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18. Am Leuchtturm von Mont St. Michel

Ungefähr am Scheitelpunkt des rechten Winkels, den die nordfranzösische Küste östlich und südlich um den Golf von St. Malo bildet, schiebt sich die Bucht von Mont St. Michel ins Land. Von ihrem innern Ufer hat man kaum eine halbe Stunde zu gehn, um die kleine Stadt Avranches zu erreichen, die etwas abseits vom Meer auf einem Hügelzug liegt, der die Seeküste überragt.

Auf einer Höhe an der Bucht von Mont St. Michel stand im Jahr 1848 einer jener hölzernen, kühn gebauten Leuchttürme, die an den gefährlichen Küsten der Normandie den Schiffen als Wahrzeichen dienten. Der Wärter dieses Leuchtturms hieß Gabrillon, verkehrte nur selten mit den Menschen und galt für einen Sonderling. Er hatte weder Weib noch Kind; nur eine alte, taube Frau hauste mit ihm auf dem Leuchtturm, den sie nur für kurze Zeit verließ, um den geringen Gehalt Gabrillons einzuholen und dann die wenigen Einkäufe zu besorgen, die die Führung ihrer kleinen Wirtschaft nötig machte.

Früher war es zuweilen vorgekommen, daß Fremde oder Einheimische den Leuchtturm besuchten, um von seiner Höhe aus einen Blick auf den ewig gleichen und doch stets wechselvollen Ozean zu genießen. Aber seit einiger Zeit zeigte Gabrillon sich gegen solche Besucher so grob, daß den Leuten die Lust zum Wiederkommen verging.

Man forschte nach der Ursache dieses Widerstrebens, fand aber nichts. Nur einige alte Fischer, die sich mit nächtlichem Schiffhandel abgaben, behaupteten, des Nachts ganz oben auf dem Rundgang, der sich um das Lichtgehäuse des Leuchtturms zog, eine lange, hagere Gestalt bemerkt zu haben, die in spanischer oder einer ähnlichen Sprache kurze, klägliche Laute ausgestoßen habe.

Von da an meinten die abergläubischen Strandbewohner, der Wärter Gabrillon stehe mit dem Teufel oder andern bösen Geistern, die ihn nächtlich besuchten, im Bund und mieden ihn nun noch mehr, als sie es schon früher getan hatten. Nur der Maire Bürgermeister der Stadt dachte anders, denn Gabrillon war bei ihm gewesen und hatte ihm in seiner mürrischen, verschlossenen Weise gemeldet, daß er einen alten Vetter, der nicht ganz richtig im Kopf sei, bei sich aufgenommen habe. Gabrillon hatte diese Meldung nicht umgehn können, und der Maire schwieg, weil es ihm Spaß machte, daß die Leute diesen verrückten Vetter in den Teufel verwandelten.

Es war an einem schönen Winternachmittag. Tags zuvor hatte es ein wenig gestürmt, und die See zeigte noch einen ziemlich hohen Gang; aber die Luft war klar, und man konnte bis weit in die See hinaus die Möwen erkennen, die über die Wogenkämme strichen. Ihre Flügel glänzten im Sonnenstrahl, und wenn ein breitschwingiger Albatros durch die Lüfte schoß, so funkelte sein weißes Gefieder zwischen den dunklen Schwingen wie helles Silber. –

In den Bahnhof von Avranches fuhr ein Zug ein, der aus der Richtung von Paris kam. Unter den Reisenden befand sich ein großer, vornehm gekleideter Herr, der sich auf dem Bahnsteig wie suchend umblickte. Im nächsten Augenblick trat ein Mann auf ihn zu, der an seiner Tracht sofort als Spanier zu erkennen war. Nach kurzer Begrüßung betraten die beiden den Wartesaal.

»Darf ich fragen, Señor, wie es der Condesa geht?« fragte der spanisch Gekleidete.

