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14. Neue Schlingen

Die Anwesenheit der beiden Gäste brachte in das einsame Leben auf Rodriganda Bewegung und Abwechslung.

Was den Grafen Manuel betraf, so freute er sich, wenn die jungen Leute auf eine halbe Stunde sein Krankenzimmer teilten, um ihn zu erheitern. Er fühlte sich auf eine unerklärliche Weise zu dem Leutnant hingezogen; auch das stille, sinnige Wesen der Engländerin gefiel ihm, und der Umgang mit solchen Personen war von vorteilhafter Wirkung auf seinen leidenden Zustand.

Da die drei Ärzte Rodriganda verlassen hatten, so befand er sich unter der alleinigen Behandlung Sternaus, und dessen Kunst hatte solche Erfolge, daß er nach einigen Tagen erklären konnte, der Stein sei entfernt. Nachdem der angegriffene Körper sich gekräftigt habe, könne man daran denken, sich auch mit den erblindeten Augen zu beschäftigen.

Das war eine Botschaft, die alle Bewohner des Schlosses in Freude versetzte, – den Notar, Señora Clarissa und Alfonso ausgenommen.

Es war eigentümlich, daß die regelmäßig im Park unternommenen Spaziergänge stets zu vieren begonnen wurden und doch zu zweien endeten. Während der Graf auf der Veranda die balsamische Luft genoß, lustwandelten die andern zwischen Blumen. Da fand sich dann stets der Arzt zu Roseta und der Leutnant zu Amy, ein Umstand, dessen sogar der Graf mit einem liebenswürdigen Scherz gedachte. Mariano fühlte, daß die Liebe in ihm emporflammte, und Amy sah in dem jungen Mann die Verwirklichung ihres Ideals, ohne weiter und tiefer über die Gefühle nachzudenken, die ihr Herz beseelten.

So verflossen einige Wochen, ohne daß irgendein Ereignis von außen her das Stilleben unterbrochen hätte. Man las, man ging spazieren, man fuhr zuweilen aus, man musizierte, und überall zeigte sich Mariano als ein vollendeter Gesellschafter. Nur bei der Musik schloß er sich von jeder Beteiligung aus: er könne nicht Klavier spielen. –

Es war eines Abends, zur Zeit der Dämmerung. Der Arzt befand sich beim Grafen in dessen Zimmer, Roseta war mit dem Bruder ausgefahren; und der Leutnant hatte wieder, wie oft, in der Galerie vor dem Bild gestanden, das ihm so ähnlich war. Da trat er aus dieser in die daran stoßende Bücherei, in der es bereits ziemlich dunkel war, so daß er nicht bemerkte, daß Amy sich dort befand.

Sie hatte, in einer Fensternische sitzend, vorher in einem Buch gelesen und genoß jetzt die stille Dunkelstunde im Hinträumen. Als sie ihn eintreten hörte, verhielt sie sich ruhig, weil sie glaubte, daß er nur hindurchzugehn beabsichtige. Er aber tat dies nicht, sondern trat an eins der andern Fenster und blickte hinaus in die Landschaft, von der das scheidende Tageslicht Abschied nahm.

So vergingen einige Minuten in tiefer Stille, dann wandte er sich um, vielleicht um zu gehn, und sein Blick fiel dabei auf eine spanische Gitarre, die in der Nähe des Fensters an der Wand hing. Er nahm sie zur Hand, griff einige Akkorde und begann endlich einen spanischen Tanz, bei dessen rauschenden Klängen sich Amy unwillkürlich erhob.

Die Gitarre ist in Spanien ein sehr beliebtes Instrument; sie ist fast in jeder Familie zu finden, und man trifft nicht selten Leute, die eine wirkliche Meisterschaft darauf erlangt haben. Auch Amy hatte solche Spieler gehört. So aber, wie der Leutnant, hatte selten einer gespielt. Darum schlug sie, als das Spiel zu Ende war, die Hände zusammen und rief:

»Bravo! Señor! Das war ja ein Meisterstück! Und Ihr sagt, daß Ihr nicht spielen könnt!«

Er war anfangs erschrocken, trat aber doch näher und erwiderte:

»Ah, Señorita, ich wußte nicht, daß Ihr anwesend wart. Übrigens habe ich nur gesagt, daß ich nicht Klavier zu spielen verstehe.«

»Aber warum ließt Ihr uns nicht wissen, daß Ihr ein Künstler auf der Gitarre seid?«

»Weil ich meine eigne Ansicht über die Musik habe. Die Musik ist vorzugsweise die Kunst des Gefühls, des Herzens, und niemand gibt seine Gefühle gern der Öffentlichkeit preis. Ich kann ein Konzert anhören und mich daran erfreuen, aber ich kann nicht meine eignen Gedanken spielen, um sie hören zu lassen.«

»So sprecht Ihr von Euren eignen Kompositionen?«

»Ich habe niemals den Namen einer Note lernen mögen. Ich spiele, was mir meine eigne Phantasie eingibt, und das spiele ich nur für mich und nicht für andre.«

»Oh, Ihr seid selbstsüchtig. Singt Ihr auch?«

»Ja. Was mir der Augenblick eingibt.«

»Und niemand darf Euch hören? Auch – ich nicht, Señor?«

»Nun wohl, Señorita, ich werde Euch etwas vorsingen. Aber was?«

»Was singt Ihr am liebsten?«

»Nichts und alles. Ich lerne niemals ein Lied; ich dichte nur aus dem Stegreif.«

»Nun, so singt ein – Liebeslied!«

»Dann aber bin ich ja gezwungen, mir eine Dame zu denken, der ich diese Liebe und dieses Lied widme!«

»Natürlich!« meinte sie in heiterm Ton.

»Aber wenn ich nun keine solche Dame kenne?«

»Gibt es wirklich keine, der Ihr ein Lied widmen könntet, Señor?«

Er schwieg eine Weile, endlich antwortete er:

»Ja, es gibt eine, und an diese will ich jetzt denken, wenn ich singe.«

Damit führte er sie zu dem Sessel, auf dem sie vorhin gesessen hatte, und schritt ganz in den Hintergrund des Raums zurück, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Dort herrschte bereits ein solches Dunkel, daß sie ihn nicht erkennen konnte.

Es verging eine Weile, und nun hörte sie die Saiten klingen: leise und mild, dann stärker, in einzelnen Akkorden und Tönen, die sich suchten und schließlich zu einer Melodie zusammenfanden. Und jetzt hörte sie seine Stimme:

»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
ruht all mein inniges Vertraun.
Will das Geschick dich mir auch rauben,
ich werde doch den Himmel schaun,
worin mich deines Auges Sonne
stets grüßt so klar, so hell, so rein,
voll Prophezeiung süßer Wonne,
daß du mein eigen werdest sein.«

Nun leitete ein kurzes Zwischenspiel nach Moll hinüber, und es erklang lauter und bewegter die nächste Strophe:

»In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
so tret ich ein und zaudre nicht.
Das Leid und Weh vergangner Zeiten
sinkt in Vergessenheit zurück.
Und Gottes Segen wird uns leiten
zu dieses Lebens höchstem Glück.«

Jetzt führte ein abermaliges Zwischenspiel nach der Durtonart zurück; die Akkorde wurden voller und kräftiger, die Melodie setzte sich aus festen, sichern Tonmotiven zusammen, und auch die Stimme des Sängers erklang im vollen Brustton:

»In deiner Liebe ruht mein Leben,
ruht meine ganze Seligkeit!
O laß, o laß nach dir mich streben,
und sei mein eigen allezeit.
Trau meines Herzens sichrem Schlage
und meines Pulses heilger Macht,
du bist die Sonne meiner Tage,
und ohne dich ists um mich Nacht!«

Das Lied war verklungen, und lange Zeit herrschte in dem jetzt dunklen Raum das tiefste Schweigen. Dann aber kam Mariano langsam aus dem Hintergrund herbei, um das Instrument an seinen Platz zu hängen.

»Nun, Señorita?« fragte er.

