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Die polnische Armee unter dem Fürsten Radziwill, der nach mannigfachem Wechsel das Kommando übernommen hatte, stand bei Grochow, nahe von Warschau, dem russischen General Diebitsch gegenüber, der die aufständischen Truppen, trotzdem dieselben Wunder der Tapferkeit vollbrachten, immer weiter vor sich her gedrängt hatte, da ihnen die einheitliche und energische Leitung fehlte und in der polnischen Regierung verschiedene Elemente vorhanden waren, welche immer noch durch eine endliche Versöhnung mit Rußland die Zukunft Polens begrüßen wollten.
Vom Morgen an schon hörte man in Warschau das Knattern des Gewehrfeuers und dazwischen schweren Kanonendonner, zum Beweise, daß eine ernsthafte Schlacht engagiert sei.
Ganz Warschau war in höchster Aufregung, auf den Straßen standen Gruppen, meist älterer Männer und Frauen, da alle jungen Leute unter die Waffen getreten waren; sie lauschten dem bald näher herandrängenden, bald sich wieder mehr entfernenden Getöse der Schlacht und tauschten in lebhaften Gesprächen ihre Hoffnungen und Befürchtungen aus. Bald kamen auch die ersten Wagen mit Verwundeten an, welche alle trotz ihrer Leiden voll Hoffnung waren und die Nachricht brachten, daß der Ansturm der Russen schon zweimal zurückgewiesen sei, daß aber dennoch die Armee sich langsam auf die Vorstadt Praga zurückziehe, um dort eine feste Stellung zu gewinnen.
Die Verwundeten wurden nach dem Karmeliterkloster gebracht. Dort waren alle irgend entbehrlichen Räume zu Lazaretten eingerichtet, und die vornehmsten Damen von Warschau standen der Krankenpflege mit Eifer und Hingebung vor. Am unermüdlichsten taten Frau Clementine Hoffmann und Luitgarde, welche sich bloß bei diesem Namen nennen ließ, ihre Samariterdienste. Sie waren überall, beaufsichtigten alles, was in den verschiedenen Sälen geschah, und schraken auch in den schwierigsten Fällen vor keiner Handreichung zurück.
Immer mehr füllten sich die Räume. Die Betten in den großen Sälen waren alle schon besetzt. Da kamen, auf einen kleinen Bauernkarren geladen, noch zwei Verwundete an.
Beide trugen die Uniform der freiwilligen Linienregimenter, beides waren junge Männer, mit schönen, jugendlichen Gesichtern, und beide mußten schwer verwundet sein, denn ihre Augen waren geschlossen, und ihre bleichen Gesichter schienen fast schon von der Hand des Todes berührt zu sein.
Sie wurden vorsichtig heraufgetragen, und es fand sich in einem kleinen Zimmer, das zur Wohnung des Priors gehörte, noch ein Unterkommen für sie.
Als sie auf die Betten niedergelegt und entkleidet waren, untersuchte einer der Aerzte ihre Wunden und schüttelte bedenklich den Kopf.
Der eine war durch die Brust geschossen, die Kugel war in der Nähe des Herzens eingedrungen und mußte im Körper stecken geblieben sein, denn es zeigte sich kein Ausgang, den sie sich geöffnet hätte. Dem andern war der rechte Arm von einem Kartätschenschuß zerschmettert, die Knochen waren zersplittert und das Fleisch zerrissen.
Der junge Offizier mit der Wunde in der Brust schlug, als ihm ein kühlender Verband angelegt war, die Augen auf und blickte umher.
»Ah da ist er!« sagte er freudig, als er seinen noch immer bewußtlosen Gefährten erblickte. »So ist es doch noch gelungen, ihn auf den Wagen zu bringen, wie ich es mit der letzten Kraft vor meiner Ohnmacht befahl – wir haben zusammen gefochten und zusammen wollen wir sterben, wenn es sein muß.