»Ich bin zufrieden. Sie hat sich in den wenigen Tagen körperlich gut erholt.«

»Und ihr Geist? Hat sie Euch noch nicht erkannt?«

Ein Schatten flog über die Züge des Gefragten. »Nein, ich wagte das Mittel noch nicht anzuwenden, solang sie noch nicht kräftig genug ist. Ich werde damit warten, bis wir in Deutschland, in meiner Heimat, sind. Und nun zu unsrer Aufgabe! Ich habe Euch vorausgeschickt, damit Ihr den Leuchtturm nicht aus dem Auge lassen sollt. Befindet sich der Graf noch bei Gabrillon?«

»Sicher! Ich selber habe ihn zwar nicht mehr erblickt, aber ich schließe es daraus, daß Gabrillon nach wie vor jeden Besucher zurückweist, was früher nicht der Fall gewesen ist, und was beweist, daß er etwas zu verbergen hat.«

»Nun, dann weiß ich, was ich zu tun habe! Wir begeben uns jetzt sofort zum Maire!«

»Und dann?«

»Dann holen wir mit seiner Hilfe den Grafen aus dem Leuchtturm und bringen ihn nach Paris zu seiner Tochter zur Pflege.«

Sie fanden den Bürgermeister in seinem Amtszimmer und wurden von ihm freundlich empfangen. Sie stellten sich kurz vor und nahmen dann Platz.

»Womit kann ich euch dienen, meine Herren?« fragte der Beamte.

»Mit einer kleinen Auskunft, Monsieur«, sagte Sternau. »Wer hat den Zutritt zum Leuchtturm verboten?«

»Meines Wissens niemand«, lautete die Antwort.

»Eures Wissens? Ich denke, daß Ihr infolge Eures Amt jedenfalls der Mann seid, es am ehesten zu wissen.«

»Ja, wer hat denn von einem solchen Verbot gesprochen?«

»Der Wärter!« fiel Mindrello ein.

»Ah, Gabrillon! Der ist ein eigentümlicher Kerl, eine Art Menschenhasser. Er sieht es gern, wenn man ihn in Ruhe läßt, er mag nicht gern gestört sein, mein Herr.«

»Ah! Worin könnte ein Mann gestört werden,« meinte Sternau, »der nichts zu tun hat, als des Abends seine Lichter anzubrennen und des Morgens wieder zu verlöschen? Übrigens weilt ein ältlicher Herr im Turm, dessen Geist gestört zu sein scheint. Wer ist dieser Mann?«

»Er ist ein Verwandter Gabrillons.«

»Ein Verwandter? Hm!«

»Ja, ein Vetter oder Oheim oder so etwas.«

»Wie heißt er, und woher stammt er?«

»Wie er heißt?« fragte der Beamte verlegen. »Ah! Hm! Er heißt – ich glaube, ich weiß es selber nicht. Gabrillon hat ihn zwar angemeldet, aber nichts Schriftliches vorgelegt.«

»Ich habe geglaubt, daß bei einer jeden Anmeldung die Vorzeigung gewisser Urkunden erforderlich sei.«

»Ja, hm, eigentlich! Ich werde das wohl noch besorgen müssen. Man hat so viel zu tun, daß es kein Wunder ist, wenn eine solche Kleinigkeit übersehn wird.«

»Wir sind nicht nur gekommen, um uns eine Auskunft zu erbitten. Die Sache hat noch ein viel ernsteres Gesicht. Wir erbitten in einer kriminellen Angelegenheit Eure amtliche Hilfe.«

»Kriminell?« fragte der Beamte, indem er die beiden forschend anblickte. »Es handelt sich um ein Verbrechen?«

»Ja. Gestattet mir also, Euch das Nötige in kurzen Worten zu sagen! Der spanische Graf Manuel de Rodriganda y Sevilla wurde plötzlich geisteskrank, und ich, als sein Arzt, konnte feststellen, daß dies die Folge einer Dosis Kuraregift oder Pohon Upas sei, die ihm verbrecherischerweise beigebracht worden war. Es gab Personen, die Veranlassung hatten, den Grafen zu töten, oder wenigstens seiner Selbstbestimmung zu berauben, um sein Erbe anzutreten. Ich nahm ihn in Behandlung und hätte ihn hergestellt, aber des andern Morgens war der Graf verschwunden. Später fand man in einem nahen Abgrund eine Leiche. Die betreffenden Leute erkannten sie als diejenige des Grafen, ich aber behauptete, es sei der Körper eines andern Menschen. Die Personen, von denen ich spreche, waren mächtig; meine Aussage wurde nicht berücksichtigt, und man setzte die Leiche als die des Grafen in der Familiengruft bei.«

»Parbleu! Das ist ja ein Kriminalroman, wie er im Buch steht! Aber was habe ich als französischer Maire mit einem Verbrechen zu tun, das in Spanien vollbracht wurde?«

