des Gemeinderates hatten sie ihn gemacht. Sie hätten keinen finden können, der seine Wahlheimat mehr liebte.

»Herr Major, Herr Major, sie wollen uns ein Kurhaus bauen!«

»Das sollen sie hübsch bleiben lassen, Herr Bürgermeister!«

»Aber sie zahlen bar. Geld kommt in die Gemeinde. Sie kann es brauchen, Herr Major, Sie wissen es.«

»Ich weiß, daß die Städter nichts umsonst hergeben.«

»Sie zahlen für den Gemeindegrund am See –«

»Es ist die einzige Allmend, die der Gemeinde blieb, Herr Bürgermeister.«

»Aber wenn wir die Hälfte unserer Schulden damit abbezahlen können – das werden Sie doch nicht verhindern können – das werden Sie doch nicht verhindern wollen, Herr Major …«

»Und man sagt, daß seit dem letzten Russeneinfall dort ein Massengrab –«

»Ja, ich weiß – eine aufgeriebene deutsche Kompagnie – aber wohl nur eine Sage – niemand hat sie finden können, Herr Major.«

»Ich gebe zu, es ist nicht sicher, Herr Bürgermeister, aber –«

»Aber das angebotene Geld ist sicher, bombensicher, tilgt außerdem die Hälfte unserer Schulden, so daß ein Mann wie Sie, der nur das Beste der Gemeinde will …

*

Die Gemeindesitzung war recht stürmisch, trotzdem sie alle einig waren, bis auf den kleinen verhutzelten Major aus dem Siebziger Krieg. Der focht mit den Armen, der hielt eine Rede: »… und ich kann nicht glauben, daß ihr eurer Väter freien Grund und Boden –«

Darauf stand der eingeladene Kommerzienrat Schnürpel aus dem verräucherten Ehrensessel auf und erhöhte im Namen der Kurhausgesellschaft Germania sein Gebot um ein paar pralle Tausender.

»Aber wenn Ihr bedenkt, daß wir später selbst einmal den alten Seegrund nötig brauchen könnten –«

Darauf stand der Kommerzienrat Schnürpel zum zweitenmal aus dem Ehrensessel auf und erhöhte im Namen der Kurhausgesellschaft Germania sein Gebot um ein paar pralle Tausender.

»Freunde, stellt euch vor, die schlafende Kompagnie da drunten wachte auf, erführe, ihr hättet für Geld ihre ewige Heimstätte über ihrem Kopf verkauft – diese selben Köpfe, die mit Russenblei durchbohrt sind, weil sie euch den Boden verteidigten, euren Boden –«

Im Ehrengastsessel bewegte sich's nervös. Einige Gemeinderäte begannen bedenklich zu nicken. Voran, alter Siebziger, weiter aufgerissen ihre Herzensbresche – deine schneidigste Attacke reite für den Durchbruch!

»Freunde, was ihr tun wollt, ist nicht ehrlich!«

»Oho, oho!« Die senkrecht zu nicken angefangen, waren wieder wagrecht in das Schütteln eingeglitten.

»Unehrlich, sag' ich: die Allmend ist schon verkauft. Die sie kauften, haben sie zuhöchst bezahlt. Mit seinem Blute hat sich ein jeder da drunten sein schmales Gelaß erkauft –«

Der Ehrensessel war umgefallen: »Meine Herren, der Herr Major ist ein Ehrenmann – Hut ab vor ihm – er ist mehr als das – sogar ein bißchen Dichter ist er – Dichter dürfen unbewiesene Dinge sagen – kühl denkende, verantwortliche Gemeinderäte aber, wie Sie, meine Herren – na, meine Herren, ich bin kein Redner – um die Sache kurz zu machen: im Namen der Kurhausgesellschaft Germania verdopple – verstehen Sie, verdopple ich mein Angebot …«

Der alte Major sah sich im dunklen Saale um, mit einem Blick: er und seine Kompagnie, seine unterirdische Kompagnie, hatten verspielt.