Sehen Sie dort meinen Freund,« sagte er zu dem Arzt, »retten Sie ihn, wenn es möglich ist – um mich kümmern Sie sich nicht, ich habe wohl mein Teil, die Kugel hat den rechten Weg zu dem Sitz des Lebens gefunden.«
»Ihr Freund«, sagte der Doktor mit inniger Teilnahme, »ist schwer verletzt, der Arm muß augenblicklich amputiert werden, wenn nicht der Brand herankommen soll – ob er aber die Operation aushält, vermag ich nicht zu verbürgen, jedenfalls gehört ihm meine erste Sorge. Bei Ihnen ist keine unmittelbare Gefahr, die Kugel darf freilich nicht stecken bleiben, wir werden nachher versuchen sie zu entfernen – wenn dies gelingt, so werden Sie gerettet sein.«
»Und wenn nicht, so ist es zu Ende,« sagte der Verwundete. »Und es wird wohl zu Ende sein, ich fühle die Hand des Todes an der Wurzel meines Lebens; aber gleichviel, gehen Sie ans Werk und retten Sie jenen dort.«
»Konstantin, Konstantin,« rief er zu dem andern Lager hinüber, »ermanne Dich! Erwache! Es gilt Dein Leben dem Vaterlande zu erhalten, dem Dein Herz noch lange schlagen und Dein Geist noch dienen kann, wenn Du auch nicht mehr den Säbel zu schwingen vermagst!«
Der andere schlug langsam die Augen auf, während der Doktor davoneilte, um, wie er sagte, Hilfe für die schwere Operation zu suchen.
»Kasimir,« sage er mit matter Stimme, »Du hier – Du bist gerettet? Gott sei Dank! und was ist aus der Schlacht geworden?«
»Die Unseren standen und verteidigten jeden Fuß breit Erde,« erwiderte Kasimir, »so weit ich's noch gesehen habe, seit Du bewußtlos am Boden lagst. Ob wir siegen werden,« fügte er düster hinzu, »das weiß ich nicht – vielleicht hatte Chlopicki recht, als er es verweigerte, unsere Armee auf die Schlachtbank zu führen. Doch gleichviel, besser ist es, auf der Schlachtbank zu enden, als in Ketten zu leben.«
Der Arzt kehrte zurück. Ihm folgte ein Lazarettgehilfe mit den Werkzeugen und Tüchern. Neben ihm kam Luitgarde.
Sie sah bleich und erschöpft aus, aber auf ihrem Gesicht lag ein freundliches Lächeln, wie sie es für die schmerzvoll leidenden Verwundeten immer bereit hatte, um ihnen Mut und Hoffnung einzuflößen.
»Hier,« sagte der Doktor, »diesem jungen Offizier ist der Arm zersplittert, eine unmittelbare Amputation allein kann ihm das Leben retten, und ich habe mir erlaubt, Sie, gnädige Frau, um Ihren Beistand zu bitten, da niemand so gut wie Sie es versteht, die Leidenden zu beruhigen und zu ermutigen.«
Luitgarde trat heran. Dunkle Röte flammte in ihrem Gesicht aus.
»Konstantin!« rief sie.
Sie verlor ihre sonst so ruhige, sichere Fassung bei dem jammervollen Anblick des Verwundeten, sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sank schluchzend aus einen Sessel neben dem Lager nieder.
»Luitgarde!« sagte Konstantin, indem er sich auszurichten versuchte. »Wie danke ich Gott, daß er es mir gewährt, Sie noch einmal zu sehen, nun sterbe ich ruhig.«
»Sterben?« rief Luitgarde, auffahrend. »Nein, nein, er soll nicht sterben! Nicht war, sein Leben kann gerettet werden?« fragte sie den Doktor.
»Aber es ist kein Augenblick zu verlieren,« erwiderte dieser. »Ich bitte Sie, gnädige Frau, helfen Sie mir den Verwundeten während der Operation so ruhig wie möglich zu halten, davon hängt alles für das Gelingen ab.«
Er ließ einen Tisch heranrücken und breitete die Werkzeuge aus.
