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17. Im Gefängnis

Nun saß Sternau in seinem Zimmer. Er wollte arbeiten, aber es ging nicht; immer und immer wieder mußte er an die letzten Ereignisse denken, und diese Gedanken beschäftigten ihn so sehr, daß er ein Klopfen an seiner Tür überhörte und erst dann darauf aufmerksam wurde, als es sich wiederholte.

»Herein!« rief er.

Die Tür öffnete sich, und der Arzt wunderte sich, einen fremden Mann zu sehn, der es vergessen zu haben schien, sich vorher anmelden zu lassen.

»Wer seid Ihr?« wandte er sich an den Eingetretnen.

»Habe ich die Ehre mit Señor Sternau, dem Arzt des Grafen Manuel?« fragte der Fremde anstatt der Antwort.

»Ja.«

»Die Gräfin Roseta de Rodriganda sendet mich.«

»Oh! Wunderbar! Sie ist nach Pons.«

»Allerdings. Sie ist bei mir eingekehrt und schickt mich, um Euch zu bitten, nachzukommen.«

»Weshalb?«

»Das sagte sie nicht. Es war noch eine Dame bei ihr.«

»Das ist richtig. Ihr seid ein Gastwirt?«

»Ja. In Elbrida zwischen hier und Manresa.«

»Seid Ihr mit dem Geschirr der Gräfin gefahren?«

»Nein. Sie wollte ihre Pferde nicht unnütz ermüden.«

»Setzt Euch! Ich bin sogleich fertig.«

Sternau war hier gewöhnt worden, vorsichtig zu handeln, aber es konnte der Gräfin unterwegs etwas begegnet sein, daß sie seine Gegenwart wünschte. Er legte also andre Kleider an, versperrte seine Möbel und ging mit dem Fremden vor die Pforte, wo eine geschlossene zweispännige Kutsche hielt. Dann stiegen sie ein und fuhren ab.

Droben am Fenster stand der Advokat mit seinen beiden Verbündeten.

»Er steigt ein«, sagte er hohnlächelnd.

»Jetzt geht es fort«, bemerkte Alfonso.

»Er ist gefangen«, fügte Clarissa bei. »Du hattest den prächtigen Gedanken, daß der Corregidor sich für einen Wirt ausgeben sollte, mein teurer Gasparino.«

»Ich möchte das Gesicht sehn, das er macht, wenn er die Wahrheit erfährt«, lachte Alfonso.

Unterdessen fuhr die Kutsche eine Strecke auf der Straße von Manresa dahin, dann aber bog sie nach rechts ein und lenkte nach der Barcelonaer Landstraße hinüber.

»Der Kutscher fährt falsch!« bemerkte Sternau.

»Er fährt richtig«, entgegnete der Fremde.

»Nach Manresa?«

»Nach Barcelona.«

»Ah! Ich denke, daß wir nach Elbrida fahren.«

»Nein. Wir fahren nach Barcelona.«

»Señor, wer seid Ihr? Was wollt Ihr mit mir?«

»Wer ich bin? Ich bin der Corregidor von Manresa. Was ich will? Euch nach Barcelona bringen. Der Juez de lo criminal will mit Euch sprechen.«

»Der Kriminalrichter? Worüber?«

»Ich weiß es nicht. Ihr werdet es hören.«

»Ihr habt mich belogen, Señor.«

»Nur eine kleine List, die wir oft anwenden, um Weitläufigkeiten zu vermeiden.«

»Und wenn ich mich weigere, Euch zu folgen?«

»Das hilft Euch nichts. Blickt durch das Wagenfenster nach rückwärts, so werdet Ihr sehn, daß uns vier berittene Schutzleute mit geladenen Gewehren auf dem Fuß folgen.«

»Alle Teufel! Das sieht ja aus, als ob Ihr einen schweren Verbrecher fortschafftet.«

»O nein. Das ist nur eine kleine Formsache, Señor. Ich weiß bestimmt, daß Ihr heute wieder zurückkehrt, aber Ihr seid ein Ausländer, und ich muß Euch bringen; daher die Begleitung.«

»Ich selber würde mich vor dieser Begleitung nicht fürchten, Señor Corregidor, aber ich habe ein gutes Gewissen und gehe also mit, ohne an eine Widersetzlichkeit zu denken.«

»Das ist das beste, Señor. Man darf seine Lage niemals falsch beurteilen oder gar verschlimmern. Vielleicht fahrt Ihr gleich wieder mit mir zurück. Ich würde mich freuen, Eure Gesellschaft auch auf dem Rückweg genießen zu können.«

»Weiß man in Rodriganda, wohin Ihr mich führt?« fragte Sternau.

»Ja.«

»Wem habt Ihr es gemeldet?«

»Einigen Dienern.«

Auch dies war nicht wahr, denn außer den drei Verbündeten wußte kein Mensch, wohin der Wagen gefahren war. Übrigens hatte hiermit das kurze Gespräch ein Ende. Sternau versank in allerlei Vermutungen, und der Beamte schien keine Lust zu haben, eine neue Unterhaltung zu beginnen.

Am späten Nachmittag kam man in Barcelona an, und die Kutsche hielt vor einem düstern, altertümlichen Gebäude, dessen wenige Vorderfenster mit dicken Eisenstäben vergittert waren.

»Steigt hier aus!« sagte der Beamte.

Als Sternau den Wagen verlassen hatte, bemerkte er wiederum die vier Schutzleute, die diesem gefolgt waren. Er wurde von ihnen durch einen Torgang in einen düstern Flur begleitet, dann eine enge, schmale Wendeltreppe emporgeführt und trat darauf in ein großes, ödes Zimmer, das nur ein Fenster, aber viele Seitentüren hatte.

»Wartet, Señor!« sagte der Corregidor.

Dabei klopfte er an eine der Türen und verschwand dahinter, während die Schutzleute zurückblieben. Es dauerte lange, ehe der Beamte wieder erschien.

»Tretet hier ein!« sagte er kurz, indem er auf den Eingang deutete, aus dem er gekommen war. Hinter Sternau verschloß er die Tür.

Jetzt befand sich der Arzt in einem Zimmer, dessen zwei Fenster ebenfalls vergittert waren. An drei Wänden standen große Aktenschränke, und vor dem einen Fenster erblickte er einen mächtigen Schreibtisch, an dem ein kleines, zusammengetrocknetes Männchen saß, das ihn über eine mächtige Hornbrille hinweg mit giftigem Blick musterte.

Nach einiger Zeit nahm dieses Männchen einen Bogen Papier und eine Feder zur Hand und fragte:

»Wie heißt Ihr?«

»Karl Sternau.«

»Aus?«

»Mainz.«

»Wo liegt das?«

»In Deutschland.«

»Ah! Also ein Deutscher! Was seid Ihr?«

»Ich bin Arzt. Aber gestattet mir doch auch eine Frage! Wer seid Ihr, und was soll ich hier?«

»Ich bin Juez de lo criminal, so habt Ihr mich zu nennen, und was Ihr hier sollt, das werdet Ihr im Verlauf des Verhörs erfahren.«

»Ein Verhör! Das klingt ja, als ob ich mich in Untersuchung befände!«

»Das klingt nicht nur so, sondern das ist sogar wirklich so«, erwiderte das Männchen, ihm mit den Augen schadenfroh zublinzelnd. »Übrigens glaubt nur nicht, daß Ihr hier seid, um Fragen zu stellen! Ich bin es, der fragt, und Ihr seid es, der zu antworten hat. Wie alt seid Ihr?«

»Dreißig.«

»Seid Ihr bereits einmal bestraft?«

»Nein.«

»Seid Ihr verheiratet?«

»Nein.«

»Habt Ihr Vermögen?«

»Nein.«

»Ah! Wirklich nicht?« fragte der Richter lauernd.

»Nein.«

»Wie groß ist Eure Barschaft?«

»Vielleicht dreißig Duros.«

»Gebt einmal her!«

Sternau gab seine Börse hin, und der Beamte zählte ihren Inhalt durch, dann verzeichnete er die Summe, wie er auch jede Antwort Sternaus aufgeschrieben hatte.

»Wo war in der letzten Zeit Euer Aufenthalt?« fragte er darauf.

»Auf Rodriganda.«

»Und vorher?«

»In Paris.«

»Warum bliebt Ihr nicht in Paris?«

»Weil ich nach Rodriganda gerufen wurde, um Don Manuel in seiner Krankheit zu behandeln.«

»Habt Ihr ihn behandelt?«

»Ja.«

»Durftet Ihr das?«

»Wer sollte es mir wehren?«

»Ich!« sagte der kleine Mann mit Nachdruck. »Wart Ihr als Arzt in Rodriganda angestellt? Hattet Ihr eine behördliche Genehmigung?«

»Nein.«

»In Spanien eine Prüfung bestanden?«

»Nein.«

»In Spanien Einkommensteuer bezahlt?«

»Nein.«

»Und dennoch kuriert, mediziniert und Kranke behandelt! Ah, das erste Verbrechen ist bereits beim ersten Verhör erwiesen. Ihr könnt jetzt abtreten.«

»Ah, Señor, Ihr sprecht vom ersten Verhör? Soll es vielleicht mehrere geben?«

»Versteht sich! Viele, sehr viele!«

»Und ich? Wo bleibe ich einstweilen?«

»Bleiben? Närrische Frage! Ihr bleibt hier bei mir! Im Flur zwei, Nummer vier. Das ist bestimmt und ausgemacht.«

»Soll das etwa heißen, daß ich Gefangner bin?«

»Versteht sich!« blinzelte der Kleine.

»Aus welchem Grund?« fragte Sternau, jetzt wirklich erregt.

»Das werdet Ihr später erfahren.«

»Auf wessen Anzeige oder Anklage?«

»Auch das werdet Ihr erfahren.«

»Alle Teufel, Señor, ich habe das Recht, eine Antwort zu fordern!« brauste Sternau auf.

Das Männchen krümmte sich vor Vergnügen noch mehr zusammen und erwiderte blinzelnd:

»Ja, das Recht habt Ihr, aber ich dagegen habe das Recht, die Antwort zu verweigern.«

»Ihr habt gehört und auch aufgeschrieben, daß ich ein Deutscher bin. Ich verlange, mit dem deutschen Konsul zu sprechen!«

»Gut, gut! Werde es besorgen!«

»Sofort, Señor!«

»Schön! Schön!«

Der Kriminalrichter blinzelte den Gefangnen höchst vergnügt an und gab mit einer Klingel ein Zeichen. Drauf erschien ein finsterer, vierschrötiger Kerl, der sich Sternau sehr genau betrachtete. Er hatte eine Art Uniform an.