*

Kommerzienrat Schnürpel ging aufs Ganze. Eine Woche später trat er schnurstracks in das Häuschen seines Widersachers: »Nichts für ungut, Herr Major, daß ich es wage –«

»Einen Unterlegenen zu besuchen, ist kein Wagnis. Sie wünschen?«

»Sie!«

»Mich?«

»Die Waffen haben gegen Sie entschieden. Seien Sie vernünftig. Werden Sie der Unsere, Sie sollen's nicht bereuen, Herr Major.«

»Nicht bereuen?« Nur einen Augenblick lang war der alte Haudegen unsicher, bevor er grimmig sagte: »Aha, wieviel?«

Jetzt wurde der andere unsicher: Teufel, begriff der schnell! Na, desto bester: »Herr Major, wir sind nicht kleinlich; wir wissen, daß es mit dem Gemeindebeschluß noch nicht getan ist, es wird noch manche Schwierigkeiten geben, bevor der Kurhausgrund niet- und nagelfest verbrieft ist.«

»Sie meinen den Landrat, der den Ratsbeschluß bestätigen muß?«

»Nicht nur den. Wir wissen, daß der Gemeinde inzwischen angesonnen wurde, Kriegerheimstätten zu errichten.«

»Ja, auf der Allmend.«

»So daß ihr also nicht nur kein Geld bekämt, sondern womöglich selber welches geben sollt.«

»Man sagt uns, Heimstätten seien die beste Anlage für die Kraft und Sitte eines Volkes.«

»Ja, das sagt man. Aber die Kosten! Woher das Geld?«

»Man sagt uns, Heimstätten würden nicht mit Geld gebaut.«

»Haha, ein guter Witz! Womit denn sonst?«

»Mit Stein und Holz und Arbeitshänden, lauter Dinge, die wir hätten. Reichlich sagt man.«

»Ja, fast so reichlich wie Schulden.«

»Und man sagt uns ferner, es sei unsere Pflicht, deutsche Kriegerhände auf eigener Scholle wieder kräftig, deutsche Kriegerherzen in eigenen Heimen wieder freudig werden zu lassen.«

»Die übliche Deklamation. Dennoch haben wir Verständnis – es soll uns auf 'n paar Tausender nicht ankommen – für Kriegerheimstätten anderswo, wenn nur das Kurhaus Germania auf der Allmend –«

»Man sagt uns ferner, daß die Kriegsbeschädigten in unserer eigenen Gemeinde in erster Linie auf diese Heimstätten Anspruch –«

»Man sagt, man sagt – Herr Major, was sagt man nicht alles, wenn der Tag lang ist. Wir sagen nichts, wir handeln jetzt.«

»Ja ich weiß – mit mir.«

Herr Schnürpel sah das verwitterte Soldatengesicht mißtrauisch au. Aber dann wagte er es doch: »Herr Major, alles in der Welt hat seinen Geldwert; glauben Sie einem Praktiker: wer's leugnet, dem hat man einfach nicht genug geboten. Ich mache den Fehler nicht. Ich bin beauftragt, Ihnen, wenn Sie uns unterstützen, fünf Prozent unserer Aktien gratis zu überlassen – Herr Major, das sind Hunderttausende von Mark!«

Es war heraus. Das Pulver war verschossen. Gespannt blickte der gewiegte Geschäftsmann auf das steinern gewordene verschrumpelte Majorsgesicht. Es blieb unbewegt, es brauste nicht auf? Gott sei Dank, die Sache war auf gutem Wege.

»Herr Major, lieber Herr Major, wenn ich Ihr Schweigen recht deute –«

»Kennen Sie die Allmend?« Es klang sehr ruhig.

»Kennen? Gewiß doch, ich weiß, sie hat eine wundervolle Lage, sie ist ungemein für unsere Zwecke geeignet, nach dem Urteil unserer Sachverständigen und –«

»Sie sollten sich doch selbst ein Urteil bilden, Herr Kommerzienrat. Kommen Sie mit. Ich führe Sie.«

»Meinetwegen, lieber Herr Major, wenn ich auch um diese Zeit meinen Mittagsschlaf gewohnt bin – man verkneift sich so was schwer. Aber eins, Herr Major: Und wenn sie noch so schön ist, mehr als fünf Aktienprozent kann ich in unserer entscheidenden Generalversammlung unter keinen Umständen für Sie –«

»Kommen Sie, kommen Sie!«

Draußen war Ostpreußen. Es hatte auf sie gewartet, auf den einen so und auf den anderen anders. Es hatte eine Rechnung glatt zu machen, eine Heimstättenrechnung. Es hätte gleich den Fingerknöchel auf die Rechnung drücken können: »Zahlen, bitte!« Aber es ließ sich Zeit. So ein Land hat immer Zeit und haftet nicht, es läßt die anderen haften, in es hinein. Dazu kam, es hatte die Rechnung irgendwo verlegt, in einer Wiese, einem Walde, irgendeinem Moor. Nun gut, die beiden mochten sie sich holen – es war eine Bringschuld –; der Major wird dafür sorgen, der ließ nicht eher luck, der war zäh, wie dieses Land, und hatte Zeit, wie dieses Land.