»Lassen Sie ihre Mühe, Doktor,« sagte Konstantin, »ich verweigere die Operation und will das Schicksal tragen, wie es Gott über mich verhängt.«
»Aber mein Gott,« rief der Doktor, »bedenken Sie, mein Herr, es gilt Ihr Leben, für das ich Ihnen keine Hoffnung geben kann ohne die Operation. Der Arm ist so zerschmettert, daß eine Heilung unmöglich ist, und der Schmerz ist nicht so groß, daß er nicht ertragen werden könnte, um den Tod abzuwenden.«
»Wenn ich den Tod fürchtete,« sagte Konstantin mit mattem Lächeln, »so würde ich mich nicht den feindlichen Kugeln gegenübergestellt haben, die mein Herz ja ebenso gut treffen konnten, wie meinen Arm. Ich hatte eine Pflicht, ein Ziel auf Erden,« fuhr er, halb zu Luitgarde gewendet, fort, »das war der Kampf für mein Vaterland, dazu bin ich unfähig gemacht, und weiter gibt es nichts, das mich an die Welt fesselt. Der Tod wird mich von einem einsamen, elenden Leben befreien und,« sagte er halb flüsternd, den fieberglänzenden Blick in Luitgardens Augen senkend, »ich weiß ja, daß wir uns dort wiederfinden werden, wo alle irdische Qual zu Ende ist.«
»Konstantin,« rief Luitgarde, »Sie sollen leben, auf meinen Knien beschwöre ich Sie darum.«
»Du sollst leben,« rief Kasimir von seinem Lager her, »ich will es, Du hast treu und fest gestanden zu der beschworenen Pflicht, Du hast das Deinige getan – der Himmel hat dein Leben nicht gewollt – lebe jetzt für Dich und für Dein Glück.«
Konstantin schüttelte den Kopf.
»Ich kann es nicht,« sagte er, »die Last eines unnützen Daseins würde zu schwer sein.«
»Konstantin, ich bitte Sie um meinetwillen,« rief Luitgarde.
»Bitten Sie nur,« sagte Kasimir, »Sie haben wohl Grund dazu, er hat Sie sehr geliebt, ich kenne Sie nicht, aber es ist unmöglich, daß ein Herz wie das seine eine Liebe festhält, die seiner nicht würdig wäre.«
Luitgarde beugte sich zu ihm hin.
»Leben Sie, Konstantin, leben Sie um Ihres Vaters, um meinetwillen!«
Ihre Worte klangen wie ein Hauch, er fühlte ihre Lippen auf seiner Hand. Seine Blicke flammten auf.
»Um Deinetwegen, Luitgarde?« rief er. »Ja, um Deinetwegen will ich leben, wenn Du mir den Preis des Lebens reichst. Hier auf meiner Brust hängt an goldener Kette Dein Ring, nimm ihn als das Zeichen des heiligen Bundes für das Leben, dann will ich Dir gehorchen, dann kann mein Leben ein Ziel und einen Wert haben – dann wird Gott vielleicht mir gnädig sein.«
»Unmöglich – unmöglich!« rief Luitgarde. »Du weißt, warum ich es nicht darf.«
Kasimir hatte sich mit Mühe auf seinem Lager aufgerichtet.
»Der Pater Ambrosius!« rief er. »Wo ist der Pater Ambrosius? Lassen Sie ihn rufen, Doktor!«
Der Doktor sendete seinen Gehilfen ab.
»Viel Zeit ist nicht übrig,« sagte er ernst, »ein Entschluß muß gefaßt werden oder ich stehe für nichts.«
Der Pater Ambrosius, welcher die oberste Leitung über das Lazarett führte, erschien.
Er erkannte Konstantin, begrüßte ihn bewegt und machte über seiner Stirn das Zeichen des Kreuzes.
Hastig erzählte Kasimir, um was es sich handle.
Fast strafend sah der ehrwürdige Mönch Luitgarde an.
