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11 Uhr 57

Das Haus am Eck heißen sie zum Bismarck. Es wohnt ein Förster drin, der hat's mit ihm gehalten, als er noch der bestgehaßte Mann war. Der hält's mit ihm noch heute, da die ausgebrannten Rippen seines Reichsbaus klagend in verhangene Himmel starren: So weit haben's die gebracht, die nach dir kamen.

Bei diesem alten Förster bin ich gestern eingekehrt. Ich tu das immer gegen Jahreswende. Da sind seine Enkel auf Besuch. Deren Frohsinn macht die alte Wetterstirne etwas leichter. Wenn er auch sachte murrt, der Alte: »In allen Zimmern rutscht die Rasselbande umeinander. Vor nichts haben sie Respekt. Neulich hab' ich sie sogar von meiner Bismarckuhr verjagen müssen.«

Sie steht in einem Extrazimmer, diese Uhr. Das Riesenauge ihres Zifferblatts beherrscht den Raum. Wer hereinkommt, sieht nur dieses Blatt. Es schläft nie. Bei offenem Fenster sieht es weit hinaus ins Land und fragt und fragt. Leute, die, von einem Hügel gegenüber, ihrem Förster in die Wohnung gucken wollten, sind zurückgefahren: »Hu, da starrt ein Ries' heraus!«

Es geht die Sage, daß die Uhr von Bismarck stamme. Wahr ist, daß er ihr einmal ins Aug' gesehen hat, ein Riesenauge in das andere. Wahr ist, daß sie früher einem Jagdgehilfen in Friedrichsruh gehört hat. Daß der Kanzler sie in dessen Wohnung sah bei seinem letzten Morgenausgang: »Da habt Ihr ein famoses Erbstück. Wohl schon alt, mein Lieber?« – »Zu Befehl, Durchlaucht, ein Vorfahr' soll sie einst für einen Extradienst von Friedrich dem Großen …« Da habe der Kanzler aufgeleuchtet, habe einen Stuhl herangerückt und sei wohl eine halbe Stunde bei der Uhr gesessen. Habe den Gehäusedeckel aufgehoben und langsam nickend in das Räderwerk geschaut und an der grünen Schnur gezogen, mit der man sie auf volle vierzehn Tage aufzog. Und sei dann stumm gegangen.

Sieben Tage später war er tot. 11 Uhr 57 soll's gewesen sein. Und Schlag 11 Uhr 57 soll im Hause des Jagdgehilfen auch die Uhr des großen Friedrich stillgestanden sein. Trotzdem sie gut noch eine Woche hätte gehen müssen. Denn der Kanzler hat nie etwas nur halb aufgezogen. Auf 11 Uhr 57 aber blieb sie stehen bis heute.

Auch der Jagdgehilfe ist vor der Zeit stehengeblieben. Unser Förster, der im Haus am Eck, hat ihn gut gekannt. So ist die Bismarckuhr durchs Testament hindurch ins Haus gewandert, das sie hier Zum Bismarck heißen. In dasselbe Haus, wo gegen Jahreswende immer die Försterenkel umeinanderrutschen, diese Rasselbande, die vor nichts Respekt hat – –

– sagte der alte Förster, als ich gestern bei ihm war. Die Zeitung lag vor ihm. Die Ueberschriften sprangen einem ins Gesicht: »Und unsere Gefangenen?« … »Stehen wir vor dem Bankrott?« … »Bismarck, wo bleibst du?«

»Ja, ja, der Mann hat gut fragen,« sagte der Förster grimmig, »der Alte kommt nicht mehr. Was hat er noch mit einem Volk zu schaffen, das sich die Zähne in das eigene Fleisch schlägt! Sich belügen, ist ja sinnlos. Wir sind am Ende. Unsere Uhr steht still – den Teufel auch! jetzt rast die Bande durchs verbotene Zimmer!«

Er stieß die Tür auf. Eine erhitzte Bubenschar mit frischen Backen und hellen Augen stand sich in Fechterstellung gegenüber. Einer stand mit dem Rücken an der Kommode. Drei drangen auf ihn ein. Er blickte sie an: »Nur her mit euch!«, holte aus, stieß mit dem Ellbogen an die Kommode –

Ping! ein haarscharfes Klirren. Dann tick-tack, tick-tack, so geruhig und so selbstverständlich, als wäre die Uhr seit Bismarcks Tode niemals stillgestanden.

Still aber stand des Försters Atem. Erschrocken sahen wir den Zeiger auf dem großen Auge langsam geben. Tick-tack, tick-tack … 11 Uhr 58 …

Drei Buben hatten sich in einer Ecke zusammengedrängt. Nur der vierte sah dem Förster offen ins Gesicht: Nun ja, ich habe mich verteidigt, Großvater … Tick-tack, tick-tack … 11 Uhr 59 …

Die Uhr ging weiter. Ich hörte sie sprechen: »Bismarck hat mich aufgezogen. Eine Weile schlief ich. Jetzt bin ich wieder wach. Noch ist Kraft in mir für viele Tage. Von feiner Hand gespannt, marschiere ich jetzt weiter. Tick-tack, kommt mit, tick-tack, kommt mir – bang, bang, bang – 12 Uhr ist es – laßt uns einen neuen Kreis beginnen …«

Uns war's, als müßten wir die Hände falten: Von der Friedrichsuhr die hellen Mittagsschläge, mit der Kraft aus des Kanzlers Arm, der über die Jahrzehnte herübergriff, hallten feierlich durchs Zimmer …

Erschüttert stand der alte Förster. Wie ein Schauen in die Zukunft überkam's ihn. Seine Rechte lag dem hellen Knaben auf dem Scheitel: »Jetzt seh' ich's besser. Der Alte vom Sachsenwalde ist nicht tot. Er kommt wieder. Wenn unsere Kinder an ihn rühren, holt er aus zum Schlage. Mittag wird es wieder für uns werden, heller Mittag …«


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