»Dieser Señor will mit dem deutschen Konsul sprechen«, sagte der Richter zu ihm. »Führe ihn zum Konsul! Aber schnell, schnell!«

Der Kerl grinste wie ein Walroß, zeigte nach der Tür und sagte:

»Vorwärts! Marsch!«

Das war Sternau denn doch zu kurz und bündig. Er sah sich den Mann an, besann sich jedoch eines Bessern und wandte sich an den Gerichtsbeamten:

»Darf ich um meine Börse bitten, Señor?«

»Ja,« blinzelte der Gefragte, »bitten dürft Ihr, aber bekommen werdet Ihr sie nicht. Hier darf niemand eine Börse führen. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt. Geht zum Konsul!«

Es war klar, der Mensch machte sich über Sternau lustig. Dieser sah ein, daß es das beste sei, darüber hinwegzusehn und sich zu fügen. Er war Gefangner, konnte es aber doch nicht ewig bleiben. Er folgte daher ohne fernere Einrede dem Schließer, der ihn abermals eine Treppe emporführte. Sie traten in einen düstern Gang, der die Nummer zwei über seinem Eingang trug. Rechts und links waren Gefängniszellen. Bei einer mit vier bezeichneten Tür blieb der Schließer stehn, um aus einem großen Schlüsselbund den betreffenden Schlüssel herauszusuchen. Dann öffnete er zwei hintereinander befindliche Türen, die auf beiden Seiten mit Eisen beschlagen waren.

»Vorwärts! Marsch!«

Dies schienen die einzigen Worte zu sein, die der Schließer reden konnte. Als Sternau gehorchte und eintrat, fielen die beiden Türen hinter ihm ins Schloß. Er war gefangen.

Es war ein eigentümliches Gefühl, das ihn überkam, ein Gefühl, ganz ähnlich demjenigen, das ein Mensch empfindet, der ins Wasser steigt und dabei bemerkt, daß die Flut über ihm zusammenschlägt. Er ist von Luft und Licht abgeschlossen, er ist kein Mensch mehr, kein freies, selbstbestimmendes Wesen, er hat keinen Namen mehr, er wird nach der Nummer derjenigen Zelle gerufen, in der er sich befindet. Er mag sterben und verderben, ohne sich wehren zu können.

Es war sehr düster in der Zelle, denn sie erhielt ihr Licht durch eine winzig kleine Öffnung, die man mit der Hand kaum erreichen konnte und die zunächst mit einem engen Eisengitter und dann noch mit einem starken Drahtseil verschlossen war. Sie war sechs Schritt lang und vier Schritt breit. Zwei kleine Matratzen lagen auf dem Boden, die einen ungewöhnlichen Duft ausströmten. Die eine war leer, auf der andern aber lag eine menschliche Gestalt, die sich beim Eintritt des Doktors erhob.

»Ah, neuer Zuwachs!« hörte er eine schwache Stimme. »Guten Abend!«

»Guten Abend!« dankte Sternau.

»Bist du neu?« fragte der bisherige Besitzer der Zelle.

Sternau hatte einmal gehört, daß Gefangne sich stets mit ›du‹ anreden. Er beschloß, seinen Kameraden nicht zu erzürnen und entgegnete:

»Ja.«

»Weshalb bist du da?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ach, mach mir nichts vor!«

»Es ist so!«

»Naja. So sagt ein jeder. Setz dich! Auf die Matratze!«

»Ist sie rein?«

»Hm!«

Diese Antwort sagte Sternau alles, aber er sah ein, daß er mit Zurückhaltung nicht weit kommen werde, und setzte sich daher nieder.

»Was bist du?« fragte der andre.

»Ein Arzt.«

»Ein Arzt?« klang die freudige Antwort. »Oh, da bitte ich um Verzeihung, Señor, daß ich ›du‹ gesagt habe. Nun glaube ich auch, daß Ihr nicht wißt, weshalb Ihr hier seid. Wer verhörte Euch? Der Juez de lo criminal

»Ja.«

»Ein verdammter Kerl! Wißt Ihr, wann Ihr das Verhör haben werdet?«

»Nun?«

»In zwei oder drei Monaten.«

»Das wäre ja fürchterlich!«

»Er tut es nicht anders. Habt Ihr Hunger oder Durst?«

»Nein.«

»Der Schließer brachte vorhin doppeltes Abendbrot, und daraus ersah ich, daß ich einen Kameraden bekommen würde.«

»Worin besteht das Abendbrot?«

»Aus trocknem Brot und fauligem Wasser.«

»Das Morgenbrot?«

»Aus nichts.«

»Das Mittagessen?«

»Aus einem Nößel heißen Wassers mit zwölf Erbsen, Graupen oder Linsen drinnen.«

»Was bekommt man sonst?«

»Was noch? Nichts, gar nichts.«

»Wie lang seid Ihr bereits hier?«

»Fast ein Jahr.«

»Alle Teufel! Bei dieser Kost?«

»Ja. Diese Kost wird mich auch das Leben kosten. Ich bin todkrank, und darum freue ich mich herzlich, daß Ihr Arzt seid. Zwar helfen könnt Ihr mir nicht, aber sagen könnt Ihr mir doch wohl, wie lang ich noch leben werde. Gott gebe, daß es bald zu Ende sein möge!«

Sternau war überzeugt, keinen bösen Menschen vor sich zu haben, obgleich er ihn der Dunkelheit wegen nicht zu sehn vermochte. Er fühlte Mitleid mit dem Mann und fragte:

»Wie lang dauert Eure Strafzeit?«

»Noch zwei Jahre.«

»Oh, ist dies denn auszuhalten! Darf ich fragen, weshalb Ihr diese Strafe bekamt?«

»Warum nicht! Ich habe im Zorn einen Menschen niedergeschlagen.«

»Tot?«

»Nein. Wollte Gott, er wäre tot gewesen, so gäbe es doch einen großen Schurken weniger.«

»An welcher Krankheit leidet Ihr?«

»Jetzt liegt es mir im Rückenmark, vorher war es nur die Seemannskrankheit, das Heimweh nach dem Meer, das alle Kräfte verzehrt und alle Säfte austrocknet, Señor.«

»Ihr seid Seemann?«

»Ja. Ich war zuletzt Steuermann.«

»Welch ein Gegensatz! Die freie, offne See und dieses teuflische Loch!«

»Ja, Señor, ich habe geweint und geseufzt, ich habe gewütet und getobt, ich bin mit dem Kopf gegen die feuchten Mauern gerannt, aber es hat nichts geholfen. Und als die Kraft fort war und der Hunger mich mürbe gemacht hatte, da bin ich ruhig geworden, und so werde ich täglich ruhiger werden, bis man mich hinausschleppt und in eine Ecke scharrt. Und dies alles habe ich einem Advokaten zu verdanken!«

»Dann sind wir Leidensgefährten. Ich weiß zwar nicht, wessen man mich beschuldigen wird, aber ich irre mich sicherlich nicht, wenn ich annehme, daß an meiner Gefangenschaft auch ein Advokat schuld ist.«

»Von woher wurdet Ihr eingeliefert?«

»Von Rodriganda.«

»Herr des Himmels, wäre es möglich! Dort wurde auch ich gefangengenommen!«

»Wirklich?« fragte Sternau überrascht. »Wie heißt der Advokat, den Ihr meint?«

»Gasparino Cortejo.«

»Alle Wetter, das ist auch der meinige! Ihr habt dort jemand niedergeschlagen, sagtet Ihr? Etwa diesen Cortejo?«

»Ja. Vielleicht erzähle ich es Euch, jetzt kann ich nicht länger mehr sprechen, ich bin zu schwach dazu. Dort in der vordern Ecke steht der Wassertopf, und daneben liegt Euer Brot. Gute Nacht!«

Dieser Mann mußte wirklich sehr schwach sein, daß er trotz seiner Freude, nach langer Zeit einen Menschen bei sich zu haben, auf die Unterhaltung verzichtete. Sternau machte es sich auf seiner Matratze so bequem als möglich.

Als er am Morgen erwachte, fiel das Tageslicht schon in die Zelle, zwar matt, aber dennoch stark genug, die Gegenstände erkennen zu lassen. Sein Kamerad saß bereits aufrecht und wünschte ihm einen guten Morgen.

»Ich habe Euch schon längst betrachtet«, sagte er, »und gesehn, daß Ihr nicht an einen solchen Ort gehört. Ihr möchtet vielleicht lieber allein sein, aber ich bitte Euch, mich nicht zu verlassen.«

»Es liegt ja gar nicht in meiner Macht, Euch zu verlassen!«

»Doch. Hier sind alle Gefangnen einzeln untergebracht, nur ich habe einen zweiten erhalten, weil ich ein Todesopfer bin. Wenn Ihr Euch fort meldet, werdet Ihr eine andre Zelle bekommen.«

»Ich werde mich nicht fort melden, sondern gern bei Euch bleiben.«

»Ich danke Euch. Vielleicht bereut Ihr es nicht.«

»Wann wird die Tür geöffnet?«

»Des Mittags.«

»Da kann man sagen, was man wünscht?«

»Ja, aber man erhält keine Antwort. Euer Schicksal ist bereits entschieden; es hilft Euch weder Bitten noch Drohen, weder List noch Gewalt dagegen.«

»Ich bin Ausländer; ich werde meinen Konsul kommen lassen!«

»Ihr werdet Euren Konsul nie zu sehn bekommen. Glaubt es mir! Cortejo hat Euch hierhergebracht; der Richter ist sein treuer Freund, und beide sind die größten Schurken der Erde.«

»Ihr macht mir angst!«

»Ich sage Euch die Wahrheit. Ich war ein starker Mensch, voller Lebensmut und Gesundheit. Seht mich jetzt an! Was ich bin, das haben diese beiden Buben aus mir gemacht!«

Der Gefangne lehnte sich an die Mauer und schloß die Augen. Er war zum Skelett abgemagert. Sternau brauchte ihn gar nicht genauer zu untersuchen, um zu wissen, daß er nur noch wenige Wochen zu leben habe. Sollte dies ein Bild seines eignen Schicksals sein? Nein, nein und abermals nein! Das nahm er sich vor.

Am Mittag öffnete sich ein Schieber in der Tür, und es wurden zwei Suppentöpfe hereingegeben. Sie enthielten die von dem Gefangnen beschriebene Brühe.

»Schließer!« sagte Sternau, »wollt Ihr nicht die Güte haben –«

Der Schieber wurde geschlossen, und Sternau brauchte seinen Satz gar nicht zu beenden.

»So wird es Euch täglich gehn, Señor,« sagte der Kamerad, »bis Ihr keinen Versuch mehr macht und das werdet, was ich geworden bin.«

Am Abend erhielten die beiden wieder Wasser und trocknes Brot. So verging eine Woche und auch die zweite, ohne daß die geringste Änderung eingetreten wäre. Sternau hatte seine Ruhe verloren. Wie stand es auf Rodriganda; wie ging es Roseta? Diese Fragen nagten an ihm. Er konnte weder essen und trinken, noch schlafen. Der Schließer hörte auf keine Frage. An Flucht war nicht zu denken; die Mauern waren zu dick und das Fenster zu hoch und zu klein.