»Dieses Lied gab es vorher nicht?« meinte sie. »Ihr habt es erst jetzt gedichtet und komponiert?«

»Ja.«

»Aber, Señor, da seid Ihr ja ein wirklicher Dichter! Darf ich nun eins noch erfahren? An wen war das Lied gerichtet?«

»An – Euch!«

Kaum war das Wort verklungen, so fühlte sie sich von ihm umschlungen; er legte ihr die Hand auf das Haar und sagte:

»Gott segne Euch, Miß Amy! Ich liebe Euch, aber ich darf jetzt noch nicht davon sprechen. Doch später werde ich Euch in Mexiko oder in jedem andern Winkel der Erde aufsuchen, um mir das Glück zu holen, das ich nur bei Euch finden kann.«

Ein langer Kuß glühte auf ihren Lippen, die sich nicht sträubten, und dann verließ er die Bücherei. Sie hörte seine verhallenden Schritte und sank in den Stuhl, wo sie noch lange saß, vor Glück und Freude weinend.

Später hörte sie das Rasseln eines Wagens. Roseta kehrte mit ihrem Bruder zurück. Sie hatten unterwegs den Briefboten getroffen und von ihm mehrere Briefe und Zeitungen erhalten. Diese wurden an die Empfänger verteilt. Auch an den Advokaten fand sich ein Schreiben vor. Es trug den Poststempel Barcelona und lautete:

»Señor!

Soeben bin ich mit meiner ›Péndola‹ hier eingelaufen. Die Reise hat viel Geld gebracht. Ich erwarte Euch baldigst, denn ich möchte die Jahreszeit benutzen und in Kürze wieder in See stechen.

Henrico Landola.«

Dieser Brief machte einen sehr freudigen Eindruck auf den Advokaten. Er ging sofort zu seiner Verbündeten und rief, als er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte:

»Clarissa, eine frohe Nachricht!«

Sie erhob sich vom Diwan, auf dem sie gesessen hatte, und meinte:

»Froh? Das läßt sich hören. Wir haben lange Zeit hindurch nur lauter Betrübnis erfahren müssen. Was ist es, was du bringst?«

»Landola ist da!«

»Der Seekapitän?«

»Ja, er ist glücklich in Barcelona eingelaufen und meldet mir, daß er gute Geschäfte gemacht habe.«

»So gehst du nach Barcelona?«

»Nein, ich werde den Kapitän auffordern, nach Rodriganda zu fahren. Unsre Stellung hier ist jetzt so sehr gefährdet, daß ich keinen Tag abkommen kann. Übrigens habe ich auch bereits das Zeichen erhalten, daß der Capitano der Briganten hier ist. Er will um Mitternacht mit mir sprechen.«

»Ah,« rief da Clarissa, »da kommt mir ein Gedanke! Wir können jetzt erfahren, ob dieser Leutnant zum Capitano in Beziehungen steht. Gehört er zu den Briganten, so wird der Capitano die Gelegenheit nicht vorübergehn lassen, mit ihm zu sprechen. Wir müssen ihn beobachten, ob er heute noch nach dem Park geht.«

»Das ist richtig! Dieser Einfall ist vortrefflich! Ich werde zunächst nach dem Diener des Leutnants sehn, denn es läßt sich ja denken, daß der Capitano sich an diesen wenden wird und nicht unmittelbar an den Leutnant, was doch auffällig sein könnte.«

Cortejo ging und konnte keinen bessern Augenblick gewählt haben, denn grad, als er die Treppe niederstieg, kam der Husar eilfertig diese empor und verschwand in dem Zimmer des Leutnants.

»Ah, das ist genug«, murmelte der Advokat. »So einen Eifer legt man nur bei etwas Ungewöhnlichem an den Tag. Ich werde mich fortschleichen und aufpassen.«

Er trat durchs Portal und schritt die von zwei großen Laternen erleuchtete Freitreppe hinab. Zu deren beiden Seiten gab es dichte Blumenbüsche, in denen sich ein Mensch leicht verbergen konnte. Gasparino Cortejo kroch zwischen die Büsche hinein und legte sich lang zur Erde nieder, so daß er nicht gesehn werden konnte.

Von hier aus war es ihm leicht, jede Person zu erkennen, die das Schloß nach derjenigen Seite, auf der der Park und der Wald lagen, verließ.

Cortejo mochte wohl über eine halbe Stunde gelegen haben, als er sporenklirrende Schritte hörte. Der Leutnant de Lautreville trat unter der Pforte hervor, blickte sich vorsichtig um, schritt darauf schnell die Freitreppe hinunter und wandte sich dem Park zu.

»Ah!« entfuhr es den Lippen des Advokaten. »Also doch! Ich muß zunächst sehn, wo sie sich treffen!«

Er verließ sein Versteck, umging den Kreis, der von dem Licht der Laternen beschienen wurde, und huschte dem Leutnant nach. Dieser gab sich keine Mühe, den Schall seiner Schritte zu dämpfen; er hatte hier den Offizier zu spielen und durfte von keinem, der zufällig im Park anwesend sein konnte, für einen Schleicher gehalten werden Aus diesem Grund war es dem Advokaten leicht, ihm zu folgen.

Nach einer Weile lenkte der Leutnant in einen Seitenweg ein, der nach einer einsamen Birkenhütte führte.

»Richtig!« brummte der Notar. »Dort im Birkenhäuschen treffen sie sich. Ich kenne den Platz besser als sie und werde sie belauschen.«

Er folgte dem Offizier nicht gradewegs, sondern huschte über einen offnen Grasplatz, gelangte dann durch eine Birkenpflanzung, wandte sich nachher durch ein nicht sehr dichtes Gesträuch und sah nun endlich das Häuschen vor sich. Es lehnte dicht am Buschwerk, war klein und nur von dünnen Stämmchen errichtet – infolgedessen konnte man ein jedes nicht allzu leise gesprochene Wort hören.

Der Advokat kroch ganz an die hintere Seite des Häuschens heran und lauschte. Ah, wirklich, er hörte sprechen. Zunächst vernahm er ganz deutlich die Stimme des Capitano in den halblauten Worten:

»Und du wohnst also auf dem Schloß?«

»Ja«, antwortete die unverkennbare Stimme des Leutnants.

»Wie ist dies so günstig und schnell gekommen?«

»Ich hatte das Glück – oder ist es für dich, Capitano, ein Unglück – die Condesa nebst einer Freundin von zwei Männern zu befreien, die die beiden Damen angefallen hatten.«

»Ah! Wer waren diese? Gibt es außer uns hier noch andre Briganten? Ich würde ihnen schleunigst das Handwerk legen.«

»Dies ist aus zwei Gründen nicht notwendig. Erstens habe ich ihnen bereits das Handwerk gelegt, und zweitens waren sie nicht fremd, sondern sie gehörten zu uns.«

»Alle Teufel! Wer war es?«

»Juanito und Bartolo.«

»Unmöglich! Wie könnten diese es wagen, die Condesa zu beleidigen?«

»Das ist deine oder vielleicht auch nur ihre Sache.«

»Was hast du mit ihnen getan?«

»Den einen erschossen und dem andern den Schädel gespalten. Sie sind beide tot.«

»Mensch, ist das wahr?«

»Ja.«

Es trat eine kleine Pause ein, bis der Hauptmann zornig sagte:

»So hast du also zwei deiner Kameraden getötet! Weißt du, welche Strafe darauf steht?«

»Der Tod«, erwiderte Mariano ruhig. »Ich aber habe ihn nicht zu befürchten.«

»Warum nicht? Ah, meinst du vielleicht, daß ich dich schonen werde, weil ich stets nachsichtig gegen dich war?«

»Ich verlange keine Schonung, sondern nur Gerechtigkeit. Hast du den beiden Männern befohlen, die Condesa anzufallen?«

»Nein.«

»Nun, so habe ich sie nicht getötet, sondern einfach bestraft.«

»Hast du das Recht dazu? Nur ich als Hauptmann habe Strafen zu verhängen.«

»Ich kannte sie nicht; der eine hatte sich mit einer schwarzen Kapuze vermummt, der zweite hatte sein Gesicht mit Ruß gefärbt.«

»So mußtest du trotz dieser Verhüllung denken, daß es Kameraden seien.«

Wieder trat eine kurze Pause ein. Endlich ließ der Leutnant ein ungeduldiges Räuspern vernehmen und sagte in entschiedenem Ton:

»Sie waren auf keinen Fall meine Kameraden. Ich bin kein Mitglied deiner Bande. Du hast mich aufgenommen und erzogen. Ich bin meist bei euch gewesen, aber du hast vergessen, mir den Schwur abzunehmen. Ich habe also euch gegenüber nicht die mindeste Verantwortlichkeit.«