»Und warum, meine Tochter,« fragte er, »weigerst Du diesem armen Verwundeten, diesem treuen Sohn des Vaterlandes seine Bitte, von der sein Leben abhängt?«
»Weil es unmöglich ist,« sagte Luitgarde, sich stolz aufrichtend, »daß seine reine, treue Hand sich mit der meinigen vereinigt, die einem Verräter gehörte, seinem Todfeind, der ihn in tückischer Hinterlist dem Verderben überlieferte.«
»Das ist es?« sagte Kasimir. »Konstantin, Du hast recht gehabt, sie zu lieben, sie ist Deiner wert.«
Pater Ambrosius aber sprach ernst und feierlich:
»Der Grund Deiner Weigerung, meine Tochter, zeugt für Dein edles Herz, aber Gott würde ihn verwerfen, wenn Du darauf bestündest und dieses junge Leben darüber verloren ginge. Ich, als der Priester des Herrn, erkläre Dir, daß Du ihm Deine Hand reichen darfst, denn Du warst nicht schuldig an dem, was jener verbrochen, der vor dem ewigen Richter steht, und der milde gerichtet werden wird, wenn Du das Glück auf Erden wiederfindest, das er Dir geraubt. Als Priester des Herrn befehle ich Dir, den Willen Konstantins zu tun, der vielleicht im Sterben liegt, – gelingt es Dir, ihn zu retten, so wird sein Leben Dir angerechnet werden.«
»Es ist keine Zeit zu verlieren,« sagt der Arzt dringend.
»Es soll kein Augenblick verloren werden,« sprach der Pater Ambrosius.
Er legte Konstantins und Luitgardens Hände in einander, sprach die Worte des Rituals der Eheschließung, und auf seine Frage antwortete Konstantin laut und deutlich, während Luitgardens »Ja« unter Schluchzen hervorklang.
Konstantin löste darauf mit seiner linken Hand den Ring von seiner Kette an seiner Brust.
Der Pater steckte ihn an Luitgardens Hand und sprach den Segen.
»Jetzt«, sagte Konstantin, »gehörst Du mir für Zeit und Ewigkeit – jetzt will ich leben und vertraue, daß Gott mein Leben erhalten wird. Beginnen Sie Ihre Arbeit, Doktor,« sagte er, »Sie sollen sehen, daß ich Ihre Messer so wenig fürchte wie die Kugeln der Russen.«
Der Doktor schnallte den Arm fest und begann seine furchtbare Arbeit.
Während der ganzen Operation kniete Luitgarde neben dem Lager. Sie hielt Konstantins Hand, bald betete sie leise, bald sprach sie ihm flüsternde Worte des Trostes zu.
Er wendete keinen Blick von ihrem Gesicht. Ein freundliches, ruhiges Lächeln lag auf seinen Lippen und verschwand keinen Augenblick, auch wenn sein Körper in brennendem Schmerz zuckte und zitterte.
Pater Ambrosius stand betend seitwärts und streckte zuweilen segnend die Hand nach dem Leidenden aus.
Kasimir lag still und ruhig auf seinem Bett, auch seine Lippen bewegten sich, auch er betete für den Freund.
Endlich war das schwere Werk vollendet. Der Arm war losgelöst, die Adern unterbunden und der Verband angelegt.
»Hoffen Sie, gnädige Frau,« sagte der Doktor. »Die Kraft, mit der er die Schmerzen überstanden, wird ihn am Leben erhalten. Das einzige, was er jetzt bedarf, ist Ruhe und sorgsame Pflege.«
Er nahm ein Fläschchen, goß einige Tropfen von dessen Inhalt in ein Glas Wasser, und Luitgarde flößte Konstantin, dessen Haupt mit ihren Armen stützend, den Trank ein.
Dieser tat bald seine Wirkung. Konstantin sank in die Kissen zurück und verfiel in einen Schlaf, der, nach den gleichmäßigen Atemzügen zu urteilen, ruhig und sanft sein mußte.
»Lassen Sie meinen Vater benachrichtigen,« bat Luitgarde den Pater Ambrosius, »mein Platz ist hier, und nichts soll mich von ihm entfernen, bis die furchtbare Frage über Leben und Tod entschieden ist.«
Der Doktor war zu Kasimir herangetreten.