Herr Schnürpel mußte heftig schnaufen. Der gute Greifschritt des Majors setzte sich ihm in Getrippel um, in atemloses. Jetzt blieb der Major stehen. Er stand auf einer Anhöhe. Deren breiter Rücken lag wie ein ungeheures schlafendes Walroß über dem Land. Die Schlafdecken dunkler Moore hatte es zurückgeschoben. Hundertjährige Waldgitter umsäumten seine Bettstatt. Zwei Seen schlugen in der Ferne ihre ruhevollen Augen auf – die Augen einer Mutter, die jenseit der Bettstatt ihres Walroßkindes wachte: Schlaf, Kindlein, schlaf …

Wie der alte Major so dastand, floß er in die träumerische Landschaft ein, ein Stück von ihr. Schnürpels zappelnde Stadtgestalt blieb ihr fremd. Auf einer dunkelglühenden Herdplatte tanzt ein dicker Wassertropfen, der sich nicht mit ihr vermählen kann, mit dem sie hin und wieder werfend Fangball spielt, bis sie ihn verdunstet hat in nichts, den Schnürpel.

»Herr Major, Sie rennen schrecklich!« keuchte er.

Der Major wies stumm auf das friedevolle Landschaftsbild. Wildenten flogen auf, ein Schnepfenschwarm kreuzte senkrecht ihren Flug, ein Hirsch schrie, ein Fuchs am Fuß des Walroßrückens hob den Vorderfuß und blieb so horchend –

»Ja, ja, entzückend, ganz entzückend,« haspelte der Kommerzienrat, »exzellent geeignet für das Kurhaus. Die Nerven möcht' ich sehen, die wir hier nicht wieder auf die Höhe brächten. Gestörte Nerven und Ostpreußen werden eine Zwangsverbindung eingehen – allen Aerzten wird es auf der Zunge liegen müssen – wir werden dafür sorgen: ›Nervös, Verehrter? Ei, da ist das neue Kurhaus Germania in Ostpreußen …‹ – Major, Major, es wird sich zahlen – prachtvoll zahlen! Sie werden Ihre Freude an Ihren drei Prozent Gratisaktien haben – oder sagt' ich fünfe?«

»Fünf, Herr Kommerzienrat. So viel ich Finger an der rechten Hand hier habe. Fünf braucht eine Hand, damit sie kräftig fasten kann, ganz fest, unentwischbar, Herr Kommerzienrat.«

Schnürpel hörte gar nicht hin. Er umfaßte liebevoll den schweren trächtigen Himmel dieser Landschaft und hatte ihn in einen fruchtbaren Dividendenhimmel umgedeutet: »Major, ich lass' mich hängen,« murmelte er entzückt, »wenn wir nicht schon im zweiten Jahre zwanzig Prozent Dividende von unsern Kurhausaktien herunterschneiden können, und im fünften Jahre fünfzig.«

Die langen Spinnenbeine an dem kleinen Majorkörper webten schon wieder den Hügel hinunter.

Stoßweise mußte Schnürpel hinter ihm die Aktienzukunft weiterweben: »Und fünfzig ist erst die Germaniadividende, Herr Major; denn was mich allein betrifft – unter uns, Herr Major –: die um das Kurhaus liegenden Grundstücke habe ich mir persönlich sichern können. Das Kurhaus kann nicht schnaufen ohne mich. Na, ich bin nicht so, ich lass' die Schnüre nach und nach schon locker; mit hundert Prozent Aufschlag gebe ich das Umland her – ich bitte Sie, hundert Prozent ist nicht mal viel! – ich könnte Ihnen da Terrainfälle von Berlin erzählen, Bombenfälle, sag' ich Ihnen!«

Wie in einem Schraubgewinde hatte sich der Majorskopf im Schreiten langsam zurückgedreht: »Fälle mit gefallenen Heimstätten, Herr Kommerzienrat?« sagte er langsam.