»Gut, so wirst du mir den Schwur baldigst ablegen müssen.«

»Ich zweifle, ob ich es tun werde.«

»Knabe!« Dieses Wort kam langsam und pfeifend aus dem Mund des Capitano, der sehr erstaunt war, hier eine solche Widersetzlichkeit zu finden. »Ist dies der Dank für die Wohltaten, die ich dir erwiesen habe?«

»Schweig von deinen Wohltaten!« stieß der Leutnant bitter hervor. »Nennst du es ein Glück, wenn ein Kind seinen Eltern mit Gewalt entrissen und unter Räuber gesteckt wird?«

Der verborgene Lauscher horchte auf. »Ah, er ists! Und er weiß es auch, daß er geraubt wurde!«

Auch der Capitano war überrascht. Er fragte zornig:

»Den Eltern entrissen? Mit Gewalt? Auf wen beziehst du das?«

Mariano sah ein, daß es nicht klug gewesen war, sich so fortreißen zu lassen. Die Vorsicht hätte ihm geboten, gar nicht ahnen zu lassen, daß er jenem Ereignis auf die Spur gekommen sei; da er sich aber von seiner Erbitterung einmal hatte hinreißen lassen, so ging er auch weiter und entgegnete:

»Auf mich, auf keinen andern sonst!«

»Hm, so meinst du also, daß du geraubt worden seist?« fragte der Capitano vorsichtig.

»Geraubt und vertauscht!«

»Ja, das ist möglich. Aber was habe ich dabei zu schaffen? Ich fand dich im Freien und habe bis heut keine Ahnung, wer dich ausgesetzt hat.«

»Lüge nicht, Capitano! Du selber warst es, der mich raubte!« rief der junge Mann zornig.

»Ich? Beweise es! Ich schwöre es dir, daß ich es nicht war, der dich deinen Eltern nahm!«

»Ja, das kannst du allerdings beschwören, denn ein andrer war es, der mich stahl; aber es geschah in deinem Auftrag. Kennst du nicht einen Mann, der Tito Sertano hieß? Er stammte aus Mataro.«

»Alle Teufel! Wer hat dir diesen Namen genannt?«

»Ferner: Kennst du das Gasthaus › El Hombre grande‹ in Barcelona? In ihm wurde in der Nacht vom ersten zum zweiten Oktober 1830 ein Knabe umgetauscht.«

»Wer hat dir dies weisgemacht?«

»Das ist mein Geheimnis!«

»Ich verlange, daß du mir Antwort gibst! Ich habe dich nach Rodriganda gesandt, um diesen Gasparino Cortejo und andre zu überwachen, nicht aber, um Ränke gegen mich zu spinnen, die jeden Grundes entbehren. Daher will ich wissen, wer dir diese Lügen gesagt hat!«

»Du wirst es nicht erfahren!«

»Ich werde es erfahren, denn ich habe die Macht, dich zu zwingen!«

»Pah!«

»Glaubst du etwa, mir widerstehn zu können? So werde ich dir das Gegenteil beweisen. Ich befehle dir, sofort nach der Höhle zurückzukehren!«

Der junge Mann ließ ein leises, kurzes Lachen hören und erwiderte: »Das werde ich bleibenlassen!«

»Ah, also offenbare Widersetzlichkeit!« zischte der Capitano.

»Ja, offne!« lachte Mariano abermals. »Ich werde bleiben. Was soll der Graf Rodriganda von dem Herrn de Lautreville denken, wenn dieser wie ein Spitzbube bei Nacht und Nebel verschwindet? Übrigens gefällt es mir in Rodriganda ausgezeichnet, und« – fügte er mit Nachdruck hinzu – »es ist mir ganz, als ob ich zur gräflichen Familie gehöre.«

»Mensch, soll ich dich zwingen? Entweder du erklärst augenblicklich, daß du gehorchen wirst, oder ich steche dich nieder!«

»Höre vorher, was ich dir zu sagen habe! Capitano, ich hege keinen Groll gegen dich«, begann Mariano in ruhigem Ton; »du hast mich zwar dem Boden entrissen, wo der Baum meines Lebens Wurzel zu schlagen begonnen hatte, aber mit deiner Erlaubnis und Unterstützung habe ich mir alles aneignen können, was nötig ist, die mir gehörige Stelle wieder einzunehmen und auszufüllen; darum will ich nicht rachsüchtig sein, sondern ich sage: wir sind quitt! Was ich beginnen werde, weiß ich noch nicht, aber eines weiß ich, nämlich, daß ich zu euch nicht zurückkehre. Zwingen kannst du mich nicht. Ich bin dir an Geschicklichkeit und Stärke überlegen, und auch die List wird dir nichts helfen.«

»Wirklich?« höhnte der Hauptmann. »Wenn ich nun den Grafen Rodriganda wissen lasse, daß du ein Räuber bist?«

»So wird er mich vor allen Dingen fragen, wo meine Kameraden zu finden sind, und ich würde Auskunft geben.«

»Mensch!« brauste der Hauptmann auf.

»Bleib ruhig, Capitano! Solange mir von eurer Seite nichts Böses droht, werde ich schweigen. Du kennst mich und weißt, daß du dich auf mein Wort verlassen kannst. Aber ich habe euch den Schwur der Treue nicht geleistet, und wenn ihr mich mit List oder Gewalt dazu zwingen wollt, so seid ihr meine Feinde, und ich werde mich zu verteidigen wissen. Das ist es, was ich dir zu sagen habe.«

»Dies ist dein fester Entschluß?«

»Mein fester! Pah, Capitano! Meine Augen sind gut, ich sehe trotz der Dunkelheit sehr deutlich, daß du das Messer ziehst; du aber siehst nicht, daß ich bereits während unsrer langen Unterhaltung den gespannten Revolver in der Hand gehabt habe. Ehe dein Messer mich erreichen könnte, wärst du eine Leiche. Das laß dir auch für später zur Warnung dienen! Der Knabe ist zum Mann geworden, und ich sage dir, daß er auch als Mann handeln wird. Lebe wohl, Capitano!«

Der Lauscher hörte, daß der Sprecher sich schnell entfernte.

»Mariano!« rief der Hauptmann befehlend.

Es erfolgte keine Antwort.

»Mariano!« rief er abermals; jetzt aber war der Ton kein befehlender, sondern beinah ein ängstlicher.

Auch jetzt erfolgte keine Antwort, und man hörte die Schritte des sich Entfernenden verklingen.

»Bei Gott, er geht!« murmelte der Capitano. »Er will sich freimachen, aber es soll ihm doch nicht gelingen. Wen ich einmal halte, den halte ich auch fest. Verdammter Gedanke, grad ihn nach Rodriganda zu schicken! Wer mag ihn aufmerksam gemacht haben? Ich muß das erfahren!«

Er verließ mit langsamen Schritten das Birkenhäuschen und verschwand hinter dem Gesträuch des Parks.

Jetzt konnte der Advokat ohne Gefahr, gehört zu werden, sein Versteck verlassen. Er kehrte vorsichtig nach dem Schloß zurück und begab sich wieder zu seiner Freundin, die ihn mit Spannung erwartet hatte. Graf Alfonso hatte sich bei ihr eingefunden, und beide erschraken, als sie hörten, daß dieser Husarenleutnant in Wirklichkeit jener geraubte Knabe sei.

»Mein Gott, was ist zu tun?« fragte Clarissa. »Dieser Mensch ahnt also bereits, wer er ist?«

»Er ahnt es, wie ich aus seinen Andeutungen entnehme«, bestätigte der Advokat.

»So stehn wir auf einem Vulkan, der jeden Augenblick ausbrechen kann«, meinte Alfonso. »Dieser Mensch muß sofort unschädlich gemacht werden.«

»Was verstehst du unter unschädlich, mein Sohn?« fragte der Notar.

»Tot! Nur der Tote schweigt, und es steht für uns so viel auf dem Spiel, daß es eine Schwachheit wäre, einen Menschen zu schonen, der uns so gefährlich ist. Übrigens ist er ja nichts als ein Bandit, und so muß seine Beseitigung gradezu als ein Verdienst bezeichnet werden, das wir uns an der von ihm bedrohten Menschheit erwerben.«

Clarissa nickte beifällig mit dem Kopf; der Advokat aber sagte langsam und nachdenklich:

»Es versteht sich allerdings ganz von selbst, daß er unschädlich gemacht werden muß; ob dies durch seinen Tod oder eine andre Art der Beseitigung geschehn wird, das soll meine Unterredung mit dem Capitano entscheiden. Ich werde um Mitternacht erfahren, was wir von ihm zu befürchten oder zu hoffen haben.«

Mit dieser Entscheidung mußten sich Mutter und Sohn beruhigen.