»Was ich jetzt sagte, betrifft Euch nicht, mein Herr; es war nur die Einleitung. Ich war überzeugt, daß man eine falsche Leiche untergeschoben und den wahnsinnigen Grafen entfernt habe. Eine glückliche Fügung ließ mich seine Spur entdecken; der Wahnsinnige ist mit Gewalt nach Frankreich geführt worden und wird dort gefangengehalten.«

»Donnerwetter! Das ginge uns nun allerdings etwas an! Aber warum kommt Ihr grad zu mir?«

»Weil sich das Versteck in Eurem Amtsbereich befindet.«

»Teufel! Ich werde sofort einschreiten. Wo befindet sich der Graf?«

»Auf dem Leuchtturm.«

Der Bürgermeister fuhr einige Schritte zurück. »Unmöglich!«

»Nein, wirklich! Ihr könnt in arge Verlegenheit geraten, Monsieur! Ihr habt einen wahnsinnig Gemachten aufgenommen, ohne nach seinen Papieren zu fragen. Derjenige, den Gabrillon für seinen Verwandten ausgibt, ist der Graf Manuel de Rodriganda.«

Dem Maire stand bereits der Angstschweiß auf der Stirn.

»Höchst ärgerlich!« sagte er. »Ich werde diesen Gabrillon vernehmen! Aber, mein Herr, könnt Ihr beweisen, daß dieser Mann wirklich der Graf ist?«

»Ja. Als er vom Wahnsinn befallen wurde, verging ihm das Gedächtnis vollständig; dies ist die Wirkung jenes Gifts. Nur eine Erinnerung ist ihm geblieben. Es befand sich sein Schloßverwalter Alimpo bei ihm, und dies hat er festgehalten; er hält sich für jenen Diener und sagt stets nur die Worte: ›Ich bin der gute, treue Alimpo‹. Ihr gebt zu, daß kaum die Möglichkeit vorhanden ist, daß ein zweiter Wahnsinniger auf grade diese Monomanie und ganz dieselben Worte verfällt. Sie sind also ein sicheres Erkennungszeichen.«

»Wahrscheinlich. Doch müßte zuvor amtlich bestätigt werden, daß der unglückliche Graf sich grade dieser Worte bedient hat.«

»Diese Bestätigung wird mir leicht werden. Seht hier diese Papiere! Aus ihnen geht hervor, daß ich der Hausarzt des Grafen in Rodriganda war.«

Der Bürgermeister prüfte Sternaus Ausweise eingehend. Dann stand er auf, schritt einigemal aufgeregt im Zimmer auf und ab und blieb dann vor Sternau stehn:

»Mein Herr, ich stehe mit allen Kräften zu Diensten, aber ich hoffe, daß Ihr diese unangenehme Angelegenheit in einer Weise behandelt, die mir keinen Schaden wegen meiner kleinen Vergeßlichkeit bringt.«

»Ich werde mich bemühn, Euren Wunsch zu erfüllen. Am besten begeben wir uns sogleich mit der nötigen Hilfe zum Leuchtturm; das übrige wird sich finden.«

»Schön! Gut! Ich werde Euren Rat befolgen.« –

Nach einer halben Stunde schritt der Maire in Begleitung Sternaus und Mindrellos und dreier Schutzleute den Weg zum Meeresstrand hinunter. In der Nähe des Leuchtturms angekommen, sagte Sternau:

»Wir wollen kein Aufsehn erregen und uns deshalb verteilen. Wir nähern uns dem Turm in der Art und Weise von absichtslosen Spaziergängern, das übrige wird sich dann ergeben.«

Dieser Vorschlag wurde angenommen, und man trennte sich.

Mindrello und Sternau gingen mit einem der Schutzleute voran zum Turm. Als sie die Tür erreichten, war diese verschlossen, aber Mindrello bemerkte einen Klingelzug. Er läutete, und nach einiger Zeit wurde die Tür geöffnet. Der Wärter blickte hervor und rief, als er den Spanier erkannte, mit ärgerlicher Stimme:

»Ihr wieder? Das ist stark! Packt Euch zum Teufel!«

Er wollte die Tür zuschlagen, aber Mindrello hielt sie fest.

»Laßt offen!« sagte er, »ich will den Leuchtturm besteigen!«

»Ich habe Euch bereits neulich gesagt, daß dies verboten ist. Seid Ihr taub?«

Gabrillon wollte die Tür mit Gewalt zuziehn, da aber trat der Schutzmann vor. Er hatte sich bisher seitwärts gehalten, so daß der Wärter ihn noch nicht erblickt hatte.