Aber der hörte noch immer nur sich selbst: »… und Sie meinen wohl, daß ich den eigenen Boden glatt an die Germania verkaufen wolle? Nee, Verehrter, solcher Stümper bin ich nicht, das wird mit dem Aufschlag in 'ne Tochtergesellschaft eingebracht. Die Tochter der Germania ist 'n gesundes Kind, Herr Major, hahaha – wetten wir, daß sie gedeiht? Baupläne legen wir ihr um das stramme Mieder an, sein gedeichselte Baupläne mit Fluchtlinien, Vorgartenlinien – hol' mich der Henker, wenn das nicht die höchstbezahlteste Villenkolonie für bessere Stände gibt! Wenn das Ding mal erst in Mode ist, so können Sie den Kubikmeter ostpreußische Luft über den Villen glatt mitberechnen. Da klettert einer am anderen mit den Preisen in die Höhe – kenn das – hab's mehr als einmal mitgemacht. Na, mit einem Wort, die Tochter der Germania wird sich zu 'ner Goldgrube auswachsen, sag' ich Ihnen! Ich bin natürlich erstbeteiligt und schneide mir den besten Happen von der Tochter … Aber was rede ich da alles? Die Terraintechnik werden Sie doch kaum verstehen – die höhere Terraintechnik, meine ich natürlich! Hören Sie mal, alter Krieger, Sie rennen ganz abscheulich – hundemüde haben Sie mich jetzt schon gemacht – und in einer Stunde geht mein Zug – ich wollt', ich säße drinnen – was tu' ich eigentlich hier draußen? Ihr Einverständnis, uns zu unterstützen, hab' ich doch schon, nicht wahr – mündlich, selbstverständlich – solche Dinge werden nicht geschrieben – auch unsere Gegenleistung mit den Gratisaktien nicht – so was geht nur Zug um Zug und mit 'n bißchen Augenblinzeln – Sie verstehen, Herr Major: »Diskretion gegeben und verlangt', wie es in den Hochzeitsinseraten heißt. Hochzeit, sag' ich? Na, Major, Sie soll'n mal sehen, wenn die Germania mit der Tochter Hochzeit macht – mit der Terraintochter, die ich am Bändel halte, am Dividendenbändel. Wenn's in dieser Generalversammlung nicht Champagner gibt, so heiß ich Hans und – und – Herr Major, Herr Major, Sie rennen ja verrückt – ich – ich kann nicht mehr – nee, nee, lassen Sie mich – ich muß hier rasten, sonst fall' ich um!«

Wieder drehte sich der Majorskopf langsam zurück, wie in einem Schraubgewinde: »Herr Kommerzienrat, ich wollte Ihnen noch die Stelle zeigen, wo ich vermute, daß die gefallene Kompagnie beim zweiten Russeneinfall ein Massengrab –«

»Lassen Sie mich zufrieden mit dem Massengrab! Ich will rasten, sonst schlaf' ich noch im Gehen ein und –«

»Aber Sie wollen doch das Massengrab mitkaufen und haben ein Recht darauf, sich die gekaufte, tote Kompagnie auch anzusehen. Ihre Kompagnie, Ihre Ehrenkompagnie, Herr Kommerzienrat, und –«

»Ach was, gestohlen kann sie mir werden, wenn ich jetzt nicht auf der Stelle –« Er warf sich im Laufen auf eine Moosbank.

Der vorausgeeilte Major war stehengeblieben und betrachtete von ferne mit einem unverwandten Gesicht den Mann auf der Moosbank, wie er erst ausgepumpt dalag mit aufgestütztem Kopf, wie dann dieser Kopf allmählich aus der stützenden Handfläche glitt, sich noch einmal, zweimal mechanisch aufzurichten suchte und endlich selber schwer aufs Moos sank.

Herr Schnürpel schlief.