Kurz vor dem Schlag der Mitternachtsstunde suchte der Notar den Park wieder auf. Es gab da ein verborgnes Plätzchen, wo er sich mit dem Capitano zu treffen pflegte. Er fand ihn bereits seiner harrend.

»Ihr habt mir das Zeichen gegeben, zu Euch zu kommen«, sagte er. »Das ist mir lieb, denn Ihr erspart mir einen Weg nach den Bergen. Ich hätte Euch aufsuchen müssen.«

»In welcher Angelegenheit?« fragte der Hauptmann zurückhaltend.

»Das fragt Ihr noch?« sagte der Notar mit scheinbarer Verwunderung. »Ich habe Euch eine Aufgabe erteilt, die bis jetzt noch nicht gelöst worden ist, weil Ihr mir keine Männer, sondern Feiglinge schicktet.«

»Das ist ein Vorwurf, dessen Berechtigung ich nicht anerkenne«, entgegnete der Hauptmann. »Wir wollen nicht Versteckens miteinander spielen, Señor, sondern diese Angelegenheit in aller Kürze erledigen. Wollt Ihr, daß der Auftrag, den Ihr mir gabt, noch ausgeführt werde?«

»Das versteht sich! Ich verlange sogar, daß dies in aller Eile geschieht.«

»Gut, so will ich Euch meine Bedingungen sagen.«

»Bedingungen? Ich denke, über die Bedingungen haben wir uns bereits bei meinem letzten Besuch geeinigt.«

»Die Verhältnisse haben sich seitdem geändert. Ich habe natürlich erkundet, was geschehn ist, und obgleich ich nicht dabeigewesen bin, kenne ich doch meine Leute gut genug, um alles richtig zu erraten. Der Arzt ist mit Messern angegriffen worden.«

»Ja.«

»Auf Euern ausdrücklichen Befehl?«

Der Notar zögerte ein wenig und erwiderte:

»Nein. Dies hat Bartolo so angeordnet.«

»Lügt nicht!« meinte der Hauptmann streng. »Meine Leute kennen den Unterschied zwischen einer Kugel und einer Messerklinge zu genau, um freiwillig die Dummheit zu begehn, einen so starken Menschen nur mit dieser anzugreifen. – Ihr habt alles Geräusch vermeiden wollen und den Leuten verboten, zu schießen. Habe ich recht oder nicht?«

»Ihr habt unrecht.«

»Pah! Ich weiß, was ich sage, und lasse mich nicht täuschen, Bartolo und Juanito sind bei einer andern Gelegenheit gefallen. Was sie vermocht hat, die Condesa anzugreifen, das ist mir ein Rätsel, doch will ich annehmen, daß nicht Ihr die Schuld daran tragt. Aber an dem Tod der andern, deren Leichen hier im Park gerichtlich aufgehoben wurden, seid Ihr schuld. Ihr zahlt mir für einen jeden Mann zweihundert Duros, und dann wollen wir über die Angelegenheit weiter verhandeln.«

»Ihr verlangt das Unmögliche!«

»Ihr sollt sehn, daß es sehr gut möglich ist. Die Männer sind in Eurem Dienst gestorben, und Ihr habt zu zahlen. Ich schwöre es Euch, daß mich nichts von dieser Forderung abbringen wird. Ihr kennt mich, und jeder Einwand wird nur die Folge haben, daß ich meine Forderung erhöhe.«

Der Notar schien nachzudenken. Endlich sagte er langsam und lauernd:

»Vielleicht würde ich auf diese Forderung eingehn, wenn ich auch von Euch eine Gefälligkeit erlangen könnte. Es gibt außer dem Arzt noch einen, der mir im Weg ist.«

»Ah! Der verschwinden soll? Wer ist es?«

»Ein Offizier.«

»Donnerwetter, das scheint spannend zu werden! In welcher Garnison steht der Señor?«

»Er steht in keiner Garnison, sondern befindet sich jetzt auf Urlaub. Auch ist er kein Spanier, sondern ein Franzose.«

»Wo ist er zu finden?«

»Hier auf Rodriganda.«

»Und wie heißt er?«

»Alfred de Lautreville.«

»Alfred de – – hm!« brummte der Hauptmann. »Diesen Mann kenne ich nicht.«

»Das glaube ich«, bemerkte der Notar spöttisch. »Übrigens habt Ihr, trotzdem er Euch unbekannt sein muß, doch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Er ist derselbe, der Bartolo und Juanito ermordet hat. Wollt Ihr ihn laufen lassen?«

»Laufen lassen? Fällt mir nicht ein!« sagte der Capitano zögernd. »Aber was ists, was Ihr mit ihm zu schaffen habt?«

»Ich sagte es Euch ja bereits. Er ist mir im Weg. Wollt Ihr dieses Geschäft übernehmen? Wenn ich mich nicht auf Euch verlassen kann, so werde ich mich an einen andern wenden, der mich besser bedienen wird als Ihr und Eure Leute.«

»Den möchte ich kennen! Ich dulde keinen Wettbewerb; das sage ich Euch, Señor! Übrigens gehört dieser Franzose bereits mir, da er zwei meiner Männer getötet hat. Wer mir hier ins Handwerk pfuscht, der hat es mit mir zu tun. Das könnt Ihr Euch merken!«

»Gemach! Heißt das etwa, daß dieser Kerl sich unter Eurem Schutz befindet?«

»Nein«, entgegnete der Hauptmann; »es heißt im Gegenteil, daß er meiner Rache verfallen ist, und diese lasse ich mir nicht nehmen. Er soll verschwinden!«

»Das heißt mit andern Worten: er soll sterben?«

»Sterben? Nein, auf keinen Fall. Ich habe mit ihm andres vor; aber ich gebe Euch mein Wort, daß er Euch nicht lästig fallen soll.«

Der Notar wußte jetzt, woran er war; aber er ließ nicht merken, daß er den Räuber durchschaute, und erwiderte:

»Ich will Euch vertrauen, Capitano. Ich werde Euch also zweihundert Duros für jeden der Toten geben, verlange aber dafür, daß der Deutsche stirbt und der Franzose verschwindet.«

»Ihr sollt Euern Willen haben, habt aber dann für den Deutschen die restlichen fünfhundert nachzuzahlen und für den Franzosen ebensoviel zu entrichten.«

»Ihr seid ein Gauner!«

»Pah!« lachte der Brigant. »Man will ja leben und muß auch andre leben lassen!«

»Gut, Ihr sollt sie nach getaner Arbeit haben!«

»Ich brauche sogleich Geld. Ihr zahlt die Hälfte!«

»Ich habe jetzt kein Geld. Tut Eure Pflicht, dann erhaltet Ihr sogleich das Ganze! Ist Euch dies nicht recht, so muß ich von dem Geschäft absehn.«

»Wenn es so steht, so will ich Rücksicht nehmen«, meinte der Hauptmann zögernd. »Aber glaubt nicht, daß Ihr mich um einen einzigen Duro betrügen könnt!«

»Wann wird es geschehn?«

»Bald; der Tag läßt sich nicht so leicht bestimmen. Habt Ihr noch etwas zu bemerken? Nicht? So sind wir für heute fertig. Lebt wohl, Señor!«

»Gute Nacht!«

Der Bandit verschwand, und der Notar schritt langsam dem Schloß zu.

»Hahaha!« lachte er leise und höhnisch vor sich hin; »du glaubst, mich betrügen zu können, alter Heuchler, aber es soll dir nicht gelingen. Ich werde dir zuvorkommen und die Sache selber in die Hand nehmen!« –

Am andern Morgen trat Elvira in Sternaus Zimmer, um ihm den Kaffee zu bringen.