Und abermals verging eine Woche und wieder eine. Ein Monat war vorüber. Trübselig lagen die beiden Leidensgefährten auf ihren Matratzen.

»Herr,« sagte Sternaus Leidensgefährte, »ich bin ein strammer, zuweilen auch wilder Kerl gewesen; ich möchte diesen Cortejo einmal zwischen den Fäusten wissen, die ich früher hatte. Er wäre verloren!«

»Vielleicht kommt er zwischen die meinigen.«

»Ich will es ihm gönnen, denn Ihr seid ein wahrer Goliath! Ihr seid eigentlich zu einem Seemann geschaffen. Ihr, mit einer tüchtigen Handspeiche in der Faust, würdet es mit zwanzig Niggers oder zehn Englishmen aufnehmen.«

»Wie kommt Ihr auf die Neger und Engländer?«

»Hm, wollt Ihr es wissen, Señor? Ihr werdet schlecht von mir denken, aber meinetwegen, ich habe es verdient. Es hat mir längst auf dem Herzen gelegen, und ich wollte es Euch erzählen. So mag das Garn denn laufen!«

»Erzählt mir getrost! Es hat ein jeder Mensch seine Fehler.«

»Aber solche nicht. Wißt Ihr, was ich gewesen bin? Zuerst ein braver Seemann, dann aber ein Niggerhändler und endlich gar ein – Seeräuber.«

»Ich staune!«

»Ja, nicht wahr, Ihr glaubt nicht, daß der Schwächling, der hier liegt, solch ein Bursche gewesen sein kann? Mein Name ist Jacques Tardot, und ich war guter Leute Kind. Ich wurde ein wackerer Seemann und blieb es auch, bis ich in schlechte Hände kam. Das war auf dem ›Lion‹, Kapitän Grandeprise. Ich hatte keine Ahnung davon, daß dieser ein Pirat und Sklavenhändler sei, und erst am zweiten Tag bemerkte ich es, als es schon zu spät war, denn wir befanden uns bereits auf hoher See. Kapitän Grandeprise war ein Amerikaner und ein Teufel, und er verstand es, aus mir auch ein Teufelchen zu machen. Ich habe manchen Nigger vor Verzweiflung und Heimweh über Bord springen sehn; ich habe den Englishmen, die uns immer aufpaßten, manch Gefecht geliefert; ich habe manchem armen Teufel einen schlimmen Hieb geben müssen; aber die Strafe ist gekommen; Ihr seht mich hier liegen.«

Er schwieg eine Weile, um auszuruhn, und fuhr dann fort:

»Der Kapitän machte Geschäfte mit dem Notar –«

»Mit Cortejo?«

»Ja. Welcher Art diese Geschäfte waren, das wußte ich nicht; aber wenn wir in Barcelona einliefen, so kam der Notar stets an Bord, und dann saßen sie stundenlang über den Büchern.«

»Sonderbar!« sagte Sternau nachdenklich. »Kennt Ihr vielleicht einen Kapitän Namens Henrico Landola?«

»Nein.«

»Oder ein Schiff Namens ›La Péndola‹?«

»Auch nicht. Was ist mit ihnen?«

»Mit diesem Landola treibt der Advokat auch Geschäfte.«

Sternau hatte keine Ahnung davon, daß Grandeprise und Landola ein und derselbe Kapitän und der › Lion‹ und die › Péndola‹ ein und dasselbe Schiff seien. Diese Art von Seeleuten nämlich versteckt sich und ihre Fahrzeuge hinter einer ganzen Reihe verschiedner Namen.

»Das kann sein«, sagte der Matrose. »Er scheint viel Geld zu haben. Eines Tags hatten wir in Mexiko für ihn ein Geschäft zu machen, und –«

»In Mexiko?« unterbrach ihn Sternau. »Wo da?«

»In Veracruz. Warum?«

»Weil ich Mexiko kenne.«

»So! Es galt da nämlich, einen Gefangnen aufzunehmen. Er wurde an Bord gebracht und hinter die Kapitänskajüte eingesperrt, so daß ihn keiner zu sehn bekam.«

»Auch Ihr nicht?«

»O doch. Er war ein schöner alter Mann. Ich glaube, der Kapitän nannte ihn einmal Fernando. Er segelte mit uns um das Kap herum und an der Küste von Ostafrika hinauf bis Zeila, wo wir ihn ausschifften und nach Härrär verkauften.«

»Einen Weißen?«

»Ja.«

»Aber das ist ja fürchterlich!«

»Nicht fürchterlicher als wenn man einen Schwarzen verkauft! Übrigens konnte ich nichts dagegen tun, obgleich das Ding mir später viele Gewissensbisse gemacht hat. Als bei unsrer Heimkehr der Kapitän abgehalten wurde, mußte ich an seiner Stelle nach Rodriganda gehn, um Cortejo zu melden, daß jener Mexikaner gut aufgehoben sei. Er hatte gewollt, daß er getötet werden oder am Fieber sterben sollte, und fuhr mich fürchterlich an. Mir lief auch ein Wort über den Mund, und so schlug er nach mir. Natürlich gab ich ihm einen guten Matrosenhieb zurück. Er stürzte wie ein Sack zur Erde, und ich ging fort. Am andern Tag kam er nach Barcelona an Bord, und die Sache schien vergessen zu sein. Einen Tag später aber gab mir der Kapitän einen Brief, den ich dem Juez de lo criminal bringen sollte. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen und dann dem Schließer übergeben, der mich in diese Zelle brachte. Ich habe sie nicht wieder verlassen, denn eines Tags kam der Richter an die offene Klappe und verkündete mir mein Urteil. Dies, Señor, ist mein Schicksal!«

Tardot hatte in jenem leichten Ton gesprochen, der Matrosen selbst bei ernsten Veranlassungen eigen zu sein pflegt. Jetzt schwieg er und legte sich ermüdet nieder. Sternau ahnte nicht, wie nötig ihm einst die Erinnerung an diese Erzählung sein würde.

Jacques Tardot wurde jetzt von Tag zu Tag schwächer, und mit seiner Schwäche wuchsen auch der Ernst und die Reue über sein vergangnes Leben. Er gedachte der Ewigkeit und wünschte, seine Rechnung mit Gott auszugleichen.

Der Schließer sah, daß er sich nicht mehr erheben konnte, und tat, was er noch niemals getan hatte: er würdigte ihn einiger Worte. Ja, er versprach sogar, ihm den Gerichtsarzt zu senden, der gerade zu einer Besichtigung eingetroffen sei.

So verging noch einige Zeit, und der Winter kam heran. Tardot lag dem Verlöschen nah auf seiner Matratze, und Sternau saß bei ihm, um ihn zu trösten. Von fern hörten beide das Geläute der Abendglocken.

Plötzlich rasselte draußen der Schlüssel im Schloß; die Tür öffnete sich. Der Schließer trat, vom Arzt gefolgt, ein und rief Sternau, indem er nach der Tür zeigte, zu:

»Vorwärts! Marsch!«

Da erhob sich Tardot mühsam und bat:

»Laßt mir ihn da! Er ist mein Trost gewesen bisher; er soll auch jetzt hierbleiben!«

Der Schließer sah den Arzt fragend an; dieser nickte zustimmend mit dem Kopf, und so gab er schweigend seine Einwilligung, indem er ging und die Zelle verschloß.

Der Arzt aber setzte sich auf den Rand der Matratze nieder und betrachtete die beiden Gefangnen im Schein der Laterne, die der Schließer zurückgelassen hatte. Dann richtete er einen bedeutungsvollen Blick nach der Tür und begann an den Kranken einige Fragen über sein Befinden zu richten. Dabei warf er, von Tardot unbemerkt, einen Gegenstand zwischen die ausgestreckten Füße Sternaus auf dessen Matratze. Dieser griff zu und fühlte – einen großen, schweren Schlüssel, gewiß den Torschlüssel. Ein Gefühl unendlicher Freude durchzuckte ihn, aber er beherrschte sich, denn der Blick des Arztes hatte ihm gesagt, daß sie beobachtet würden.

Tardot, durch den Zuspruch des Arztes getröstet, fühlte sein Ende nahen. Ein tiefer Frieden breitete sich über sein abgemagertes Gesicht.

»Ich lebe keine Stunde mehr; Gott sei Dank!« flüsterte er. »Bleibt bis dahin bei mir, Señor Medico und laßt auch meinen Freund nicht fort!«

»Wir bleiben«, versicherte der Gerichtsarzt, indem er sich tief über den Sterbenden neigte. Dabei brachte er seine der Tür entgegengesetzte Hand in die Nähe von Sternaus Arm und schob ihm etwas zu. Es war eine gefüllte Brieftasche. Sternau steckte sie langsam zu sich, aber so, daß es von der Tür aus nicht bemerkt werden konnte. Er glaubte zu sehn, daß der Schieber um einen winzigen Spalt geöffnet worden sei. Jedenfalls stand der Schließer dort und lauschte.

Nach einer kurzen Weile begannen die Züge des Sterbenden sich zu verändern. Er streckte Sternau die Hand entgegen und sagte:

»Lebt wohl! Ich danke Euch! Werdet – frei – und – glücklich!«

Es waren seine letzten Worte. Ein krampfhaftes Zittern überflog seinen Körper; ein leiser Seufzer erklang durch den Raum; es war vorüber.

Der Gerichtsarzt entfernte sich schweigend. Bald erklang der Schlüssel wieder im Schloß, und der mürrische Wächter trat abermals herein. Als er die Leiche sah, fragte er:

»Tot?«

»Ja«, erwiderte Sternau.

»Nicht liegenbleiben! Fortschaffen!«

Hierauf betrachtete der Wächter die Riesengestalt Sternaus mit Aufmerksamkeit und fuhr fort:

»Ihn tragen?«

»Meinetwegen«, antwortete der Gefragte so gleichgültig wie möglich, obgleich ihm vor Aufregung alle Pulse hämmerten.

»Aufsacken! Kommen!«

Sternau nahm die Leiche auf die Arme und schritt dem Schließer nach, der langsam voranging. Ihre Schritte hallten laut in dem großen, öden Gebäude wider. Die Beamten, die am Tag hier arbeiteten, weilten jetzt fast alle daheim im Kreis ihrer Familien. Der Weg führte über mehrere Treppen nach einem kleinen Hof. Dieser mündete in den finstern Flur, durch den Sternau vor zwei Monaten ins Gefängnis gekommen war. Der Schließer nahm seinen Schlüsselbund zur Hand und schloß ein schmales, tiefes Steingewölbe auf, in dem neben einem langen Tisch zwei Bahren standen.

»Leichengewölbe«, sagte er. »Tisch legen!«

Es war ein düstrer Anblick, der sich hier den Augen Sternaus bot.