Der Major trat leise näher, setzte sich vor ihm auf einen Baumstumpf. Magnetisch war sein Blick geworden. Nicht aus den Augen ließ er den Schlafenden. Mit rätselhaften Handbewegungen hämmerte er dem auf der Moosbank die Gedanken in den Schlaf: »Du willst nicht zu der abgekauften Kompagnie?« murmelte er, »na warte, dann soll die Kompagnie zu dir …«

Vom Moor her kam ein langgezogenes Klagetrommeln der Rohrdommel. Der Major griff nach den Tönen und webte sie mit einem eigenen Muster in den Schlaf. Aufschaufelnde Bewegungen machten jetzt die Hände des Majors nach der Ferne. Das Moor in der Ferne wölbte sich, blähte sich, machte weit auf ein Massengrab zum Auszug einer Kompagnie aus ihren Moorheimstätten. Noch einmal griffen des Majors Hände nach und tiefer: Elentiere aus der Vorzeit schaufelte er mit herauf. Mit breitschaufeligen Geweihen zogen sie daher im Gleichschritt mit der toten Kompagnie. Der Major streckte den Zeigefinger nach dem Mooshügel: »Dahinein,« sagte er, »in seinen Traum!«

Schnürpel stöhnte auf im Traum.

Der Major horchte hin, entzifferte den Seufzer. » Ein Prozent,« sagte er langsam, abrechnend, und faltete das Traumgewebe ein wenig auseinander …

Unterm Vorsitz Schnürpels tagte die siebente Generalversammlung der Germania und die dritte ihrer Tochtergesellschaft. Merkwürdigerweise unter freiem Himmel. »… und da unser verehrtes Aufsichtratsmitglied, Major Hasch, der uns so viele Wege ebnete, diesmal darauf bestanden hat, daß die Generalversammlung auf diesem äußersten Moorzipfel unseres aufgeschlossenen Villenterrains stattfinden soll, von dem die vaterländische Sage geht, daß unter seinem Schoß beim zweiten Russeneinfall eine ganze deutsche Kompagnie …« Die Begrüßungsrede klang in ein Hoch aus. »Hoch, Germania!« klappte ein Großaktionär lachend nach, »und nun zur Sache, Herr Kommerzienrat!«

»Zur Sache habe ich Ihnen die freudige Mitteilung zu machen, daß die Germania diesmal in der außerordentlichen Lage ist, an Dividende –«

» Ein Prozent,« sagte langsam, abrechnend, der Major am Aufsichtsratstisch. Gelächter.

»Haha, ein Prozent – unser verehrter Herr Major macht einen guten Witz, meine Herren –; gestatten Sie, daß ich ihn mit hundert multipliziere – jawohl, meine Herren, hundert Prozent Dividende kann die Germania in diesem Jahre verteilen –«

»Bravo – bravo – hurra, Germania – hoch, Schnürpel …!«

»– verteilen, dank unserer auserwählten Lage, dank ferner dem ungewöhnlich billigen Einstandspreis, und dank schließlich dem ungemeinen Andrang des erholungsuchenden Publikums zu diesem privilegierten historischen Ostpreußenfleck, was uns gestattete, auch unsere Patienten exklusiv zu wählen und die Preise so anzusetzen, daß –«

»Bscht, die Presse – die Berichterstattung!«

»Gut. Und ferner kann ich mitteilen, daß unsere Tochtergesellschaft, das Terrainunternehmen, diesmal imstande ist, eine Dividende von –«

» Zwei Prozent,« sagte langsam, abrechnend, der Major am Aufsichtsratstisch. Wieder Gelächter.

»Haha, zwei Prozent ist gut – unser Herr Major bleibt witzig – aber an der Zwei ist doch was Wahres, insofern, als unsere Tochtergesellschaft diesmal in der Tat zwei Dinge zu verteilen hat – einmal die seit Jahren gewohnte feste Dividende und zum anderen einen Extrabonus in Gestalt eines zweifach gratis zurückbezahlten Aktienkapitals mit der Aussicht, im nächsten Jahre –«

Schnürpel konnte nicht weitersprechen. Die Aktionärversammlung umwogte ihn mit solch lautem Beifall, daß darin alles ertrank. Nach und nach konnte seine Stimme wieder durchdringen: »Meine Herren, ich nehme ihren Dank gerne an und bitte Sie, einen Teil desselben auf die Schultern unsers verehrten Herrn Majors übertragen zu dürfen, der unermüdlich die Interessengruppen unserer Gesellschaft durch alle lokalen Schwierigkeiten so geführt hat, daß –«