»Ich danke Euch, Señora«, sagte er. »Gebt mir ein Glas Milch; ich darf keinen Kaffee trinken.«

»Keinen Kaffee?« fragte sie verwundert. »Fühlt Ihr Euch vielleicht krank, lieber Señor?«

»Nein. Es ist etwas andres. Ich habe etwas zu tun, wobei Ruhe aller Nerven erforderlich ist, und Ihr wißt ja, daß der Kaffee das Blut erregt.«

»Das muß etwas sehr Wichtiges sein!«

»Allerdings; bittet Gott, daß es mir gelingen möge, Señora! Ich werde die Augen unsres guten Grafen Manuel operieren.«

Da ließ Elvira das Kaffeebrett zur Erde fallen und schlug erschrocken die Hände zusammen.

»Die Augen operieren!« rief sie. »O Gott! Ist es wahr?«

»Ja. Aber was hat dies mit dem Kaffeebrett zu tun?«

»Ich kann doch das Kaffeebrett nicht mit den Händen über dem Kopf zusammenschlagen! Das sagt Alimpo auch; darum habe ich es fallen lassen.«

»Ihr konntet es ja vorher auf den Tisch stellen. Übrigens ersuche ich Euch, den Verwalter dafür sorgen zu lassen, daß unbedingte Ruhe und Stille im Schloß herrscht. Die Fenster im Krankenzimmer werden nach der Operation sofort verhängt. Wendet Euch in dieser Angelegenheit an die Condesa, die das Nötige veranlassen wird! Und jetzt bitte ich um meine Milch!«

»Ja, ja, die sollt Ihr sofort erhalten, Señor. Oh, was wird mein Alimpo sagen, wenn er von der Operation hört! Ich eile, ich laufe, ich fliege bereits! Gott gebe Gelingen und Segen!«

Sie ließ das zerbrochne Geschirr einstweilen liegen und verließ das Zimmer mit einer Bewegung, die sie ›Fliegen‹ nannte, die aber mehr einem ›Kugeln‹ glich.

Als der Arzt nach einiger Zeit das Empfangszimmer betrat, wurde er von den Anwesenden mit lauten, stürmischen Fragen empfangen.

»Ists wahr, Señor, daß der gnädige Graf heut operiert wird?« fragte Clarissa.

»Ja.«

Da trat der junge Graf an ihn heran und sagte mit finstrer Miene und strengem Ton:

»Señor, ich fordre Euch auf, die Sache noch zu überlegen. Seid Ihr überzeugt, daß Euch die Operation gelingen wird?«

»Nein, aber ich hoffe es.«

»Hoffe es! Also auf Grund einer unbestimmten Hoffnung tretet Ihr an ein so hochwichtiges Unternehmen. Könnt Ihr dies vor Gott und Eurem Gewissen verantworten?«

»Ja«, lautete die ernste und bestimmte Antwort.

»So fordre ich als Sohn des Kranken, daß Ihr Euch wenigstens durch einige hervorragende Operateure unterstützen laßt!«

»Ich habe nicht die mindeste Lust, Szenen zu wiederholen, die glücklicherweise harmlos verliefen, übrigens ist mir der Wunsch Seiner Erlaucht so vollständig maßgebend, daß ich die Ansicht eines zweiten nicht berücksichtigen kann.«

»Oho! Wer hat hier zu befehlen?« fragte Alfonso, »Ich meine doch, hier mehr zu gelten als jeder andre!«

»Und ich als Sachwalter Seiner Erlaucht bin auch nicht gewöhnt, überhört zu werden!« fügte Cortejo hinzu.

Sternau machte eine abwehrende Handbewegung und erwiderte sehr ernst und nachdrücklich:

»Señores, ich gebe euch zu bedenken, daß nur der Arzt zu befehlen hat, kein andrer! Die Operation wird in zehn Minuten beginnen. Ich muß jede Störung scharf zurückweisen.«

»Das wollen wir sehn!« rief Alfonso.

»Ja, das werden wir sehn!« erklang die Antwort. »Ich weise Euch darauf hin, daß die kleinste Aufregung dem Grafen gefährlich werden muß, und ich mache Euch verantwortlich für alles, was geschehn könnte!«

»Wir werden der Operation beiwohnen!« meinte der Graf Alfonso.

»Ich werde einiger Handreichungen bedürfen; wer diese zu leisten hat, habe nur ich zu bestimmen. Ich erkläre mit Aufrichtigkeit, daß es mir scheint, als ob es hier Personen gebe, die an einer Wiederherstellung Seiner Erlaucht keinen Gefallen finden, und werde demnach meine Maßregeln treffen. Condesa Roseta, darf ich Euch bitten, mir bei der Operation behilflich zu sein?«

»Oh, wie gern werde ich dies tun, wenn es in meinen Kräften steht!« bejahte sie.

»Es wird nicht über Eure Kräfte gehn. Weibliche Hilfe ist notwendig. Vielleicht ist Miß Amy so freundlich, sich Euch anzuschließen?«

»Ich danke Euch, daß Ihr mir dieses Vertrauen schenkt!« antwortete die Engländerin zustimmend.

»Und ich?« fragte Clarissa.

»Euch darf ich nicht bemühen, Señora!« erklärte Sternau kurz und kalt. »Eure Nerven entbehren der notwendigen Festigkeit. Ihr wurdet beim Anblick meiner kleinen Wunde so schwach, daß ich Euch stützen mußte. Wie wollt Ihr es bei einer lange Zeit in Anspruch nehmenden Operation aushalten!«

»Aber ich muß ganz entschieden darauf dringen, dabeizusein!« sagte Alfonso.

»Und ich muß es Euch ganz entschieden verweigern. Ich brauche keine Zuschauer. Nur einen einzigen Herrn werde ich um eine kleine Gefälligkeit ersuchen. Señor de Lautreville, darf ich mich an Euch wenden?«

»Ich bin gern zu Diensten«, entgegnete Mariano schnell.

»Ich habe Euch eine Bitte vorzutragen, aber ich bin überzeugt, daß Ihr mir diese erfüllen werdet. Ihr kennt die Fenster, die zu den Zimmern Seiner Erlaucht gehören?«

»Ja.«

»Dann bitte, richtet es ein, unter diesen Fenstern während der Operation einen kleinen Spaziergang zu machen. Eure Anwesenheit wird mir die beste Bürgschaft sein, daß jede gefährliche Störung von dieser Seite abgehalten wird.«

Der Leutnant verneigte sich mit einem verständnisvollen Blick und sagte:

»Ich errate, was Ihr meint, und stelle mich gern zur Verfügung, denn es kann nur eine Ehre für mich sein, einen Vorgang in Schutz zu nehmen, der einem edlen Mann das kostbare Gut des Augenlichts wiedergeben soll.«

»Eine Ehre?« fragte Alfonso höhnisch. »Eine Schande ist es, sich als Kettenhund eines Arztes brauchen zu lassen.«

Da trat Mariano mit zwei raschen Schritten auf ihn zu und fragte:

»Werdet Ihr dieses Wort augenblicklich zurücknehmen?«

»Nein!« lautete die zornige Antwort. »Ich wiederhole es sogar!«

»Wohl, so werdet Ihr mir diejenige Antwort geben, die unter Kavalieren gebräuchlich ist!«

»Ihr? Ein Kavalier?« rief Alfonso. »Ihr seid ja –«

Er konnte nicht weiterreden, denn der Notar trat auf ihn zu und legte ihm die Hand fest auf den Mund.

»Halt, Graf!« warnte er. »Wir haben weder die richtige Zeit, noch den rechten Ort zu einem solchen Gespräch.«

»Das ist auch meine Meinung«, erklärte der Arzt. »Übrigens, Señor de Lautreville, wenn Ihr eines Sekundanten bedürft, so stelle ich mich Euch gern zur Verfügung. Ich ersuche Euch und die Damen, mir zu folgen.«

Die beiden Mädchen waren so bestürzt und erschrocken, daß sie ihm wortlos folgten; auch der Leutnant ging, ohne einen einzigen Blick auf die Zurückbleibenden zu richten. Diese warteten lautlos, bis die Schritte der sich Entfernenden verklungen waren, dann sagte der Notar:

»Unvorsichtiger! Fast hättest du alles verraten!«

»Was hätte dies geschadet?« grollte Alfonso. »Welche Wonne, die Gesichter dieser Menschen zu sehn, wenn sie erfahren hätten, daß der Kerl ein Räuber ist!«

»Und welche Wonne, wenn er ihnen dann gesagt hätte, daß er an deine Stelle gehört. Er ahnt dies nicht bloß, sondern er weiß es sogar und scheint nur noch entdecken zu wollen, welcher Abstammung du bist. Ich werde dafür sorgen, daß er uns nicht mehr belästigen kann.«

»Und dieser Mensch, dieser Arzt!« zürnte Clarissa. »Trat er nicht auf, als ob er Herr von Rodriganda sei?«

»Wie er dafür sorgte, daß keine Störung eintreten kann!« grollte der Notar. »Und doch, dennoch soll die Heilung gestört werden. Er hat selbst gesagt, daß jede Aufregung dem Kranken schädlich werden könne. Oh, wir werden bemüht sein, eine Aufregung hervorzubringen, die groß genug ist, die Operation wieder auszugleichen.« –

Während im Empfangszimmer diese feindseligen Worte fielen, trat der Arzt mit den beiden Damen beim Grafen ein. Er stellte zwei Diener vor die Tür des Vorzimmers und verschloß diese. Der Graf hatte ihn bereits erwartet und erwiderte seinen Gruß mit Freundlichkeit.