Als Arzt hatte er oft dem Tod das Leben abgerungen, aber auch gesehn, wie dieser Sieger geblieben, wie der Kranke dessen Beute geworden war.

Hier aber, im Kerker, in der Gewalt der Niedertracht, konnte Sternau sich eines leisen Schauers nicht erwehren.

Bald aber hatte er die Gefühle des Grauens niedergerungen.

»Nun, vorwärts! Die Leiche auf den Tisch!« gebot der Schließer noch einmal mit barscher Stimme.

Sternau gehorchte, und der Schließer trat selber mit hinzu, um den Toten auf dem Tisch in die rechte Lage zu bringen. Er hatte den Schlüsselbund im Schloß hängen lassen.

»Vorwärts! Marsch!« befahl er, als alles getan war.

»Nein, rückwärts! Marsch!« antwortete Sternau, und seine Faust fuhr wie der Blitz empor und dann auf die Schläfe des Schließers nieder, der sogleich zu Boden stürzte und besinnungslos liegenblieb.

»Ah, Gott sei Dank. Die alte Kraft ist noch da!« jubelte der Gefangne in sich hinein, ließ den Schließer neben der erloschenen Laterne liegen, verschloß das Gewölbe von außen und eilte durch den dunklen Flur. Glücklich erreichte er das Tor. Er zog den Schlüssel, den er vorhin auf so geheimnisvolle Weise erhalten hatte, hervor, zitternd vor Erwartung, ob er passen werde: – er paßte, Sternau schloß auf und stand auf der Straße. Er war frei. Er war im Dunkel gewandelt, und nun wurde es hell. Sie, die beiden Gefangnen, hatten heut ihre Erlösung gefunden, der eine durch den Tod und der andre durch die Freiheit! – – –

Als Gräfin Roseta ihre Freundin in Pons der Postkutsche übergeben hatte, kehrte sie in Eile nach Rodriganda zurück. Es war ihr, als ob ihr etwas Schlimmes zustoßen könne, solange sie sich nicht unter dem starken Schutz Sternaus befinde. Es lag wie eine Ahnung in ihr, daß ihr ein schweres Unheil bevorstehe. Darum befahl sie dem Kutscher, die Pferde ausgreifen zu lassen, die nun im schnellsten Galopp auf der Straße dahinflogen.

Als sie auf Rodriganda ankam und sich rasch umgekleidet hatte, stieg sie zunächst zum Schloßverwalter empor. Sie fand die beiden braven Leute bei ihrem Lieblingsgespräch begriffen, das heißt, sie unterhielten sich über Doktor Sternau.

»Ist er daheim?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Alimpo. »Er ist ausgefahren, gnädige Condesa; meine Elvira sagt es auch.«

»Wohin?«

»Wir wissen es nicht«, meinte die Verwalterin.

»Hat er es euch nicht gesagt? Ist er allein fort?«

»Leider nein. Er fuhr in einer fremden Kutsche; mein Alimpo sagt es auch.«

»Und wem gehörte die Kutsche?«

»Dem Präfekten von Manresa.«

»Ah!« rief Roseta erschrocken. »Elvira, erzählt, wie es gewesen ist!«

»Das war so«, begann die Verwalterin. »Es kam eine Kutsche gefahren, aus der der Corregidor stieg. Er ging hinauf zu Señor Gasparino und dann zu Señor Sternau; nach kurzer Zeit fuhr er mit Señor Sternau auf der Straße nach Manresa fort.«

»Gut! Alimpo, es sollen sofort zwei frische Pferde vorgespannt werden!«

Roseta ging, und zwar gradewegs nach dem Zimmer des Advokaten. Dieser saß bei seinen Akten. Die Gräfin war nur selten einmal bei ihm eingetreten, darum erstaunte er, sie jetzt bei sich zu sehn.

»Ah, Doña Roseta, Ihr kommt zu mir! Habt die Güte, Platz zu nehmen!« sagte er, sich erhebend und ihr einen Stuhl bietend.

»Ich werde mich nicht setzen«, wehrte sie eilig ab. »Ich komme nur, um eine Frage zu tun. Habt Ihr Señor Sternau gesehn? Er ist ausgefahren.«

»Ich weiß nichts davon.«

»Mit dem Corregidor von Manresa?«

»Ist mir unbekannt«, entgegnete er, verwundert mit dem Kopf schüttelnd.

»So wißt Ihr gar nicht, daß der Corregidor in Rodriganda war? Auch nicht, daß er bei Euch gewesen ist?«

»Nein.«

»Ihr lügt, Señor!« ries Roseta leidenschaftlich. »Ihr lügt sogar unverschämt!«

»Condesa!« antwortete er beinah drohend.

»Ah, welchen Ton erlaubt Ihr Euch gegen mich! Ich werde jetzt zu dem Corregidor fahren und mich erkundigen. Finde ich, daß eine neue Teufelei angezettelt ist, bei der Ihr wieder die Hand im Spiel habt, so werde ich Euch das Handwerk legen, Euch und den beiden andern. Adios.«

Roseta eilte hinaus, während er vor Erstaunen über diese Entschlossenheit fassungslos zurückblieb und an das Fenster trat. Als er sie einsteigen und fortfahren sah, begab er sich sofort zu seiner Verbündeten. Auch diese hatte vom Fenster aus Roseta beobachtet.

»Sie fährt wieder fort«, sagte sie. »Weißt du vielleicht wohin?«

»Ja. Nach Manresa zum Corregidor, um sich zu erkundigen, wohin dieser Sternau ist.«

»Höre, Gasparino, auch sie beginnt gefährlich zu werden!«

»Ich sehe es und werde meine Maßregeln danach treffen. Weißt du nicht, auf welche Weise man ihr einige Tropfen beibringen könnte?«

»Es ginge schon, wenn ich die Tropfen hätte.«

»Wann?«

»Beim Abendtee.«

»Und wenn sie ihn auf ihrem Zimmer trinkt?«

»Sie trinkt stets nur eine Tasse, die ihr die Verwalterin bereitet. Laß mich nur sorgen!«

»Gut, du sollst die Tropfen haben!«

»Und mein Honorar?« fragte sie lauernd.

Der Advokat machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand und erwiderte:

»Du bekommst die Hälfte ihres Vermögens.«

»Die Hälfte nur? Was soll mit der andern Hälfte geschehn?«

»Die bekomme ich. Alfonso darf nicht verkürzt werden, folglich teilen wir beide uns in Rosetas Besitz.«

»Zugestanden! Also lasse mich die Tropfen bald haben!«

Der Advokat kehrte in sein Zimmer zurück, füllte ein kleines Fläschchen mit Wasser und träufelte zwei Tropfen des Gifts hinein. Nachdem er diese Verdünnung gut durchgeschüttelt hatte, brachte er sie zu Clarissa und erteilte ihr die nötige Anweisung, wie die Tropfen zu handhaben seien –

Unterdessen fuhr Roseta nach Manresa. Dort angekommen, ließ sie vor dem Haus des Corregidors halten. Dessen Frau kam heraus und führte, erstaunt über den vornehmen Besuch, diesen in ihr bestes Zimmer.

»Ist der Señor zu sprechen?« fragte die Gräfin.

»Leider nein. Er ist nicht daheim.«

»Verreist?«

»Ja. In Geschäften, denn er ließ sich von vier bewaffneten Schutzleuten begleiten.«

»Ah!« hauchte Roseta erbleichend. »Wohin ging die Reise?«

»Das weiß ich leider nicht. Der Señor ist in Beziehung auf Geschäftssachen sehr verschwiegen.«

»Und wißt Ihr nicht, wer oder was ihn zu dieser Reise veranlaßt haben könnte?«

»Jedenfalls Euer gnädiger Bruder Don Alfonso.«

»Alfonso? War er hier?«

»Ja. Er kam geritten und hatte es sehr eilig. Mein Mann sandte sofort nach den Schutzleuten.«

»Hat er nicht gesagt, wann er zurückkehren wird?«

»Nein.«

»So werde ich morgen wiederkommen.«

Roseta ging. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, daß etwas im Werk sei, und kehrte eiligst nach Rodriganda zurück. Dort ließ sie den Bruder zu sich bitten. Dieser war vom Notar verständigt worden und ging der Unterredung mit großer Ruhe entgegen.

»Du warst heut in Manresa?« fragte sie ihn.

»Ja«, bestätigte er gleichgültig.

»In welcher Angelegenheit?«

»Mein Gott, in welcher Angelegenheit soll es gewesen sein! In der heutigen!«

»Was verstehst du unter der heutigen?« fragte sie scharf.

»Nun, das Auffinden der Leiche!«

»Ah! Ist das wahr?«

»Was sonst? Du kommst mir sehr sonderbar vor. Es scheint dich etwas aufgeregt zu haben.«

»Allerdings. Warum nahm der Corregidor in deiner Angelegenheit vier Schutzleute mit?«

»Es soll sich doch noch herausgestellt haben, daß die Leiche in die Schlucht geworfen worden ist«, log Alfonso mit dreister Miene. »Die Schutzleute sind hinter den mutmaßlichen Tätern her.«

Rosa ließ sich täuschen. »Ha! Ist es so? Übrigens, hast du Sternau gesehn? Ich suche ihn.«

»Ich niemals.«

»Es ist gut. Du kannst gehn!«

Alfonso machte Roseta eine spöttische Verbeugung und sagte: »Der Graf Alfonso de Rodriganda geruhn nicht, sich von allerhöchst Seiner Schwester wie einen Dienstboten verabschieden zu lassen. Ich werde bleiben!«

Sie blickte ihn erstaunt an. »Unverschämter!«

»Pah! Ich weiß nicht, was du gegen mich hast. Ist dies eine Einbildung oder ein wirklicher Widerwille? Ich vermisse die ruhige Zärtlichkeit, die man zwischen Geschwistern voraussetzt, und will mit einem Kuß den Anfang machen, diese Kluft zu überbrücken.«

Alfonso näherte sich der Gräfin, um seine Worte wahr zu machen, und wollte den Arm um sie schlingen; sie aber holte aus und gab ihm einen schallenden Schlag ins Gesicht.

»Weiche von mir!« rief sie. »Ich hasse, ich verabscheue dich! Wenn ich es nicht bereits wüßte, so würde dein Verhalten es mich lehren!«

»Was?« fragte er zornig, die Hand an die getroffene Stelle legend.

»Daß du nicht mein Bruder, sondern ein Betrüger, ein elender Fälscher bist!«

»Oh, nicht dein Bruder? Was denn sonst?«

»Das wird sich zeigen, sobald Sternau zurückkehrt. Und kehrt er nicht zurück, so macht euch nur gefaßt auf eine Entlarvung, die das ganze Land in Zorn und Aufruhr versetzen soll!«

»So also steht es?« zischte er. »Einen Betrüger, einen Fälscher nennst du mich! Die Ohrfeige nehme ich hin, denn du bist ein Weib; das andre aber sollst du mir teuer bezahlen müssen.«

Dann schritt er mit dem Trotz eines schlechten Menschen hinaus, der eine Niederlage zu rächen weiß, während Roseta zur Verwalterin schickte, um sich von ihr Gesellschaft leisten zu lassen.