»Was fällt dir ein, Gabrillon!« sagte er. »Wer hat dir den Befehl gegeben, solche Besuche abzuweisen?«

Der Wärter war beim Anblick des Beamten rasch zurückgetreten.

»Soll ich mir denn gefallen lassen, daß ein jeder hergelaufene Mensch mich stört und belästigt?« fragte er.

»Sieht dieser Herr wie hergelaufen aus, du Grobian?« rief der Schutzmann. »Ich habe dir auf Befehl des Herrn Maire zu melden, daß der Besuch des Leuchtturms nicht verboten ist. Kommt noch ein solcher Fall vor, so wirst du abgesetzt! Verstanden? Dieser Herr wird uns melden, ob er sich abermals über dich zu beklagen hat. Richte dich danach!«

Der Schutzmann schritt nach diesen Worten mit der stolzen, selbstbewußten Miene eines siegreichen Helden die Treppe wieder hinab. Mindrello und Sternau traten jetzt in das zur Erde gelegene Gemach des Leuchtturms. Der Wärter aber begrüßte die beiden mit keiner Silbe, sondern stieg in höchster Eile die zweite Treppe empor, ohne sich scheinbar weiter um sie zu kümmern.

Die beiden Männer folgten langsam. Als sie das zweite Gemach erreichten, sahen sie die alte Wirtschafterin des Wärters, die auf einem Schemel saß und sie mit den Blicken eines bösartigen Krokodils anglotzte. Sie achteten nicht auf sie und stiegen höher. Die dritte Abteilung des Turms war in zwei kleine Gemächer geteilt. Das eine war verschlossen, aber sie hörten da drinnen deutlich die klagenden Worte:

»Ich bin der treue, gute Alimpo!«

Jetzt wußten die Männer, daß Gabrillon so schnell emporgestiegen war, um den Geisteskranken einzuschließen, damit der Besuch in keine nähere Berührung mit ihm komme. Der Wärter stand in dem andern Gemach und beobachtete mit finsterer Miene, ob die beiden Notiz von den Worten nehmen würden, die sie hörten.

»Warum schließt Ihr den Kranken ein?« fragte Sternau.

»Das geht Euch nichts an!« entgegnete der Gefragte rauh und verbissen.

»Habt Ihr etwa kein gutes Gewissen in bezug auf diesen Patienten?«

»Herr,« brauste Gabrillon auf, »was kümmert Euch meine Familie? Ich bin gezwungen, Euch Zutritt zu gewähren, aber sobald Ihr mich beleidigt, werfe ich Euch die Treppe hinab.«

»Ihr? Mich?« fragte Sternau geringschätzend. »Wenn es mich nicht ekelte, lägt Ihr bereits unten!«

Damit zog er sein Taschentuch heraus und winkte durch die Fensteröffnung hinaus.

»Was ist das für ein Zeichen?« fragte Gabrillon argwöhnisch; Sternaus gewaltige Gestalt machte sichtlich Eindruck auf ihn.

Der Arzt antwortete nicht, sondern horchte nach der Treppe hin, die nach unten führte. Es ließen sich bald rasche Schritte hören. Der Maire erschien.

»Wo ist der Wahnsinnige?« fragte er.

»Da drin ist er«, sagte Gabrillon, auf die Tür deutend.

Er war nicht sehr besorgt, denn er glaubte, es nur mit dem Maire zu tun zu haben.

»Also, er ist ein Verwandter von dir?« fragte dieser. »Wie heißt er?«

»Anselmo Marcello.«

»Und woher ist er?«

»Aus Navia.«

»Hast du seine Papiere in Ordnung?«

»Mein Vetter brachte ihn zu mir und versprach, mir diese Papiere zu senden. Er ist aber unterdessen gestorben.«

»So hättest du dir diese Papiere durch einen andern besorgen lassen sollen. Ich werde mich in Navia erkundigen, ob dieser Vetter wirklich einmal verreist war, um dir diesen Mann zu bringen. Öffne die Tür!«

Der Wärter gehorchte, und nun sahen sie ein Kämmerchen vor sich, kaum so lang und breit, um für einen Strohsack Raum zu bieten. Auf diesem lag der Wahnsinnige. Sternau erkannte sofort den Grafen. Als er die Anwesenden sah, erhob er sich. Sein Auge ruhte geistesabwesend auf ihnen, und in klagendem Ton sagte er:

»Ich bin der gute, treue Alimpo.«

»Hört Ihrs, Monsieur?« sprach Sternau zu dem Maire.