»Bravo, der Major – bravo! Wo ist der Major?«

»Er ist fortgegangen – da hinüber ins Moor. Ja, ja, er sagt, er hätte versprochen, jemand zu holen. Da kommt er den Hügel herauf – was sind das für eine Menge Leute, die er bei sich hat? – und was für sonderbare Tiere traben nebenher? Nun, ich muß sagen, eine Generalversammlung ist doch keine Zirkusschau. Den Major und seine Eigenschaften in allen Ehren, aber ich finde, Herr Kommerzienrat, daß zunächst die geschäftsordnungsmäßigen Regularien unserer Generalversammlung –«

» Drei Prozent!« rollte es den Hügel herauf.

Es war der kleine verschrumpelte Major an der Spitze der toten Kompagnie. Wie ein langer dünner Faden zog sie herauf. Das andere Ende schien bis an die beiden stillen Seen zu reichen, die Mutteraugen hinterm tannenvergitterten Bettstatthügel, »Schlaf, Kindlein, schlaf …« Die ersten der Kompagnie waren schon da oben angekommen, und noch immer schien es in der Ferne aus dem See zu steigen.

Die Aktionäre rieben sich verstört die Augen. Wie seltsam diese grauen Leute starrten, und wie sie aussahen! Erde, Ostpreußenerde in den gebrochenen Kleiderfalten, Erde in den kriegszerzausten Bärten, Erde über schlaferwachten schweren Augenlidern. Mancher stöhnte, mancher hinkte, mancher schleppte sich. Stumm umringten sie die Aktionärversammlung auf einen Wink des Majors, lieber ihre Köpfe weg sahen die Elentiere aus der Vorzeit her.

Das glanzgebügelte Gesicht Schnürpels war kreideweiß geworden vor Aerger: »Herr Major, nun ist's genug! Was wollen Sie mit diesen Leuten, diesen Tieren?«

» Vier Prozent!« Es sollte wie ein Scherz klingen. Aber es war ein grausamer Klang darin.

»Vier Prozent? Erklären Sie sich deutlicher oder –«

Ein Großaktionär schnellte auf: »Ich beantrage den Ausschluß dieser – dieser gemischten Gesellschaft, die nicht eingeladen ist und keinerlei Rechte an unsere Gesellschaften geltend machen kann!«

»Rechte?!« Der alte Major war auf den Tisch gesprungen. Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten wild. Einen Rundblick warf er auf die Moore, auf die Seen, auf die Tannengürtel, sog Kraft daraus und Ruhe und sagte: »Die tote Kompagnie hat Rechte, wenn sie auch nicht reden kann. Nach den Russenkugeln haben sie das Schweigen angelobt. Mich haben sie gewählt zu reden. Ich vertrete ihre Rechte.«

»Wenn Sie nicht in der Lage sein sollten, solche mit Urkunden zu belegen, so –«

»Urkunden? Ganze Kompagnie, hoch die Urkunden!«

Die Gesichter der Kompagnie hoben sich. Die Aktionäre zuckten zusammen. Was für Gesichter! – die Schlacht war drüberhingestampft, die große Russenschlacht. Zertretene Stirnen und erloschene Augen, zerstörte Wangen und verrenkte Kiefern, und nur eins bei allen ungebrochen: der Nacken, Germaniens Nacken.

»Wenn diese Urkunden nicht genügen sollten, so kann ich sie verstärken lassen. Kameraden, hoch die Gewehre!«

Verbogen und verrostet hoben sich Gewehre und hingen ohne Zittern in der Luft. Die Angst schrie aus den Reihen der Versammlung. Großaktionäre duckten sich mit verzerrten Gesichtern. Ein kleiner Aktionär fing an zu beten.