»Habt Ihr Señor Sternau gesehn, meine gnädige, liebe Condesa?« fragte diese sofort, als sie zur Gräfin kam.

»Nein.«

»Ach, wo mag er sein!«

»Er ist verhaftet worden.«

Frau Elvira machte eine Bewegung des Schrecks und rief:

»Verhaftet! Mein Gott! Weshalb? Oh, heilige Madonna, diesen braven, guten Señor verhaftet! Er hat gewiß nichts getan, gar nichts, denn er ist der beste und bravste Mann, den es geben kann. Und so fest und treu, so stolz und stark! Ihr hättet ihn nur sehn sollen, als er draußen an der Bateria den Grafen Alfonso packte und über den Abgrund hinaus hielt. Das ist prächtig gewesen; mein Alimpo sagt es auch.«

»Davon weiß ich ja gar nichts. Er hat mir nur erzählt, wie er sich um die Leiche bemüht hat.«

»Ja, Señor Sternau prahlt nicht. Graf Alfonso hat ihn schlagen wollen; da aber hat er den jungen Grafen mit der Faust gepackt und ihn über den Abgrund gehalten!«

Rosetas Augen leuchteten vor Stolz.

»Er hat sogar gesagt,« fügte Elvira zögernd hinzu, »daß Alfonso erst beweisen solle, daß er der Sohn des Grafen Manuel sei; mein Alimpo hat es auch gehört.«

»Ach, er hat das gesagt? Da muß er allerdings außerordentlich beleidigt worden sein.«

»Und die Leute alle haben sich schon längst so etwas gedacht. Der Señor Leutnant –«

»Nun, was ist mit ihm?« fragte Roseta die Stockende.

»Er sah dem gnädigen Grasen so sehr ähnlich, hatte ganz dieselben Augen und ganz seine Stimme. Habt Ihr das nicht auch bemerkt?«

»Jawohl, und der Vater, als er ihn erblickte, hielt ihn auch sofort für seinen Sohn.«

»Ob er es wohl sein mag?« fragte Elvira eifrig.

»Señor Sternau glaubt es ganz bestimmt. Er weiß auch, daß man ihn auf ein Schiff entführt hat.«

»Entführt! Auf ein Schiff!« rief die Verwalterin, die Hände zusammenschlagend. »Weshalb denn?«

»Damit er die Betrüger nicht entlarven kann. Aber davon können wir später sprechen, meine gute Elvira. Du sollst nämlich den ganzen Abend bei mir bleiben und mir auch meinen Tee besorgen.« – – –

Mehrere Stunden später, als es bereits dunkel geworden war, hielt ein einsamer Reiter am Rand des Waldes. Hier sprang er vom Pferd und führte es in das Dickicht hinein, wo er es anband. Dann schritt er auf das Schloß zu, stieg die Treppe empor und bat einen der Diener, ihn bei Señor Gasparino Cortejo anzumelden.

»Wer seid Ihr?« fragte der Diener.

»Ein Freund des Señor, der ihn überraschen will«, lautete die etwas barsche Antwort.

Der Fremde wurde angemeldet und trat ein. Cortejo befand sich allein im Zimmer.

»Ihr habt Euch als einen Freund von mir melden lassen?« fragte er den Ankömmling. »Ich kenne Euch nicht.«

»Nicht? So werde ich nachhelfen.«

Der Mann nahm den falschen Bart vom Gesicht und die Perücke vom Kopf und wurde nun allerdings erkannt.

»Der Capitano!« rief Cortejo.

»Ja der Capitano, der Euch eine Frage vorlegen will. Wo ist der Leutnant de Lautreville?«

»Weiß ich es!«

»Ihr wißt es! Ihr mögt andre täuschen, mich aber nicht. Der Leutnant ist verschwunden.«

»Das geht mich nichts an.«

»O viel, sehr viel! Ich habe mir unsre letzte Unterredung später überlegt. Ihr wolltet ihn getötet wissen.«

»Nicht ihn allein, sondern auch diesen deutschen Arzt. Warum habt Ihr Euer Wort nicht gehalten?«

»Weil ich erst wissen wollte, ob Ihr das Eurige bezüglich des Leutnants halten würdet.«

»Gut, spielen wir nicht Versteckens! Gebt Ihr zu, daß jener Leutnant der eigentliche Graf Alfonso de Rodriganda war?«

»Ja.«

»Warum schicktet Ihr ihn hierher?«

»Das ist meine Sache.«

»Wußte er, wer er ist?«

»Nein. Wo ist er?«

»Tot.«

Der Räuber trat einen Schritt zurück; dabei entfiel ihm der Mantel, und nun bemerkte man die Waffen, die in seinem Gürtel steckten.

»Tot!« rief er. »Ah, das werdet Ihr mir büßen! Ich werde aufdecken, was Ihr für ein Schurke seid!«

»Pah! Ihr selber habt dann alles zu fürchten; denn Ihr wart ja mein Werkzeug.«

»Ich werde den Schein, den Ihr unterschriebt, beim Gericht niederlegen. Ich brachte ihn mit, um den Leutnant dagegen auszuwechseln. Sagt, ob er in Wirklichkeit tot ist!«

Über das Stößergesicht des Advokaten glitt ein blitzschnelles, freudiges Lächeln. Er erwiderte:

»Ich werde Euch einen Brief zeigen, den ich in dieser Angelegenheit erhalten habe. Wartet ein wenig!«

Der Advokat trat ins anstoßende Gemach, wo er eine geladne Pistole und einen Brief zu sich nahm.

»Er kommt mir grade recht«, flüsterte er höhnisch in sich hinein. »Jetzt erhalte ich meine Unterschrift zurück und werde den gefährlichsten Zeugen los. Ich bin nun Sieger auf der ganzen Schlachtlinie!«

Dann kam er wieder zurück, den Brief in der Hand.

»Aber ich muß überzeugt sein, daß Ihr das Papier wirklich bei Euch habt«, sagte er mit forschendem Blick auf den Räuber.

»Hier steckt es«, erklärte dieser, auf seine Brust klopfend.

»So lest!«

Cortejo reichte dem Capitano den Brief. Dieser öffnete das Schreiben und sah auf den ersten Blick, daß es ein ganz gewöhnlicher Geschäftsbrief war, der gar nichts den Leutnant Betreffendes enthielt. Als er, erstaunt über eine solche Täuschung, aufblickte, fiel sein Auge auf die Mündung einer auf ihn gerichteten Pistole.

»Schach und matt! Stirb, Hund!« rief der Notar, darauf krachte der Schuß, und der Räuber stürzte zu Boden. Die Kugel war ihm grade in die Stirn gedrungen. Sofort verriegelte der Notar die Tür und riß dem Toten den Rock aus. Die Taschen waren leer. Auch die übrigen Kleidungsstücke enthielten nicht die Spur eines Papiers.

»Betrogen!« murmelte der Notar. »Elend betrogen! Bei ihm war das Papier sicher. Wenn es seine Leute finden, so bin ich verloren!«

Jetzt ertönten Schritte aus dem Flur. Man hatte den Schuß gehört und kam herbei, um nachzusehn, was vorgefallen sei. In fieberhafter Eile brachte der Advokat die Kleidung des Räubers wieder in Ordnung, riß ihm eine Pistole aus dem Gürtel, die er zu Boden legte, und öffnete die Tür.

»Hierher!« gebot er. »Ich bin überfallen worden.«

Die Dienerschaft stürzte herbei. Auch Graf Alfonso, Clarissa und Alimpo kamen.

»Seht diesen Menschen«, sagte Cortejo. »Er ließ sich als meinen Freund anmelden, und als wir allein waren, drohte er mit dem Tod, wenn ich ihm nicht mein Geld aushändige. Ich tat, als ob ich es ihm geben wolle, griff aber nicht nach dem Geld, sondern nach der Pistole und schoß ihn nieder.«

»O Gott, ein Räuber, ein richtiger Räuber!« rief Clarissa entsetzt. »Seht hier die Perücke und den falschen Bart!«

»Durchsucht ihn, aber genau!« gebot Cortejo in der Hoffnung, auf diese Weise das Schreiben doch noch in die Hände zu bekommen, wenn es sich unerwarteterweise irgendwo vorfinden sollte. Aber es wurde nichts entdeckt, als die Waffen und eine gefüllte Börse.

»Schafft ihn hinunter in eins der Gewölbe; ich werde morgen Anzeige machen. Dieses Zimmer wird natürlich sofort gereinigt.«

Man folgte seiner Anordnung. – Als die Dienerschaft sich entfernt hatte und die drei allein waren, fragte Alfonso:

»Kanntest du ihn?«

»Nein.«

»Hm, es war möglich, daß es dein ›Capitano‹ war, von dem du zuweilen sprichst. Ich dachte, in diesem Fall hättest du einen kleinen Zusammenstoß mit ihm gehabt und dich von ihm befreit.«

»Ich kenne ihn nicht. Aber wie ist es, trinken wir heute den Tee mit Roseta?«

»Nein«, antwortete Clarissa. »Sie trinkt ihn bereits auf ihrem Zimmer.«

Aus dem Ton, in dem diese Worte gesprochen waren und dem Blick, der sie begleitete, ersah der Notar, daß die Tropfen in den Tee gekommen seien. –

Als der Schuß fiel, saß Roseta mit Elvira im Gespräch zusammen. Die Verwalterin hatte soeben den Tee aus der Küche geholt und der Gräfin vorgesetzt. Da erschallte über ihnen ein lauter Krach.

»Was war das?« rief Elvira.

»Ein Schuß!« antwortete Roseta. »Was ist vorgefallen? Ich werde nachsehn.«

»O nein, nein, meine teure Condesa. Bleibt! Es gibt hier täglich immer neues und größeres Unglück; ich lasse Euch nicht fort!«

»Aber wer soll mir etwas tun? Der Schuß fiel, wie es scheint, in der Wohnung Cortejos. Hörst du die Schritte und die Stimmen?«

»Ja, aber wir bleiben. Mein Alimpo ist sehr tapfer; er wird hingehn, um nachzuschauen, was es ist, und es uns melden.«

Diese Voraussage erwies sich als richtig, denn der Verwalter kam wirklich bald und meldete, daß der Notar von einem Räuber überfallen worden sei, diesen aber erschossen habe. Dieses Vorkommnis bildete den Gegenstand des abendlichen Gesprächs. Als dann Roseta ihren Tee getrunken hatte, erklärte sie, schlafen gehn zu wollen, da sie von all der Aufregung des heutigen Tags ein schmerzliches Brennen im Kopf fühle.