»Nun, mein Herr,« sagte er, »für die Rettung Ihres Freundes ist geschehen, was möglich war – nun müssen wir an Sie denken, denn die Kugel darf nicht in Ihrer Wunde bleiben. Haben Sie Mut, die Sondierung zu ertragen?«
Kasimirs Gesicht war totenbleich, seine Lippen waren schmerzhaft zusammengezogen und seine Augen hatten einen eigentümlich durchdringenden Blick angenommen.
»Mut?« sagte er lächelnd. »Das ist eine seltsame Frage. Aber ich fürchte, daß Ihre Mühe vergebens sein wird. Tun Sie immerhin, was nötig ist, aber ehe sie beginnen, bitte ich die Gemahlin meines Freundes, mir ihre Hand zu reichen.«
Luitgarde stand auf, kam an sein Lager und reichte ihm die Hand.
»Ich habe mir Mühe gegeben,« sagte er, »Sie von ihm zu trennen, weil ich glaubte, daß seine Wahl eine unwürdige sei und ihn dem Dienst des Vaterlandes entfremden möchte. Sie haben gelitten, wie er, Sie haben sich bewährt. Wenn Gott sein Leben erhält und wenn Sie glücklich sind, gedenken Sie meiner und glauben Sie, daß Kasimir Normut mit dem letzten Schlage feines Herzens Ihr Freund war.«
Luitgarde blieb, leise weinend, neben ihm stehen.
Der Doktor setzte die Sonde an und tauchte sie vorsichtig in die Wunde.
Nach einigen Augenblicken öffneten sich Kasimirs Augen weit, ein tiefer Seufzer hob seine Brust, ein Zucken durchlief seinen Körper.
Noch einmal traf sein erstarrender Blick Luitgarde.
Wie ein ersterbender Hauch klang es von seinen Lippen, die sich mit blutigem Schaum färbten:
»Es ist aus – Gott segne Euch alle – Gott schütze das Vaterland.«
Der Doktor zog erschreckt die Sonde zurück.
»Ich dachte es wohl,« flüsterte er, »hier ist nichts mehr zu tun, er ist tot und ist eines schönen Todes gestorben.«
Pater Ambrosius sprach die Sterbegebete und segnete den Toten, auf dessen Gesicht der Ausdruck eines tiefen verklärten Friedens ruhte. Dann befahl er, die Leiche in ein anderes Gemach zu bringen und die Bestattung vorzubereiten.
Für Konstantin wurde zunächst das Zimmer, wo die Operation stattgefunden hatte, reserviert, und Luitgarde blieb dort, um ihn zu pflegen.
Der Graf kam.
So schmerzlich auch alles war, was er erfuhr und sah, so erfüllte doch glückliche Dankbarkeit sein Herz. Er segnete Luitgardens Bund, küßte leise Konstantins bleiche Stirn und ging dann, um seiner Gemahlin schonend die Nachricht zu bringen und in seinem Hause alles für die Aufnahme Konstantins vorzubereiten, sobald es möglich sein würde, denselben dahin überzuführen.
Die Schlacht, welche bei Grochow begonnen hatte, blieb unentschieden. Obgleich der General Diebitsch vierundzwanzig Bataillone russischer Garde auf einmal zum Sturmangriff vorschickte und es ihm auch gelang, den einen Flügel der polnischen Aufstellung bis nach Praga zurück zu werfen, so drangen die Polen in heldenmütiger Tapferkeit immer wieder vor und hätten bei einheitlicher Führung vielleicht einen entscheidenden Sieg gewinnen können.
Das Oberkommando, sowie die Mehrzahl der Generale, unter denen auch der zurückgetretene Diktator Chlopicki seinen Platz wieder eingenommen, ging nach des Fürsten Radziwill Beispiel von dem Grundsatz aus, den Krieg nicht zum Angriff, sondern zur Verteidigung zu führen, um den Weg zur Verständigung immer noch offen zu lassen.