Wie ein Lächeln ging es über des Majors Gesicht: »Keine Angst, verehrte Herren, die Gewehre tun nichts mehr, so lange bleibt im Moor kein Pulver trocken. Wir haben anderes Pulver, die Versammlung hier zu sprengen, wenn sie die Rechte meiner Kompagnie nicht anerkennen sollte.«

»Wir – wir bitten Sie, uns diese – diese Rechte mitzuteilen,« stotterte Schnürpel, »wir werden – werden sie wohlwollend prüfen.«

»Meine Kompagnie behauptet, ihre Heimstätten unter der Erde nur unter der Bedingung bezogen zu haben, daß diese Heimstätten wachsen dürfen.«

»Wohin?«

»Durch die Erde durch, aus der Erde heraus, in die Luft hinauf, die freie, hinein in Herzen anderer Krieger, die der Krieg versehrte, ohne sie zu töten. Wo sind die Heimstätten über der Erde, die aus den schmalen Heimstätten unter der Erde herausgewachsen sind?, fragt meine Kompagnie.«

Unsicher wies der Finger Schnürpels hinüber nach der luftigen Villenkolonie und dem beherrschenden Kurhaus.

»Augen rechts!« kommandierte der Major die tote Kompagnie. »Wo die frischen, frohgemuten Häuser rot und weiß herüberleuchten, wohnen eure Kameraden, wohnen in Heimstätten, die das dankbare Vaterland ihnen gab, eure Angehörigen, die ihr zurückließet und die jetzt auf eigenem Grunde neue Kräfte aus dem Boden saugen, den ihr düngtet –«

»Entschuldigung,« stammelte Schnürpel, »hier liegt ein Irrtum vor. Die angesehenen Leute, die in jenen neuen Häusern wohnen – auf Grund von wohlerworbenen und verbrieften Rechten wohnen – sind – sind keine Krieger – keine Kriegerwitwen –«

Hoch zogen sich die Augenbrauen des Majors:

»Kameraden! Heimstätten, die aus euren Leibern wuchsen, haben Fremde mit Beschlag belegt. Wie dünkt euch dieser Dank?«

Die tote Kompagnie blieb stumm, nur ihre Nacken, die kein Grausen des Weltkrieges beugen konnte, knickten, tief sanken die zerschundenen Köpfe. Ihre Leiber darunter, die straffen, wuchsen riesenhaft ins Breite, und ihr Herz zersprang. Aber dennoch standen sie aufrecht, die zu Kolossen Gewordenen, und gehorchten noch übers Herzzerspringen hinaus, wie Riesenpuppen, den Befehlen ihres Führers: »Kameraden, die Gewehre ab! Für diese da seid ihr umsonst gestorben. Unterirdische Heimstätter, geht wieder heim. Halt – die alten Kammern werden euch zu klein sein; wartet, weiten will ich sie euch!«

Eine einzige mächtig schürfende Bewegung machte der Major hinaus ins ostpreußische Land. Das schwoll aus wie ein Vulkan – das riß auseinander – das legte eine kilometerweite Höhle bloß – das winkte mit den Randhänden hinauf zur Aktionärversammlung, hinüber an das vergnügte Rot und Weiß der neuen Häuserstadt – das schob alles, was da lebte, marschbereit in Reihen zusammen.

»Marsch!« kommandierte der alte Major. Und hinein mit einem fürchterlichen Taktschritt zog alles in das Riesengrab, die tote Kompagnie, ihr Hauptmann, die Elentiere aus der Vorzeit, Schnürpel und die Aktionärversammlung, das Kurhaus Germania und die Villenkolonie. Und über ihnen schloß sich von links und rechts Ostpreußen, wie zwei sich ineinanderfaltende Hände, die am Abend Amen sagen. Nur aus einem schmalen Erdriß hörte man noch langsam, abrechnend, die Stimme des Majors nach oben gurgeln: » Fünf Prozent!«

*

»Ja, Herr Kommerzienrat, ich vergaß ganz. Ihnen für die mir bewilligten fünf Prozent zu danken – oder – oder haben Sie schon die Quittung? Sie schauen so verstört drein, Herr Schnürpel – wohl ein kleines Alpdrücken gehabt während des Nickerchens?«

Schnürpel war, wild um sich sehend, aufgesprungen, jetzt jagte er den Hügel hinab in der Richtung nach dem Bahnhof.

»Herr Kommerzienrat,« scholl es hinter ihm, »und wann werden Sie also die entscheidende Generalversammlung des Kurhauses Germania –?«

Dem Laufenden bog es den Kopf herum, einen schreckverzerrten Kopf. Eine Grimasse huschte darüber. Abwehrend, gespreizt hoben sich im Lauf die Hände: »Nie – nie – niemals!«


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