Am andern Morgen kam das Kammermädchen der Condesa in höchster Aufregung zur Verwalterin und bat diese weinend:

»Meine gute Frau Elvira, kommt doch schnell mit zur Condesa! Es ist ihr etwas zugestoßen. Sie muß krank sein.«

»Heilige Madonna, ist es wahr? Sie klagte bereits gestern abend über Kopfschmerz.«

Elvira ließ alles liegen und folgte der Zofe. Als sie in Rosetas Schlafzimmer traten, kniete diese vor dem Bett und schien zu beten; sie hatte ein wachsbleiches Antlitz und sah wie ein Marmorbild aus.

»Liebe Condesa, steht doch auf!« bat das Mädchen.

Roseta bewegte sich nicht.

»Seht,« klagte das Mädchen, »so fand ich sie, als ich kam, um sie zu wecken. Ich hob sie auf und setzte sie auf den Stuhl, aber immer wieder kniet sie nieder. Helft mir!«

Die Frauen faßten die Gräfin an und zogen sie empor; kaum aber hatten sie diese auf den Diwan gesetzt, so glitt sie wieder herab und faltete die Hände, als ob sie abermals beten wolle.

»Ja, sie ist krank, sie ist sehr krank!« schluchzte Elvira. »Wenn doch nur Señor Sternau hier wäre! Sie scheint ganz ohne Besinnung zu sein.«

»Entsetzlich! Was tun wir, Señora Elvira?« fragte die Zofe, gleichfalls weinend.

»Mein Gott, ich kann nichts tun, als meinen Alimpo fragen. Holt ihn!«

Das Mädchen rannte fort und brachte den erschrockenen Verwalter herbei. Die Kranke kniete mit halb geschlossenen Augen und gefalteten Händen vor dem Diwan, und auch als Alimpo sie wieder aufrecht setzen half, sank sie sogleich in ihre betende Lage zurück.

»Legt sie ins Bett und macht kalte Umschläge; das wird vielleicht helfen«, gebot er mit Tränen in den Augen den beiden Frauen und entfernte sich betrübt. Draußen traf er Clarissa, die lauernd in der Nähe verweilt hatte.

»Wart Ihr bei der Gräfin?« fragte sie.

»Ja.«

»So ist sie bereits munter?«

»Sie ist krank«, antwortete er.

»Was fehlt ihr?«

»Ich weiß es nicht.«

»So muß ich sie besuchen, um ihr Gottes Wort zu bringen, den besten Trost der Leidenden.«

Clarissa ging ins Zimmer der Condesa, kam aber bereits nach einer Minute wieder herausgeschossen und flog förmlich nach der Wohnung des Notars. Als dieser sie in so heftiger Weise eintreten sah, fragte er:

»Nun? Gelungen; ich sehe es dir an.«

»Ja, sie ist wahnsinnig.«

»Was tut sie?«

»Sie betet.«

»Ah, sonderbar. Laut?«

»Nein. Wenn man sie stellt oder setzt oder legt, so bleibt sie nicht in dieser Stellung, sondern kniet und faltet die Hände, als wolle sie beten. Dabei bleibt sie aber unbeweglich und spricht kein Wort. Es ist sicher, daß ihr kein Rest des Verstands geblieben ist.«

»Ah, der Wahnsinn ist während des Gebets über sie gekommen, und nun hat sie nur noch den einen Gedanken des Betens. Ich werde sogleich die nötigen Schritte tun. Komm mit!«

Cortejo ging hierauf mit Clarissa nach Rosetas Wohnung und erklärte der Zofe und der Verwalterin, daß Señora Clarissa die Pflege der kranken Gräfin übernehmen werde. Von jetzt an wurde jedermann von Roseta abgeschlossen. Man sah und hörte nichts mehr von ihr; sie war so gut wie gar nicht mehr vorhanden. – – –

Einige Zeit, nachdem Roseta der fürchterlichen Krankheit verfallen war, kam Mindrello von der Reise zurück, die er im Auftrag Sternaus gemacht hatte. Er suchte sofort den Schloßverwalter auf, um sich nach Sternau zu erkundigen.

Der gute Alimpo saß mit Elvira betrübt in seiner Stube.

»Ich halte das nicht aus!« seufzte er.

»Ich auch nicht!« erklärte sie wehklagend.

»Es ist am besten, wir nehmen unsre kleinen Ersparnisse und gehn damit in die weite Welt.«

»Nur nicht zu weit!« warf sie ein.

»Grade recht weit, recht, recht weit!« sagte er zornig. »Zu den Kaffern und Hottentotten oder zu den Lappländern. Was sollen wir noch hier? Warum willst du nicht weit fort gehn?«

»Hast du denn nicht gehört, daß die gnädige Condesa fortgeschafft werden soll?«

»Ja.«

»Nun gut, ich werde sie nicht verlassen; ich werde mit ihr gehn, meinetwegen bis ans Ende der Welt.«

»Wird man dir die Erlaubnis dazu erteilen?«

»O weh! Das wird man nicht, wie ich vermute. Höre, mein lieber Alimpo, es ist ein Kreuz und ein Elend!«

Da klopfte es bescheiden an die Tür, und Mindrello trat ein.

»Seid uns willkommen!« rief ihm Alimpo entgegen. »Wir sind sehr betrübt. Es ist ein Unglück nach dem andern über uns hereingebrochen, und es scheint auch nicht, daß es ein Ende nehmen will. Wir haben keinen Menschen, dem wir unser Leid klagen können; nicht wahr, Elvira?«

»Ja, mein Alimpo.«

»Aber Ihr habt doch Kameraden hier im Schloß, die mit Euch fühlen werden«, warf Mindrello ein.

»Ja, die haben wir«, erklärte der Verwalter. »Aber sie sprechen nicht mehr mit uns. Sie fürchten sich vor dem jungen Grafen und vor Señor Cortejo.«

»Haben sie es ihnen denn verboten, mit Euch zu verkehren?«

»Unmittelbar nicht; aber ich bin in Ungnade gefallen, und so ziehn sich die andern von selbst von uns zurück.«

»In Ungnade? Warum?«

»Weil wir, meine Elvira und ich, die gnädige Condesa nicht fremden Händen überlassen, sondern sie in ihrer Krankheit bedienen wollen, und als wir abgewiesen wurden, es dennoch versuchten, zu ihr zu kommen; deshalb bin ich vorhin von meinem Amt enthoben worden. Ich habe hier nichts mehr zu tun; ich soll das Schloß baldigst verlassen, und nun mögen auch die nichts mehr von uns wissen, die wir für unsre Freunde gehalten haben.«

»Sie werden sich Eurer recht gut erinnern, wenn erst die sorgenvollen Tage vorüber sind. Im Augenblick ist mir aber das wichtigste, zu erfahren, ob ich Señor Sternau treffen kann.«

»Leider nicht. Er ist verschwunden.«

»Verschwunden?«

»Ja, ganz plötzlich. Niemand weiß, wohin. Es kam ein Herr in einer Kutsche und mit dem ist er weggefahren.«

»Seltsam. Ich muß ihn sprechen, und ich werde ihn finden! Jetzt will ich gehn, damit meine Anwesenheit nicht auffällt.«

Der Schmuggler verabschiedete sich und schritt das Dorf entlang. Er überlegte, was zu tun sei, um Sternaus Aufenthalt zu erfahren. Er ermittelte allmählich, daß eine von vier Schutzleuten begleitete Kutsche nach Barcelona gefahren sei. Sie mußte dort vor dem Gefängnis gehalten haben, und er beschloß, mit dem Schließer Bekanntschaft anzuknüpfen, um zu einem Ziel zu gelangen. Dies war schwer, aber nach langen Mühen gelang es ihm, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen und Zutritt in dessen Wohnung zu erlangen.

Endlich erfuhr er auch, daß sich ein gewisser Doktor Sternau unter den Gefangnen befinde.

Nun begann er, unmittelbar an dessen Befreiung zu denken. Er sann nach und dachte schließlich an den Verwalter, von dem er unterdessen erfahren hatte, daß er Rodriganda verlassen habe und in Manresa wohne. Er ging zu ihm und wurde mit großer Freude aufgenommen.

»Gott sei Dank, daß Ihr kommt!« rief Alimpo. »Ich glaubte bereits, daß Ihr mich und alle unsre Freunde vergessen hättet; meine Elvira sagt es auch.«

»Ich habe weder Euch noch sie vergessen«, sagte Mindrello. »Ich habe vielmehr unausgesetzt daran gearbeitet, Señor Sternau zu befreien!«

»Ah, Ihr wißt, wo er sich befindet?«

»Ja, ich habe es kürzlich erst erfahren können! Er weilt als Gefangner in Barcelona.«

»Als Gefangner? Oh, oh! Hörst du es, meine liebe Elvira?«

»Ja, ich höre es, mein Alimpo«, erwiderte die Gefragte. »Daran ist sicher Cortejo schuld!«

»Kein andrer! Wird er noch lange gefangen sein, werter Mindrello?«

»Er wird niemals wieder frei sein, wenn wir ihn nicht erlösen.«

»Wir? Oh, wie gern!« rief Alimpo. »Wer was können wir dabei tun?«

»Hm, viel und wenig. Habt Ihr Geld, Señor Alimpo?«

»Geld? Wieviel?«

»Señor Sternau hat natürlich in seiner Gefangenschaft keine Mittel; will er fliehn, so bedarf er des Geldes, um über die Grenze zu kommen, und ich – ich bin ja nur ein armer Teufel.«

Da sprang Alimpo von seinem Stuhl auf, riß den Kasten einer Truhe hervor, griff hinein und brachte mehrere große, gefüllte Beutel und eine Brieftasche zum Vorschein.

»Hier, hier, nehmt!« rief er ganz begeistert. »Ich habe viel Geld, und Ihr sollt alles haben!«

»Wieviel ist es?«

»Vier- oder fünftausend Duros, unsre Ersparnisse während der ganzen Lebenszeit. Für den guten Señor Sternau geben wir es gern. Nicht wahr, meine gute Elvira?«

»Ja«, nickte sie. »Wenn er nur wieder frei wird! Dann kann er vielleicht auch unsre Condesa heilen.«

»Wo ist sie?« fragte Mindrello. »Wohl in einer Heilanstalt für Geisteskranke?«

»Nein. Sie ist in Lorissa, im Stift der heiligen Veronika.«

»Aber sie gehört doch nicht in ein Stift, sondern in eine Heilanstalt!«

»Kann sie sich wehren? Ich habe erfahren, daß Señora Clarissa mit ihr dorthin abgereist ist. Die Condesa ist ganz ohne Willen, sie weiß gar nicht mehr, wer sie ist.«

Mindrello dachte nach. Endlich fragte er: »Und Ihr denkt, daß Señor Sternau sie heilen würde?«

»Ganz gewiß!«

»Gut. Ich werde mir die Anstalt in Lorissa einmal ansehn. Also Ihr werdet mir so viel Geld anvertrauen, als ich brauche, Señor Alimpo?«

»Nehmt so viel Ihr wollt, nehmt alles, ich habe es Euch ja bereits gesagt! Nicht wahr, meine Elvira?«

»Ja«, bestätigte die dicke Frau.