»Ja, es sind wahrhaftig diese Worte!« meinte dieser. »Ist er es wirklich, Herr Doktor?«

Der Arzt trat auf den Kranken zu, faßte seine beiden Hände und sagte unter tiefer Bewegung:

»Ja, Monsieur, er ist es! Ich kenne ihn zu gut, es ist der Graf Manuel und kein andrer. Er ist hagerer geworden, und sein Haar gebleicht, aber sonst hat er sich nicht verändert.«

Der Kranke hielt seine Augen mit einem leeren Blick auf ihn gerichtet. Sein Gesicht war bleich, wie aus Wachs geformt, ohne Bewegung, ohne einen einzigen Zug, der auf eine Spur von noch vorhandenem Seelenleben hätte schließen lassen. Nur seine bleichen Lippen öffneten sich, und mit jener Stimme, die dem Erzeugnis einer künstlichen Sprechmaschine glich, sagte er:

»Ich bin der treue, gute Alimpo!«

Sternau wandte sich ergriffen ab, ebenso Mindrello; auch der Maire räusperte sich, um eine Aufwallung des Mitleids zu bekämpfen, die er mit der Würde seines Amts nicht vereinbar hielt.

Da aber trat Gabrillon vor und sagte:

»Dieser Herr irrt sich. Der Kranke ist Anselmo Marcello, ich kenne ihn.«

»Schweig, Betrüger!« rief Sternau. »Herr Maire, ich fordere Euch auf, diesen Wärter festzunehmen!«

»Mich?« fragte da Gabrillon mit gut gespielter Entrüstung. »Was habe ich getan? Dieser alte, verrückte Mann ist mein Vetter. Wenn er ein Graf wäre, so wäre er nie wahnsinnig geworden. Die Not und der Hunger haben ihn um den Verstand gebracht. Ich habe ihn aus Mitleid zu mir genommen und soll nun zum Lohn dafür gefangengesetzt werden? Es ist lächerlich!«

Der Maire fühlte sich durch diese Auslassung beleidigt.

»Ruhig!« gebot er. »Was das Gericht und die Polizei tun das ist niemals lächerlich. Du bist mein Gefangner. Ich verhafte dich im Namen des Gesetzes!«

»Verhaften? Mich?« fragte Gabrillon. »Greift zu, wenn ihr es fertig bringt!«

Er sprang auf den Maire, der das nicht erwartet hatte, zu, stieß ihn zur Seite und flog – nicht die Treppe hinab, wie er beabsichtigt hatte, sondern den Schutzleuten in die Arme, die da aufgestellt waren.

»Donnerwetter!« rief er erschrocken.

»Haltet ihn fest!« gebot der Maire. »Durch diesen Fluchtversuch hat er seine Schuld bestätigt. Er soll uns sagen, wie der Graf hierhergebracht wurde!«

Der Leuchtturmwärter wurde zur Tür hinausgeschoben und nach dem Gefängnis gebracht. Als er fort war, sagte der Beamte:

»Man wird ihm wegen dieses Verbrechens einen bösen Prozeß machen. Ich werde sofort nach meiner Heimkunft einen Bericht abfassen, und dann ist es meine Pflicht, nach Rodriganda zu melden, daß man einen falschen Toten an Stelle des Grafen beerdigt hat, da dieser hier bei uns aufgefunden worden sei. Aber, meine Herrschaften, wie verfügt Ihr über den Wahnsinnigen? Soll auch hier die Behörde eingreifen?«

»Nein, er bleibt bei uns!« sagte Sternau. »Wir nehmen ihn mit, und ich werde versuchen, ihn zu heilen.«

»Nun, dann bin ich beruhigt«, meinte der Maire. »Ich gehe jetzt, meine Pflicht zu erfüllen. Zu einem Verhör des Gefangnen ist es heut zu spät, ich werde es indessen morgen früh sofort vornehmen und Euch die Stunde anzeigen, da ich mir denken kann, daß Ihr dabei sein wollt.«

Er empfahl sich, und nun schickte Sternau sofort nach der Stadt, um den Grafen mit andern Kleidern und Wäsche zu versehn; er war in dieser Beziehung sehr vernachlässigt worden. Das Ergebnis einer flüchtigen ärztlichen Untersuchung war trotz allem nicht ungünstig.

Bereits am übernächsten Tag führte der Zug den Arzt, Mindrello und den Kranken durch die schneebedeckten Hügellandschaften der Normandie nach Paris. – – –


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