Es wurde also keine sich darbietende Gelegenheit zu einem wirksamen Vorstoß benützt. Das Resultat war, daß am Abend des blutigen Tages die beiden Armeen so ziemlich wieder auf denselben Positionen standen, von denen aus die Schlacht begonnen: die Polen in und um Praga – Diebitsch, der in seiner Stellung schwer erschüttert war, zwischen den Wäldern von Grochow.
Die Regierung nahm dem Fürsten Radziwill das Kommando ab und übertrug dasselbe dem General Skrzynecki. Aber auch dieser begann in den ersten Tagen nach der unentschiedenen Schlacht Unterhandlungen, so daß dem General Diebitsch vollständig Zeit gelassen wurde, sich zu erholen, Verstärkung und Proviant heranzuziehen und sich zu dem letzten, entscheidenden Schlage, dem Vorstoß aus Warschau, vorzubereiten.
Konstantins Heilung ging, nachdem das Wundfieber und die Erschöpfung der Amputation überwunden waren, außerordentlich schnell und glücklich vorwärts, und schon nach kurzer Zeit konnte er m einer Tragbahre in das Haus des Grafen Jaczkonowski gebracht werden.
Die Gräfin, der das Vorgefallene mitgeteilt worden war, empfing ihn mit Herzlichkeit. So sehr ihr sein verschlossenes Wesen auch früher unsympathisch gewesen war, so schmerzlich sie auch den Tod Malgienskis empfunden, von dessen Entfremdung mit Luitgarde sie nichts gewußt, so fand sie sich doch mit ihrer natürlichen Leichtigkeit in die neuen Verhältnisse, und das Mitleid mit Konstantins schwerer Verwundung ließ sie die Abneigung, die sie früher gegen ihn gehegt, vergessen. Sie sowohl, als die Gräfin Dornowska drängten darauf, Warschau zu verlassen und nach dem Süden zu gehen, um dort Konstantins vollständige Wiederherstellung von den Folgen der Verwundung zu erreichen.
Die längere Waffenruhe verminderte die Tätigkeit in den Lazaretten, und auch Luitgarde gab endlich ihre Zustimmung, da ihr Vater ihr sagte, daß sie jetzt vor allem ihre Pflichten gegen ihren Gemahl zu erfüllen habe, der alles getan, was das Vaterland von ihm fordern konnte, und nicht mehr imstande war, weitere Dienste zu leisten.
Gegen Konstantin zeigte sie bis zur Abreise, so eifrig und unermüdlich sie auch seine Pflege besorgte, doch eine gewisse scheue Zurückhaltung, es war, als ob sie es nicht wagte, nach all den furchtbaren Erlebnissen ein Gefühl des Glücks in ihrem Herzen ausleben zu lassen, und erst, als sie an seiner Seite in dem Reisewagen saß, lehnte sie sich mit tränenden Augen, aber glücklich lächelnd, an feine Brust und flüsterte ihm, seine linke Hand an ihre Lippen drückend, das erste Wort zu, das ihrer aus ihrem schwer geprüften Herzen hervorbrechenden Liebe Ausdruck gab.
*
Monate waren vergangen. Auf dem Balkon einer eleganten, behaglichen Villa in Nizza standen Konstantin und Luitgarde.
Noch sah man Konstantins bleichem Gesicht die Folgen der schweren Erschütterung an, welche seinen Körper und seine Seele getroffen hatte; aber allmählich begannen seine Wangen sich leicht zu röten und aus seinen Augen blitzte die wieder erwachte Lebenskraft. Der düstere, feindliche Ausdruck, welcher sonst auf seinem Gesicht gelegen hatte, war freundlicher Heiterkeit gewichen, und seine sonst so hart und rauh geschlossenen Lippen lächelten sanft, als er zu Luitgarde niedersah, die sich an seine Seite schmiegte und das Haupt an seine Schulter legte, von welcher der Arm abgelöst war.