»Nun gut«, sagte Mindrello. »Ich muß ein Pferd für ihn haben, vielleicht auch eins für mich. Gebt mir zweihundert Duros!«

»Zweihundert? Das ist zuwenig. Nehmt fünfhundert!«

»Ich brauche nicht soviel, wenigstens jetzt nicht; aber ich werde es doch nehmen, denn bei solchen Angelegenheiten ist es besser, man hat mehr als weniger.«

Mindrello nahm das Geld und ging. Bis zur Anstalt Lorissa waren es nur zwei Wegstunden. Er erfuhr, daß die Gräfin Roseta niemals ein Wort spreche und nur sehr wenig genieße. Sie war noch immer schön, aber ihre Schönheit war die eines Wesens, das dem Grab entgegengeht. Sie hielt sich stets auf dem kleinen Friedhof auf, der zur Anstalt gehörte, betrat ihn bereits früh, betete daselbst den ganzen Tag und konnte des Abends nur mit sanfter Gewalt nach ihrer Zelle gebracht werden.

Nachdem der Schmuggler das alles erfahren hatte, kehrte er nach Barcelona zurück. Hier kaufte er ein Pferd und einen Maulesel, das erstere für Sternau und den letztem für sich. Die Tiere ließ er aber beim Händler stehn, um sie erst im Augenblick des Gebrauchs abzuholen.

So vergingen abermals Wochen. Für schweres Geld verschaffte sich Mindrello bei einem Krämer, der sich mit allerhand dunklen Geschäften abgab, falsche Papiere, die auf den Namen eines Gerichtsarztes lauteten. Dann kaufte er sich einen entsprechenden Anzug, machte sich im Gesicht unkenntlich und ging zum Gefängnis. Der Wärter sah die Ausweise und ließ den vermeintlichen Arzt ein. Er steckte den großen Schlüsselring zu sich und brannte die Laterne an. In der Nähe der Tür hingen zwei große Torschlüssel. Sie gehörten zwei Beamten, die sie hier abzugeben hatten. Während der Schließer sich mit der Laterne zu schaffen machte, gelang es Mindrello, einen der Torschlüssel unbemerkt an sich zu bringen, dann gingen sie zu den Zellen.

Was sich dort ereignete, wissen wir bereits. Sternau mußte die Leiche tragen und entkam. Unterdessen hatte der Schmuggler die beiden Tiere geholt und erwartete ihn auf der Straße nach Manresa. Es war zwar kein Wort zwischen ihnen gefallen, aber Mindrello war überzeugt, daß der Arzt nur in der Richtung nach Rodriganda fliehn werde.

Von weitem schon erblickte Sternau ein Pferd und ein Maultier, die von seinem Befreier geführt wurden. Dieser hatte seine Maske abgelegt, und nun wurde dem Arzt der Zusammenhang klar.

Nach kurzen Dankesworten stieg er auf, und alsbald flogen sie so schnell auf der Strecke dahin, wie die Tiere nur laufen konnten. Der Arzt atmete die reine Winterluft mit Wonne ein. Nach einer Weile fragte er:

»Nicht wahr, Condesa Roseta hat Euch zu meiner Befreiung gesandt, guter Mindrello?«

»Nein, sondern Señor Alimpo.«

»Der Schloßverwalter? Ach so, also doch im Auftrag der Condesa?«

»Nein. Die Condesa ist krank, sie gibt keinen Auftrag mehr.«

Da erschrak Sternau aufs tiefste. »Krank?« fragte er. »Welche Krankheit hat sie?«

»Sie ist –« Mindrello stockte vorsichtig und fuhr dann fort: »Sie hat dieselbe Krankheit, die Ihr an ihrem Vater heilen solltet.«

Es durchzuckte Sternau wie ein plötzlicher Schlag. »Höre ich recht? Sie ist – wahnsinnig?«

»Ja.«

»Wahnsinnig!« Dieses Wort schrie er förmlich in die stille, lautlose Nacht hinaus. Plötzlich hielt er sein Pferd an und fragte in höchster Angst: »Wo ist sie?«

»Im Stift der heiligen Veronika zu Lorissa.«

»Ah, ich errate!« knirschte Sternau. »Die sogenannte Leiche des Grafen Manuel ist begraben?«

»Ja.«

»Graf Alfonso ist Nachfolger?«

»Ja.«

»Gasparino Cortejo ist bei ihm?«

»Ja.«

»Wo ist Señora Clarissa?«

»Im Stift in Lorissa!«

»Und der Schloßverwalter?«

»Wohnt in Manresa. Er wurde fortgejagt. Er gab mir die gefüllte Brieftasche, die ich Euch zusteckte, er gab mir auch Geld, diese zwei Tiere zu kaufen; er wird Euch noch mehr Geld geben, so viel Ihr zur Flucht braucht, Señor.«

Sternau gab keine Antwort. Das Gehörte beschäftigte ihn so, daß sie lange wortlos nebeneinander einherritten. Schließlich unterbrach Mindrello, der noch etwas auf dem Herzen hatte, das Schweigen.

»Señor, ich habe auch eine gute Nachricht für Euch.«

Wie aus einem Traum erwachte Sternau. Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er ganz vergessen hatte, daß er nicht allein sei.

»Eine gute Nachricht?« fragte er mit einem Anflug von Bitterkeit in der Stimme. »Ich kann es fast nicht glauben, denn das Schicksal hat mich in letzter Zeit wenig verwöhnt.«

»Wollt Ihr mich nicht fragen, Señor, wie ich Euern Auftrag, den verschwundnen Don Manuel aufzusuchen, erledigt habe?«

Mit einem Ruck wandte der Angeredete sein Gesicht dem Fragenden zu. »Don Manuel? Wahrhaftig, Ihr habt recht. In der Bestürzung über das Unglück der Condesa dachte ich nicht mehr an ihn. Habt Ihr etwas über seinen Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht?«

»Señor, ich habe Don Manuel gefunden«, sagte Mindrello einfach.

»Ihr habt – –?« Sternau griff in seiner Überraschung so heftig in die Zügel, daß sein Pferd kerzengerade in die Höhe stieg. »Ihr habt Don Manuel gefunden?« rief er in die Nacht hinaus.

»Ja«, nickte der Spanier, »und es ist mir gar nicht schwergefallen. Die Zigeuner sind zwar eine schlaue Gesellschaft, aber wir Schmuggler sind auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie haben es zwar sehr schlau eingefädelt, um allen Nachforschungen zu entgehn, aber ich bin doch hinter ihre Schliche gekommen.«

»Nun, so erzählt!« bat Sternau.

»Ich machte mich also Eurem Auftrag gemäß hinter ihnen her. Ihre Spur fand ich bald, denn eine so große Gesellschaft kann nicht so ohne weiteres vom Erdboden verschwinden. Aber es dauerte doch sehr lang, bis ich sie einholte. Sie waren natürlich längst nicht mehr in der Grafschaft, sondern lagerten bei Babastro. Von hier aus gings weiter über Huesca, Murillo und Sanguesa. Mir fiel gleich die Eile auf, mit der sie vorwärts strebten: das glich schon fast einer Flucht, und es war auch der Grund, warum ich sie so spät zu Gesicht bekam.«

»Blieben sie an keinem Ort längere Zeit?«

»Das fiel ihnen gar nicht ein. Doch hört weiter, Señor! Mein erstes war, daß ich mich unverfänglich erkundigte, ob die Gesellschaft vollzählig sei. Es wäre ja auch möglich gewesen, daß sich ein Mitglied der Bande von ihr getrennt und den Grafen abseits gebracht hätte. Das war indes nicht der Fall; sie waren wohl zu klug, um den Geistesgestörten in der Nähe seiner Heimat irgendwo zu verstecken, wo er leicht gefunden werden konnte.«

»Wie habt Ihr Euch denn versichert, daß der Graf noch bei ihnen war?«

»Ich konnte aus der Entfernung bald beobachten, daß sie einem ihrer Wagen eine besondre Aufmerksamkeit schenkten. Sie ließen ihn fast nicht aus den Augen, und wenn sie am Abend Lager schlugen, nahmen sie ihn in die Mitte des Lagerrings. Wen sollte der Wagen beherbergen, wenn nicht den Grafen, obgleich ich ihn nie zu Gesicht bekam; denn die Zigeuner hüteten sich sehr, den Insassen sehn zu lassen.«

»Ihr habt jedenfalls richtig beobachtet. Weiter!«

»Die Reise ging in langen Tagmärschen an Pamplona vorbei, das sie weit links liegen ließen, stetig bergauf. Der Pico de Azpiroz wurde auf einem Paß überschritten, und dann gings hinunter ins Tal des Orio an die See, ich natürlich getreulich hinterher. Vor San Sebastiano bogen sie links ab und schlugen nicht weit vom kleinen Städtchen Orio am Meeresstrand ihr Lager auf.«

»Ah! Hier wurde der Graf eingeschifft?«

»Ganz, wie Ihr vermutet, Señor! Auch ich war davon überzeugt und lag nun Tag und Nacht auf der Lauer, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, da die Einschiffung vor sich gehn sollte. In einer finstern Nacht wurde sie in einem Segelboot bewerkstelligt. Zum Glück war die Stelle, wo ich mich in den Sand eingegraben hatte, so günstig gewählt, daß mir nichts entgehn konnte.«

»Donnerwetter! Wenn sie Euch entdeckt hätten!«

»Das war zum Glück nicht der Fall. Und wenn auch – Caramba! ich besitze für solche Fälle ein spitzes Messer, und es wäre erst zu entscheiden gewesen, wem das Entdecktwerden mehr geschadet hätte. Ich beobachtete also, daß zwei Männer sich aus dem Lager entfernten und ins Boot stiegen, das von zwei Schiffern bedient wurde. In dem Augenblick, da der erste der beiden Männer eingestiegen war, wurde das Fahrzeug von einer kleinen Welle emporgehoben, so daß der Mann ins Wanken kam und sich an der Ruderbank einhalten mußte. Dabei entfuhr ihm ein Schrei der Angst, und ich verstand ganz deutlich die Worte: ›Ich bin der gute, treue Alimpo!‹ Señor, Ihr hattet mir gesagt, daß der geistesgestörte Graf diese Worte oft gebrauche, und so war ich meiner Sache sicher.«

»Wie ging es weiter? Schnell!« drängte der andre.

