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Vorwort


Der meinem Werke: »Michelangelo und das Ende der Renaissance« (G. Grote 1912) zu Grunde gelegte Plan bedingte für die eingehende Darstellung der Gedankenwelt des Meisters eine Mittheilung von Dessen Gedichten. Vor die Frage gestellt, ob ich die früheren, Sophie Hasenclever (Leipzig 1875) und Walter Robert Tornow (Berlin 1896) verdankten deutschen Übersetzungen verwerthen könne, musste ich einsehen, dass diese, so vortrefflich jede in ihrer Art sein mag, meiner Absicht, den Künstler in möglichst unmittelbarer und unverfälschter Weise zu dem Leser reden zu lassen, nicht entsprachen. Dies konnte erreicht werden nur, wenn alle die Veränderungen, die bei gereimten Übersetzungen von Gedichten dieses Charakters sich nothwendig ergeben, vermieden wurden. So entschloss ich mich, sie meinerseits aufs neue in unsere Sprache zu übertragen und zwar, mit Aufgeben des Reimes, in einer bloss rhythmischen Form. So gewagt ein solches Unterfangen, zumal bei den gerade durch verschlungene Reimbeziehungen ausgezeichneten Formen des Sonettes, des Madrigales und der Stanzen, mir erscheinen musste, glaubte ich doch den Mangel musikalisch harmonischer Wirkung einigermaassen durch den Klang der Worte an sich und durch den Wechsel von männlichen und weiblichen Versendigungen ersetzen zu können und, da Michelangelos Dichtungen mit wenigen Ausnahmen nicht den Anspruch auf Formvollendung erheben dürfen, jenen Verlust durch einen bedeutsamen Gewinn, eben den einer charakteristischen Bestimmtheit der Gedanken, wett zu machen. In der Zahl der Verse und der Versfüsse folgte ich den Originalen getreu, nur in einem Falle gestattete ich mir eine gebotene Abweichung: statt des fünffüssigen Verses wandte ich in den Grabschriften für Cecchino Bracci den sechsfüssigen an.

Man glaube nicht, dass meine Aufgabe wesentlich leichter als eine gereimte Übersetzung war. Durch Proben überzeugte ich mich selbst davon, dass es mir, dank dem freieren Spiel der Einbildungskraft, oft schneller gelang, eine solche, als eine bloss rhythmische, die dem häufig sehr komplizierten Wortgefüge gerechtwerde, zu verfertigen. Und ich durfte mir schliesslich sagen, dass eine poetische Wirkung, wenn sie natürlich auch hinter jener der gereimten Übertragung zurückbleiben musste, doch nicht ausblieb, ja nicht selten der von Michelangelo beabsichtigten sich mehr annäherte. Kam es mir darauf an, so weit wie nur möglich wortgetreu zu sein, indem ich selbst die Michelangelos Gedichten anhaftenden Ungeschicklichkeiten und Härten durchaus nicht zu Gunsten eines fliessenden Vortrages beseitigte, sondern sie beizubehalten bemüht war, so durfte ich mir andrerseits wohl das Recht zuerkennen, ja es als eine Pflicht betrachten, den Gedanken dort, wo er im Originale, wie oft der Fall, verworren bleibt und nur angestrengtem Grübeln sich erschliesst, zu deutlicherem Ausdruck zu bringen, ohne doch das Michelangelo eigenthümliche merkwürdige, gequält dialektische Moment, das bisweilen die Eigenart spitzfindiger Klügelei annimmt, zu verheimlichen. Und hierbei galt es mehrfach, bei Anerkennung auch anderer Deutungsmöglichkeiten, sich für eine zu entscheiden.

Der mir von verschiedenen Seiten geäusserte Wunsch, wie die Hoffnung, dass Manchem eine gerade so geartete Übersetzung willkommen sein werde, veranlassen mich nunmehr, die Gedichte, – und es handelt sich um sämtliche Dichtungen des Meisters –, die in meinem Werke dem Gange der Darstellung entsprechend sich verstreut finden, vereinigt zu veröffentlichen. Der Übersichtlichkeit wegen und um die Monotonie zu vermeiden, die bei einer Anordnung nach den verschiedenen Formen: Sonett, Madrigal, Stanze, Capitolo, Epigramm unvermeidlich ist, fasse ich sie, die Musen anrufend, in neun Abtheilungen zusammen, wobei im Grossen und Ganzen auch eine allgemeine chronologische Reihenfolge gewahrt werden konnte.

Meinen Übersetzungen zu Grunde liegen die beiden Ausgaben: die ältere von Cesare Guasti (Florenz 1863), welche zuerst den ächten Text wieder herstellte, und die neuere, jetzt maassgebende von Carl Frey (Berlin 1897), die, mit grösster Sorgfalt und philologischer Kritik veranstaltet, den Wissensbegierigen zuverlässigen Aufschluss über Entstehung, Lesarten und Datirung der einzelnen Gedichte giebt. Die von mir verzeichneten Daten gehen zumeist auf Freys Feststellungen zurück; nur in einzelnen Fällen weicht meine Meinung von der seinigen ab. Der im Anhang gegebene Kommentar beschränkt sich auf das Allernothwendigste.

Gardone, 5. Juli 1913

Henry Thode


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