Luitgarde hatte wieder die fast kindliche Frische erlangt, welche ihr früher einen so besonders anmutigen Reiz verlieh, und vor der schweren Täuschung, die sie betroffen, verschwunden gewesen war. Nur eine gewisse wehmütige Vertiefung des Ausdrucks ihrer großen, von so viel Tränen benetzten Augen war als ein Zeichen ihrer Leiden und Seelenkämpfe zurückgeblieben, ihre Schönheit war dadurch edler und innerlich belebter geworden, ohne an ihrer zarten, reizvollen Anmut zu verlieren.
Vor ihnen lag das tiefblaue Meer, vom goldenen Sonnenlicht überstrahlt, weiße Segel zogen auf demselben hin und her und ein leichter, erfrischender Windhauch spielte von der weiten Wasserfläche herüber.
»Wie schön, mein Geliebter,« sagte Luitgarde, sich noch inniger an Konstantin anschmiegend, »wie wunderbar schön ist dieser Blick! Fast gleicht dieses Bild meinem Leben! Darum gerade zieht es mich so wunderbar an, daß ich Stunden und Stunden hier stehen und hinausblicken könnte in die Ferne. Sollte man es für möglich halten, daß diese leuchtende Meeresfläche, so friedlich und so rein, als ob sie ein auf die Erde herabgesunkenes Stück des Himmels wäre, schäumend und brausend, in drohender Schreckensgestalt die Schiffe, die sie jetzt spielend einherträgt, zertrümmert und warme Menschenherzen in ihren Tiefen erstarren läßt? Sieh, mein Geliebter, ebenso unmöglich schien es mir einst, daß mein vom Sturm zerrissenes und zerwühltes Leben wieder leuchten und schimmern könnte in sonnigem Glück und Frieden.«
Konstantin drückte ihre Hand an seine Lippen und sagte bewegt:
»Auch ich, meine Luitgarde, hatte ja den Glauben an das Glück verloren, als Du mir entrissen warst und ich keine andere Zukunft vorher sah und ersehnte, als den Tod in dem Kampf für das Vaterland, der mich nach der Erfüllung meiner letzten Pflicht auf Erden von aller Qual befreien sollte. Ich habe meine Pflicht erfüllt und dennoch ist mir das Glück wieder aufgegangen statt des Todes, der mir gewiß schien. Das Opfer meines Lebens, das der Himmel nicht annahm, und das viele Blut, das vergossen worden, hat freilich das Vaterland nicht gerettet, und leider«, fuhr er mit schmerzlicher Wehmut fort, »trifft wieder seine eigenen Söhne die Schuld, welche durch Unschlüssigkeit, eifersüchtige Zwietracht unter einander und vielleicht durch Schlimmeres den Sieg von Anfang an unmöglich machten.«
»Traure nicht, mein Konstantin,« sagte Luitgarde, seine linke Hand, ehe er es hindern konnte, mit ihren Lippen berührend, »Du hast Dein Leben eingesetzt und bist vor dem schwersten Opfer für das Vaterland nicht zurückgewichen. Mir war es freilich nicht vergönnt, ein Opfer zu bringen, aber gelitten habe ich genug und wohl mehr wie Du, und darum können wir die Vergangenheit vergessen, deren Pflichten wir erfüllt haben, deren Not und Sorge der Himmel uns abnahm, darum können wir unserem Glück leben, das uns so hell entgegenleuchtet wie dort die schimmernde Meeresfläche.«
Konstantin beugte sich zu ihr herab und küßte ihre Stirn, seine in warmem Licht strahlenden Blicke sagten ohne Worte, daß in seinem Herzen das Glück der Gegenwart die düsteren Erinnerungen der Vergangenheit verscheucht hatte. Der Graf Jaczkonowski trat auf den Balkon. Tiefer Ernst lag auf seinen Zügen. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand.