»Wen bringt Ihr mit, Señor?« fragte er, als er den Schritt der Damen hörte.

»Condesa Roseta und Miß Amy Dryden, auf deren Hände ich mich mehr verlassen kann als auf andre Hilfe.«

»Ich danke Euch, Doktor! Ihr seid meinem Herzenswunsch entgegengekommen. Wo ist mein Sohn?«

»Er befindet sich im Empfangszimmer und läßt sich entschuldigen. Ich mußte mir seine Begleitung verbitten.«

»Werden die Damen standhaft genug sein, Señor?«

»Ich glaube, Euch darüber beruhigen zu können. Die Damen haben mir nur kleine Handreichungen zu leisten. Gestattet mir aber die Frage, in welcher Stimmung Ihr Euch befindet.«

Über das Gesicht des Grafen ging ein helles, vertrauensvolles Lächeln, und er antwortete, indem er die Hände faltete:

»Ich bin mit mir und meinem Gott zu Rat gegangen und lege mein Schicksal ohne Zagen in Eure Hände. Der Schlaf bemächtigt sich des Körpers; aber der Geist beschäftigt sich im Traum mit allem, was man im Wachen fühlt, denkt und tut. Es träumte mir, daß Ihr mir die Augen öffnetet. Ich sah die schöne Gotteswelt; ich erblickte das Angesicht meines guten Kindes; ich sah auch Euch und den Leutnant – aber«, setzte er seufzend hinzu, »ich sah nicht meinen Sohn, sondern einen Fremden, dessen Angesicht und Rede ich nicht verstand. Was habt Ihr da? Ich höre es klirren.«

»Es sind meine Instrumente.«

»Diese Instrumente erschrecken mich nicht. Sie sind Gehilfen Eures Geistes und Eurer Geschicklichkeit, die ich liebhaben muß und denen ich mich gern anvertraue. Wann können wir beginnen?«

»Sogleich.«

Sternau gab dem Ruhebett, das der Graf einnehmen sollte, die richtige Lage, legte die Instrumente handlich zurecht und erklärte den Damen, worin die Hilfeleistungen bestanden, die er von ihnen erwartete. Als er sich nun nochmals überzeugt hatte, daß nichts vergessen sei, trat er ans Fenster. Roseta umarmte leise den Vater und flüsterte ihm zu, während einige schwere Tränentropfen aus ihrem Auge auf seine Wangen fielen:

»Vater, er betet.«

»Ich ahnte es«, antwortete er ebenso leise.

Außer den drei Verschworenen gab es in diesem Augenblick wohl keinen Menschen im Schloß, der nicht aus Herzensgrund gebetet hätte, daß das schwere Werk gelingen möge.

Auch der Leutnant, der mit leisen Schritten unter den Fenstern hin und her ging, hatte unwillkürlich die Hände gefaltet.

»Herr, mein Gott,« flüsterte er inbrünstig, »sei barmherzig! Gib dem Kranken den Anblick des Sonnenlichts wieder, und ich will dich preisen in Ewigkeit. Amen!«

Eine halbe Stunde war bereits vergangen, seit Mariano sich auf seinem Posten befand, da trat der junge Graf aus dem Portal. Er hatte sich zur Jagd gerüstet und führte zwei Hunde an der Leine. Die Diener schüttelten die Köpfe, daß dieser Mann es über sein Herz brachte, auf die Jagd zu gehn, während das Schicksal seines Vaters entschieden wurde.

Eben als er in der Nähe des Leutnants vorüberging, erblickte er auf dem Gipfel eines Baums eine Krähe. Rasch riß er das Doppelgewehr von der Schulter und legte an.

»Ein schönes Ziel! Paßt auf den Vogel, Pluto, Pollux! Apport!«

Er wollte losdrücken, kam aber nicht dazu.

»Schurke!« klang nämlich eine Stimme an sein Ohr. Weiter hörte er nichts, sondern es brauste und rauschte um ihn; es wurde ihm blutrot vor den Augen, und der Atem verging ihm.

Mariano war herbeigesprungen, hatte ihm die Hand um die Kehle gelegt und mit der andern das Gewehr ergriffen. Unter einem gewaltigen Faustdruck sank der junge Graf lautlos zu Boden.

Einige der Diener hatten es gesehn und kamen herbei. Unter ihnen befand sich auch der Schloßverwalter.

»Oh, heilige Madonna, er wollte schießen!« wehklagte der brave Alimpo. »Er wollte den Señor Doktor stören! Das sagt auch meine Elvira! Was sollen wir mit ihm tun?«

»Nichts«, erwiderte der Leutnant. »Wenn ihr euch an ihm vergreift, so wird er sich an euch rächen!«

»So ist er noch nicht ganz tot?«

»Nein. Es fehlt ihm nur der Atem.«

»Ah, wenn er tot wäre – ah – ah – das wäre – das wäre jammerschade um den jungen Herrn!«

Man sah es dem guten Verwalter an, daß er eigentlich das Gegenteil hatte sagen wollen.

»Bekümmert euch nicht um ihn! Ich werde ihn dahin bringen, wo er nicht schaden kann.«

Der Leutnant hob Alfonso auf, trug ihn in das Schloß, stieg eine Treppe hinab, legte ihn in eins der dort befindlichen Kellergewölbe, das er verschloß, zog den Schlüssel ab und begab sich wieder auf seinen Posten.

Nur wenige Augenblicke später wurde die Verwalterin zur Condesa in die Zimmer des Grafen beordert. Als sie die Krankenstube mit unhörbaren Schritten betrat, saß der Graf in einem tiefen Polsterstuhl, und der Arzt war beschäftigt, ihm die Binde zurechtzurücken.

»Nun alles verhängen«, sagte dieser. »Ich brauchte bisher das Licht; jetzt aber müssen sogar die hellen Wände verdeckt werden – aber ohne Geräusch, bitte ich!«

Es herrschte noch der eigentümliche Geruch des Chloroforms im Raum. Das Gesicht des Grafen war, soweit man es sehn konnte, leichenblaß, seine Stimme klang leise, aber doch fest, als er fragte:

»Doktor, – ist es – ist es gelungen? Darf ich hoffen?«

»Hm, ja.«

»Ein wenig?«

»Ganz, nachdem Ihr Euch verhaltet: gar nichts, ein wenig, oder auch sehr viel. Ich bitte Euch, recht ruhig zu sein. Morgen werde ich mehr sagen können.«

Der Graf seufzte leise. Aber Roseta faßte die Hand des Arztes und flüsterte, dem Vater unhörbar:

»Bitte, mir gegenüber aufrichtig zu sein!«

Da leuchtete es wie eine stolze Freude aus dem Angesicht des Arztes; seine Brust hob sich unter einem tiefen, erlösenden Atemzug, und er erwiderte, ebenso flüsternd:

»Es ist gelungen!«

»Oh, mein Gott, er wird sehn lernen?«

»Ja; aber pst, leise! Die Freude ist ebenso gefährlich wie jede andre Erregung.«

Da konnte sie sich nicht halten. Trotz der Gegenwart der Freundin und der Verwalterin legte sie ihre Arme um ihn und bot ihm ihre Lippen zum leisen Kuß.

Die gute Elvira hätte, als sie dieses sah, beinah vor Überraschung laut aufgeschrien; sie bezwang sich jedoch glücklicherweise noch und tröstete sich mit dem Gedanken:

»Das soll mein Alimpo erfahren. Oh, heilige Laureta, wie wird er sich wundern und freuen!«

Auch Miß Amy war erstaunt. Der Arzt verließ das Zimmer auf einige Augenblicke, um den Leutnant abzulösen.