»Der Kampf ist zu Ende,« sagte er tief bewegt, »die Ordnung in Warschau ist wieder hergestellt, wie die Zeitungen kurz verkünden – Polen ist ruhig.«
»Die Ruhe des Kirchhofs,« sagte Konstantin düster, »auf welchem schon so viele heldenmütige Söhne des Vaterlandes begraben sind und immer, immer durch ihre Schuld, immer durch den Streit und Zwiespalt, den sie selbst im Kampf für ihre Freiheit nicht abstreifen können, immer durch selbstsüchtigen Ehrgeiz, der einen jeden nur an sich selbst denken läßt und dem das arme, vertrauensvolle Volk vergebens geopfert wird. Nun ist es vorbei für immer! Wenn jemals noch der nie ersterbende Freiheitssinn sich von neuem aufrichtet, es wird immer vergebens sein und immer neues Blut wird vergossen werden, immer neue Gräber werden sich über neuen Opfern schließen. – Finis Plonoaie!«
»Das sage ich dennoch nicht,« sprach Jaczkonowski, über das Meer hin zu dem weiten Horizont blickend. »Wenn auch alle Hoffnungen, die sich an die Vergangenheit knüpften, für immer begraben sind, so glaube ich doch an eine schöne und große Zukunft. Der polnische Adel hat seine historische Rolle ausgespielt, aber das Volk wird erwachen und reif werden zu selbstkräftiger Arbeit. Und die russischen Kaiser werden, davon bin ich überzeugt, es noch einmal erkennen, welch einen Schatz sie in dem polnischen Volk besitzen können, um eine slawische Macht in Europa der Ueberfeinerung und Versumpfung des romanischen Westens in frischer Naturkraft entgegenzustellen in freiem Bunde mit der Kraft und Kultur der germanischen Stämme. Sie werden es erkennen, daß es höher und herrlicher für sie ist, die Krone der Jagellonen in neuem Glanz auf ihrem Haupte zu tragen, als aus einem geknechteten Volk eine russische Provinz zu machen, und wenn sie das erkennen, wenn sie in solchem Geiste das polnische Volk zu hohen Aufgaben erheben, dann wird Polen und das Haus der Romanow in inniger Brüderschaft mit den slawischen Völkern des großen Reiches eine neue Epoche seiner Geschichte beginnen, glänzender vielleicht noch als unter seinen alten Stammesfürsten, glänzender als unter seinen Wahlkönigen, und wären sie alle gewesen wie Sobieski.«
»Gott gebe es,« sagte Konstantin, mit seiner linken Hand die rechte des Grafen drückend, »und fast möchte ich glauben, daß Sie recht haben, mein Vater.«
»Wir aber«, sagte der Graf, »können mit ruhigem Gewissen die Zukunft Gott überlassen, denn wir haben die Pflicht gegen das Vaterland erfüllt, und Sie vor allem, mein teurer Sohn, darum haben wir das Recht, auch an uns zu denken und uns des Glückes zu freuen, das die Vorsehung so wunderbar aus so vielem Kummer und Leid uns hat hervorblühen lassen.«
»Und dem Toten«, sprach Luitgarde leise, indem sie ihre Hände faltete und die Augen zum lichtblauen Himmel aufschlug, »möge Gott ein gnädiger Richter sein.«
Ihre Mutter kam, begleitet von der Gräfin Dornowska, um zu einer Fahrt an den Strand aufzufordern.
Konstantin aber lehnte es ab, da er durch die Nachricht von Warschau zu bewegt war.
»Ich aber bin froh,« rief die Gräfin Dornowska, »daß alle diese Unordnung und all dies Blutvergießen ein Ende hat. Hoffentlich werden wir nun bald nach Warschau zurückkehren können und die leidige Politik wird dort nicht mehr die Geselligkeit stören.«
Sie führte, heiter plaudernd, die Gräfin Jaczkonowska zu dem bereitstehenden Wagen herab. Der Graf begleitete die Damen. Konstantin und Luitgarde aber blieben auf dem Balkon, mit der Aussicht auf das weite Meer. Hand in Hand saßen sie neben einander, und in ihrem Gespräch mischten sich die traurigen Erinnerungen der Vergangenheit mit den lichten Bildern einer glücklichen, sonnenhellen Zukunft.
*
Druck von A. Seydel & Cie. G. m. b. H.,
Berlin SW 61.