»Ah, fertig, Señor?« fragte dieser, als er ihn bemerkte. »Und wie ist – – ach, ich brauche nicht zu fragen; Eure Augen sagen deutlich, daß Ihr glücklich seid.«

»Die Operation ist noch besser gelungen, als ich erwartete; dies muß jedoch dem Kranken noch verschwiegen bleiben. Was ist dies für ein Gewehr?«

»Es gehört Don Alfonso, den ich festgenommen habe«, antwortete Mariano finster.

»Festgenommen? Weshalb?«

Der Leutnant erzählte das Vorkommnis, und der Arzt hörte mit wachsendem Zorn zu.

»Welch ein Mensch!« rief er. »Welch eine Schändlichkeit! Ohne Absicht kann dies gar nicht geschehn sein! Und das will der Sohn seines Vaters sein!«

Mariano hätte jetzt eine Bemerkung machen können, aber er hielt an sich und schwieg. Der Arzt fuhr fort:

»Was beabsichtigt Ihr nun, mit ihm zu beginnen?«

»Das zu bestimmen, überlasse ich Euch, Señor. Ihr müßt am besten wissen, ob er schädlich ist.«

»Hätte er vorhin geschossen, so war es sehr leicht möglich, daß der Graf aus der Betäubung erwachte und die Operation gefährdet wurde. Jetzt aber – hm, führt mich zu ihm! Ich werde mit ihm sprechen.«

Sie gingen nach dem Gewölbe, das der Leutnant öffnete. Graf Alfonso hatte ihr Kommen gehört und stand hinter der Tür. Er wollte sich mit beiden Fäusten auf Mariano stürzen, aber in demselben Augenblick faßte ihn der Arzt bei den Armen und hielt ihn so fest, daß er sich kaum regen konnte.

»Räuber! Banditen!« knirschte er in ohnmächtiger Wut.

»Schimpft so viel Ihr wollt, Señor!« sagte Sternau. »Was so ein Mensch sagt, wie Ihr seid, berührt uns nicht. Wir werden Euch wieder freilassen; vorher aber habe ich noch ein Wort mit Euch zu reden.«

»Packt Euch fort, Ihr Schurken! Ich lasse Euch aus der Tür werfen!«

»Nur ruhig, mein Lieber! Ich lasse Euch nicht eher los, als bis Ihr mich ruhig angehört habt.«

»So redet!« herrschte Alfonso den Arzt an.

»Ich habe Euch zu sagen, daß Euer Verhalten mir äußerst verdächtig vorkommt. Ich kann zwar die Ursache nicht ergründen, aber wenn Ihr Euch Eurem Vater naht, ehe ich es erlaube, oder wenn Ihr das Geringste unternehmt, was ihm schaden könnte, so mache ich Euer Verhalten in den Blättern öffentlich bekannt und übergebe Euch dem Gericht!«

»Tut es doch, tut es!« rief er. »Ich werde Euch beide dann dafür auspeitschen lassen!«

Das war dem Leutnant denn doch zu viel. Er hatte sein Geheimnis aufs strengste bewahren wollen, jetzt aber konnte er sich doch nicht ganz beherrschen. Er legte Alfonso die Faust auf die Achsel und sagte:

»Mensch, wage noch eine solche Drohung, so schlage ich dich zu Boden! Meinst du etwa, das Gericht nicht fürchten zu müssen, du und deine saubern Eltern? Der Staatsankläger mag entscheiden, ob du wirklich ein geborner Graf de Rodriganda y Sevilla bist! Packe dich, Bursche!«

Er gab Alfonso einen so fürchterlichen Hieb, daß der Getroffne aus den Händen des Arztes an die Mauer flog. Er taumelte zurück, raffte sich jedoch schnell auf und sprang die Treppe empor.

»Mein Gott, was war das?« fragte der Arzt. »Der Mensch ist nicht der Sohn des Grafen Manuel?«

Jetzt erst merkte der junge Mann den Fehler, den er begangen hatte. Er fuhr sich mit der Hand nach der glühenden Stirn und sagte:

»Señor, könnt Ihr schweigen?«

»Ja«, sagte Sternau einfach und herzlich.

»Ihr seid ein ganzer Mann. Wollt Ihr mein Freund sein?«

»Sehr gern! Hier ist meine Hand!«

»So erfüllt mir eine Bitte!« bat Mariano, in die Rechte des Arztes einschlagend. »Schweigt jetzt noch von dem, was Ihr gehört habt!«

»Gut, ich werde schweigen, doch unter der Bedingung, daß ich als Freund später auf Euer Vertrauen rechnen kann.«

»Das könnt Ihr, ja, bei Gott, das könnt Ihr, Señor.«

»So mag diese Angelegenheit einstweilen ruhn, obgleich ich mich in Gedanken sehr mit ihr beschäftigen werde. Jetzt aber muß ich schleunigst zum Grafen, denn ich muß gewärtig sein, daß dieser Alfonso zu ihm gegangen ist, um meine Erfolge zunichte zu machen.«

Sternau fand glücklicherweise, daß Alfonso diesen Weg nicht eingeschlagen hatte. Er war vielmehr sogleich zu Señora Clarissa geeilt.

»Mutter,« rief er beim Eintreten, »schicke sofort zum Vater! Es ist etwas Unerhörtes geschehn.«

Clarissa fuhr erschrocken von ihrem Sitz auf.

»Oh, du gütiger Himmel, welche Unvorsichtigkeit!« zürnte sie. »Du schreist ja, als ob dich niemand hören könnte. Was ist geschehn?«

»Eine Ruchlosigkeit, wie es keine zweite gibt, eine Nichtswürdigkeit sondergleichen! – Deine Zofe war nicht im Vorzimmer, ich werde den Vater gleich selber holen.«

Alfonso eilte fort und kehrte in kurzer Zeit mit dem Notar zurück, um zu erzählen, was ihm widerfahren war. Die beiden Alten erschraken auf das äußerste.

»Was tue ich? Sagt es mir!« rief Alfonso noch immer erregt.

Da erhob sich der Notar und sprach in strengstem Ton:

»Schweigen, ja schweigen sollst du! Du hast einen fürchterlichen Fehler begangen. Wer hat dir befohlen, unter dem Fenster des Grafen zu schießen, he? Du bringst dich, uns und unsern ganzen Plan in Gefahr. Hier gibt es keine andre Hilfe, ich muß sofort nach Barcelona zum Kapitän Landola. Ich habe soeben eine Depesche erhalten, daß er nicht kommen kann, da er das Ausladen seiner Güter überwachen muß. Der Steuermann, dem diese Arbeit eigentlich zufällt, ist krank geworden.«

»Wann reist du?« fragte Clarissa.

»Bereits in einer halben Stunde. Aber ich verlange Gehorsam, Alfonso. Höre ich von einer weitern Unvorsichtigkeit, so zieh ich meine Hand von dir ab. Verstanden, Bursche? Jetzt geh!«

Das hatte Alfonso nicht erwartet. So hatte sein Vater noch nie mit ihm gesprochen. Er verließ das Gemach, ohne ein Wort der Entgegnung zu wagen.

*

Es war drei Tage später, als in der frühen Morgenstunde Sternau mit dem Leutnant im Park spazierenging. Er hatte während dieser Tage den Grafen keinen Augenblick verlassen und jetzt zum erstenmal ein wenig frische Luft schöpfen wollen.

Sie trafen vor einem Blumenbeet die Verwalterin, die Blüten in die Schürze pflückte.

»Guten Morgen, Señores!« rief sie ihnen bereits von weitem entgegen. »Seht diese prachtvollen Rosen! Ja, am heutigen Tag muß man die schönsten pflücken, das sagt mein Alimpo auch.«

»Was ists mit dem heutigen Tag?« fragte Sternau.

»Wie? Das wißt Ihr nicht?« fragte sie erstaunt. »Daß der Geburtstag unsrer lieben, gnädigen Condesa ist?«

»Ah! Wirklich? Oh, da muß man ihr ja Glück wünschen.«

»Natürlich! Sie ist bereits längst munter. Auch der gnädige Herr sind wach und haben mich eben in den Garten geschickt. Er will ihr in seinem Zimmer bescheren.«

»Davon hat er mir ja gar nichts gesagt!« meinte der Arzt.

»Vielleicht hat er auch Euch überraschen wollen. Die Geschenke sind gestern angekommen. Geht hinauf, Señor, Ihr könnt mit Blumen legen helfen!«

Fünf Minuten später befand sich Sternau beim Grafen und war beschäftigt, diesen und die Verwalterin beim Ordnen der reichen Geschenke zu unterstützen. Dann ging Frau Elvira, um Roseta zu holen. Sternau wollte sich zurückziehn, aber der Graf gab es nicht zu.

»Bleibt, Doktor!« bat er. »Eure Gegenwart macht mir die Freude zu einer doppelten.«

Die Condesa erschien. Sie trug ein einfaches weißes Kleid. Sie reichte beiden Männern die Hand, freute sich kindlich über die Überraschung und dankte dem Vater durch eine innige Umarmung.

»Elvira sagte mir, daß auch Ihr besorgt gewesen seid, mich zu erfreuen. Ich danke Euch«, wandte sie sich jetzt zu Sternau.

Dieser zog die Hand, die sie ihm nochmals reichte, an die Lippen und entgegnete:

»Was ich tat, ist nur eine Kleinigkeit, aber wenn Ihr es mir gestattet, so würde ich es wagen, diesen Tag mit einer wirklichen Gabe zu feiern. Darf ich?«

Sie errötete, sagte aber:

»Aus Eurer Hand ist mir jede Gabe, auch die kleinste, wert.«

»So wollen wir es wagen. Gott gebe seinen Segen!«

Damit trat Sternau zu dem Grafen. »Wendet Euch vom Fenster ab, Erlaucht!« bat er erwartungsvoll.

Und langsam und vorsichtig nahm er ihm die Binde von den Augen.

»Seht Ihr Euer Kind?«

Die Frage klang so feierlich, daß der Graf die Augen noch geschlossen hielt, als die Binde bereits entfernt war. Er stand an dem mit Blumen bedeckten Tisch, auf den er sich mit der Hand stützte, und wußte nicht, wie ihm geschah. Doch endlich faßte er sich und flüsterte:

»Welch großer Tag! Welch heiliger Augenblick! Mein Jesus, laß es gelingen!«

Zitternd am ganzen Körper schlug er langsam die Augen auf. Sternau stand hinter ihm und konnte sein Angesicht nicht beobachten, aber er sah, daß sich die Arme des Grafen erhoben, daß er einige Schritte vorwärts trat, der Tochter entgegen, und mit inniger Genugtuung hörte er ihn rufen:

»Heiliger Himmel! Ists wahr? Ists kein Traum? Ich sehe! Señor, Doktor, ist dies Wirklichkeit?«

»Es ist Wirklichkeit!«

»Vater, du siehst mich! Ich merke es deinen Augen an!« jubelte Roseta.

Sie warf sich in die Arme ihres Vaters. Diesen übermannte es so, daß er in das Polster des Diwans sank und die Augen schloß.

»Um Gott,« rief da Roseta, »er ist ohnmächtig, es wird ihm und seinen Augen schaden.«

»Habt keine Sorge, Condesa!« bat jedoch Sternau. »Er ist nur erschüttert, aber nicht ohnmächtig. Und seine Augen sind gesund, sie halten diese Freude sicher aus.«

»Ja, sie halten sie aus!« flüsterte der Graf mit seligem Lächeln. »Ich fühle es. Ich darf sie öffnen.«

Und wiederum schlug er die Augen langsam auf. Roseta wechselte mit Jubeln und Weinen, sie küßte die Augen ihres Vaters, sie sprang von diesem weg und warf sich unbesorgt in die Arme Sternaus, sie eilte zurück, um mit lauten Ausrufen den Vater abermals zu umfangen. Dieser konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er drückte sie an sich, er herzte sie, er nannte sie bei den süßesten Namen. Endlich rief er, sich auf seine Pflicht besinnend:

»Aber Señor, Euch vergesse ich ja ganz und gar! Bitte, tretet näher, daß ich den Mann sehe, dem ich dies alles zu verdanken habe!«

Sternau trat zu ihm und reichte ihm die Hand. Der Graf blickte ihm lange Zeit wortlos ins Angesicht.

»Ja«, sagte er endlich, »so habe ich Euch mir gedacht. Señor, ich kann Euch nicht danken, aber ich gehöre Euch solange ich lebe!«

Damit zog er Sternau an sich und küßte ihn, als ob er einen Sohn vor sich habe.

»Und nun die andern, Señor!« bat er.

»Don Manuel, laßt es einstweilen genug sein«, entgegnete der Arzt. »Schont Euch, und wartet bis zum Nachmittag! Diese Entsagung wird sich belohnen.«

»Auch meinen Sohn nicht?«

»Auch diesen nicht!« bat Sternau, dem plötzlich ein Gedanke durch den Kopf ging. »Condesa Roseta gehört ja Euch, die andern seht Ihr in der Dämmerstunde, wenn die Sonnenstrahlen ihre Schärfe verloren haben. Bitte, gehorcht mir nur noch diesmal!«

»Ich gehorche«, sagte der Graf. »Aber ich will mich nicht allein freuen. Roseta, sorge dafür, daß ganz Rodriganda sich freut! Man soll ein Fest feiern; ein großes Fest, und wer eine Bitte hat, der soll sie dir sagen, nicht Señor Gasparino oder Alfonso, sondern dir, und wenn es möglich ist, so werde ich sie erfüllen. Alle meine Beamten sollen heut ein Monatsgehalt umsonst bekommen. Oh, ich werde – ich werde –«

Er sann nach und wandte sich an Sternau:

»Señor, habt Ihr Verwandte?«

»Eine Mutter und eine Schwester«, lautete die Antwort.

»In Deutschland?«

»Ja, in Mainz.«

»Glaubt Ihr, daß ich lesen kann?«

»Ihr könnt es, aber Ihr dürft es noch nicht.«

»Auch nicht ein paar Worte?«

»Das kann ich gestatten.«

»Oder schreiben? Nur eine Zeile oder zwei, mehr nicht!«

»Ist es sehr notwendig?«

»Ja.«

»So schreibt, aber nicht gegen das Fenster gewandt!«

Der Graf trat an seinen Schreibtisch, zog ein Blankett hervor und füllte es aus. Dann legte er es zusammen und reichte es seiner Tochter.

»Hier, Roseta, mein Kind,« sagte er, »bitte ihn, daß er diese Worte als eine Erinnerung an den heutigen Tag annehme, nicht von mir, sondern von dir, und nicht für sich, sondern für seine Mutter und Schwester! Was er getan hat, muß unvergolten bleiben, aber seiner Mutter und Schwester dürfen wir sagen, wie lieb wir ihn haben, und wie unvergeßlich er uns sein wird!«

Sie nahm den Zettel und überreichte ihn Sternau, der die Hand abwehrend ausstreckte.

»Ich wußte es,« sagte sie errötend, »aber versteht mich recht: nicht Euch soll eine Gabe werden, sondern Ihr sollt uns eine Freundlichkeit erweisen, und Ihr habt nicht das Recht, etwas zurückzuweisen, was nicht Euch, sondern andern gehören soll.«

Und als er in seiner Haltung verharrte, trat sie ganz nah an ihn heran, legte ihm das Papier in die Hand und hauchte fast unhörbar:

»Carlos, bitte, nimm es!«

Da konnte er nicht widerstehn. Er gab den beiden eine Hand des Dankes. Dann ging er, und erst als er auf sein Zimmer kam, sah er, daß er eine Anweisung auf fünfundzwanzigtausend Silberpiaster in den Händen hielt, ein wahrhaft fürstliches Honorar, das ihn sofort zum selbständigen Mann machte.

Roseta meinte, da er den Grafen so schnell verlassen hatte, daß er beleidigt sei.

»Weißt du Vater,« sagte sie, »daß du ihn gekränkt hast?«

»Ich glaube nicht, mein Kind. Er soll nicht das Geld, sondern die Gesinnung beachten. Mein Herz ist zum Zerspringen, und ich konnte nicht anders. Es soll kein Honorar, keine Bezahlung sein, es ist ja alles sein, was mir gehört, sage ihm dies noch besonders, Roseta! Jetzt aber eile und sorge dafür, daß man sich mit mir freue!«


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