»Kaum hatte der Graf diese Worte gesagt, so stieß sein Begleiter einen ärgerlichen Fluch aus und folgte ihm schnell nach. Dann wurde das Segel gerichtet, und die Männer nahmen auf den Bänken Platz, nachdem sie den Grafen in einem kleinen Verschlag untergebracht hatten. Bevor sie vom Ufer stießen, fragte der zuletzt Eingestiegene: ›Wie lange braucht ihr bis Saint Nazaire?‹ – ›Bei gutem Wind zwei Tage.‹ – ›Und von dort nach Avranches?‹ – ›Wollt Ihr dorthin über Land oder ums Vorgebirge St. Mathieu herum?‹ – ›Ich will möglichst wenig gesehn werden.‹ – ›So brauchen wir ebenfalls zwei Tage, um die Küste der Bretagne zu umsegeln. Aber, Señor, die Segelschiffahrt ist in jener Gegend gefährlich, der vielen Klippen wegen.‹ – ›Mir gleich. Ich zahle gut. Kennt ihr den Leuchtturmwächter von Avranches?‹ – ›Nein.‹ – ›Zu ihm will ich. Er ist ein ...‹ Mehr konnte ich nicht hören, denn der Wind hatte sich ins Segel gelegt, und das Boot entfernte sich mit großer Schnelligkeit von der Küste. Ihr könnt Euch denken, Señor, mit welcher Spannung ich diesen Worten gefolgt war. Ich ging zunächst in das Städtchen hinein und suchte ein Gasthaus auf, um mich einmal gründlich auszuschlafen. Denn ich war in den letzten Nächten zu einer eigentlichen Ruhe nicht gekommen. Und jetzt hatte ich ja Zeit, mich ein wenig zu strecken. Ich kannte das Ziel des Zigeuners, und ich konnte also seine Spur nicht wieder verlieren.«

Sternau ergriff die Hand des Erzählenden und drückte sie herzlich. »Ihr habt Eure Sache gut gemacht, und die Familie Rodriganda ist Euch zu großem Dank verpflichtet. Ich selber hätte ja in dieser Sache nicht das mindeste tun können. Aber erzählt jetzt weiter!«

»Ich ruhte mich in Orio tüchtig aus und ergänzte meine Kleidung, die auf den oft schlechten Wegen sehr gelitten hatte. Mit Geld hattet Ihr mich ja hinreichend versorgt! Dann schmuggelte ich mich, da ich keinen Paß besaß, über die Grenze und nach Bayonne, von wo aus ich die Bahn benutzte. Zwei Tage später hatte ich über Bordeaux, Nantes und Rennes mein Ziel erreicht und mietete mich am Strand in einer der Fischerhütten ein. Nun ließ ich den Leuchtturm und seine Bewohner nicht mehr aus den Augen. Am ersten und zweiten Tag machte ich noch keine Beobachtung. Aber am dritten bemerkte ich, daß der Leuchtturm einen neuen Bewohner bekommen habe. Als ich um die zehnte Abendstunde mich am Leuchtturm vorbeischlich, sah ich oben auf der Galerie eine lange hagere Gestalt, die sich deutlich gegen den Sternenhimmel abhob. Ich blieb stehn, um mir den Mann anzusehn, da hörte ich eine Stimme in die stille Nacht hineinklagen: ›Ich bin der gute, treue Alimpo!‹ Das war genug für mich, und ich ging in meine Hütte und legte mich schlafen. Den nächsten Tag verbrachte ich mit Spaziergängen in der Umgebung. Einmal versuchte ich, den Leuchtturm zu besteigen, wurde aber von Gabrillon, so heißt der Wächter, grob abgewiesen. Ich tat, als ob ich mich von ihm einschüchtern ließe und entfernte mich. Ich wußte ja ohnedies, woran ich war, und konnte meine Aufgabe als erfüllt ansehn. Eine Woche später war ich wieder in Rodriganda und erfuhr von Alimpo Eure Verhaftung und die Erkrankung der Condesa. Das übrige wißt Ihr bereits, Señor.«

Sternau dankte dem Erzähler gerührt für seine selbstlosen und aufopfernden Bemühungen, und dann flogen sie wieder mit Windeseile durch die Nacht. Es waren noch nicht zwei Stunden vergangen, so sahen sie Manresa vor sich liegen.

»Wir lassen die Pferde hier vor der Stadt im Gasthaus«, sagte Sternau. »Es ist besser, wenn uns niemand bemerkt.«

Sie stiegen ab, banden die dampfenden und vor Anstrengung zitternden Tiere im Stall an und schlichen sich nach der Wohnung Alimpos, die sie unbemerkt erreichten.

Der Verwalter saß in seinem Stübchen und unterhielt sich mit seiner Elvira über die Ereignisse der letzten Wochen, die eine so unheilvolle Wendung auf Schloß Rodriganda genommen hatten. Da trat Sternau herein, gefolgt von Mindrello, der hinter sich sogleich die Tür verriegelte.

»Señor Sternau!« rief Alimpo, indem er emporsprang.

»Señor Sternau!« rief auch Elvira.

Und im nächsten Augenblick hatten sie beide seine Hände ergriffen und bedeckten sie mit Küssen.

»Oh, nun ist alles, alles gut!« frohlockte Frau Elvira unter Freudentränen. »Nun wird auch unsre liebe, gute Condesa wieder frei werden!«

»Ja, sie soll frei sein!« gelobte Sternau. »Frei und gesund. Und weh diesen Giftmischern!«

Das blasse Aussehen Sternaus veranlaßte die brave Elvira, dem Gast eiligst einen guten Imbiß und einen stärkenden Trunk vorzusetzen, was Sternau dankend annahm.

Er fuhr aber sogleich fort: »Wir haben nicht viel Zeit, Señor Alimpo, aber erzählt mir dennoch, was geschehn ist!«

Alimpo folgte dieser Aufforderung. Als er geendet hatte, sagte Sternau nachdenklich:

»Die Condesa ist in der Gewalt dieser Menschen, gegen die ich, solang ich mich in Spanien befinde, nicht öffentlich auftreten kann, da ich aus dem Gefängnis entflohn bin. Ich will daher die Gräfin aus dem Stift entführen und mich zu diesem Zweck nach Rodriganda begeben, um mir einiges zu holen, was ich brauche; ich bin also von jetzt an ein zweifacher Verbrecher und muß noch heute mit der Condesa über die Grenze.«

»Ihr werdet die Gräfin befreien?« frohlockte Elvira.

»Ja, noch in dieser Nacht.«

»Und wohin geht Ihr mit ihr?«

»Über die Grenze nach Frankreich und dann noch weiter bis nach Deutschland, in mein Vaterland.«

»Señor, ich gehe mit! Nicht wahr, mein lieber Alimpo?«

»Ja, wir gehn mit!«

Diese Worte wurden mit Entschiedenheit ausgesprochen. Sternau aber entgegnete:

»Ich freue mich über Eure Treue; auch brauche ich notwendig eine Bedienung für unsre kranke Gräfin, aber Ihr könnt nicht so schnell fort von hier. Ihr habt Eigentum und Sachen.«

»Señor, wir gehn dennoch mit!« beteuerte Alimpo. »Ich schwöre es, daß wir Euch und unsre liebe Gräfin nicht verlassen. Dieses Haus, in dem wir wohnen, gehört meinem Neffen. Er wird uns nicht verraten, mag er heut auch hören und sehn, was er wolle. Er wird unsre Sachen später verkaufen und mir den Ertrag nach Deutschland schicken.«

»Gut«, erklärte Sternau. »Ihr sollt mit uns gehn.«

»Dank, tausend Dank, Señor!« rief der Verwalter. »Nicht wahr, Elvira?«

»Ja, das werden wir dem Señor niemals vergessen!«

»Also Ihr wollt auch nach Rodriganda?« fragte Alimpo.

»Ja.«

»Ich habe noch den Schlüssel zu einer der Seitenpforten.«

»Ich danke! Ich werde frei und offen ins Schloß gehn«, versetzte Sternau stolz. »Sind noch viele der frühern Diener da?«

»Mehrere.«

»Gut. Habt Ihr eine Waffe, Alimpo, so gebt sie mir!«

»Señor Sternau, allein lasse ich Euch aber nicht gehn«, sagte da Mindrello. »Ich begleite Euch auf alle Fälle.«

»So reitet mit! Alimpo mag sich unterdessen zur Abreise vorbereiten.«

»Soll ich einen Wagen besorgen?« fragte der Verwalter.

»Nein«, antwortete Sternau. »Es liegt jetzt auf allen Wegen Schnee; nicht Wagen brauchen wir, sondern Schlitten. Ich bringe welche mit.«

»Woher?«

»Aus Schloß Rodriganda.«

»Señor!« rief da Alimpo erschrocken. »Ihr werdet Euch verraten!«

»Pah, ich werde mich offen zeigen und für die Condesa zwei Reiseschlitten verlangen. Ich werde sehn, ob man es wagt, sie mir zu verweigern. Kommt, Mindrello!«

Sternau steckte eine von Alimpo entliehne Pistole zu sich, und sie verließen das Haus. Nach kurzer Zeit flogen sie auf der Straße von Lorissa dahin. Es war nicht viel über eine halbe Stunde vergangen, als sie das Städtchen erreichten. Mindrello lenkte um dieses herum, auf eine einzeln stehende Gebäudegruppe zu, die sich finster aus dem schneebedeckten Feld abhob.

»Wie kommen wir hinein?« fragte Sternau.

»Über die Friedhofsmauer«, lautete die Antwort.

Diese Mauer lag grade vor ihnen. Sie war nur zwei Meter hoch, so daß sie, da sie zu Pferd saßen, drüber hinwegblicken konnten. Jetzt hielten sie hart daran. Sternau deutete nach einer dunklen Gestalt, die unbeweglich zwischen den Gräbern kniete.

»Was ist das?« fragte er. »Ein Standbild?«

Mindrello sah schärfer hin und erwiderte entsetzt: »Bei Gott, das ist sie!«

»Wer? Doch nicht etwa die Gräfin?«

»Und doch! Sie ist es!«

»Zu dieser Zeit! In dieser Kälte! In diesem Schnee! Sie erfriert ja; sie geht zugrunde! Aber man macht es mir dadurch um so leichter!«

Sternau stieg vom Sattel auf die Mauer und sprang jenseits herab. Nun schritt er auf die Gestalt zu. Sah sie ihn? Hörte sie sein Kommen? Nein. Sie kniete zwischen den Gräbern im tiefen, hartgefrornen Schnee und betete. Sternau erkannte sie sofort, trotz des härenen Gewands, in das sie gekleidet war, trotz der eingesunknen Augen und Wangen und trotz der leichenhaften Blässe, die der helle Sternenschimmer auf ihrem Gesicht erkennen ließ.

»Roseta!« sagte er mit zitternder Stimme.

Sie hörte es nicht.

Da kniete er neben ihr nieder und nahm sie in seine Arme, küßte sie und nannte sie bei den zärtlichsten Namen, aber sie hörte und fühlte ihn nicht. Sein Herz krampfte sich zusammen vor unendlichem Weh. Er durfte aber nicht zaudern, und daher nahm er sie rasch auf seine Arme und trug sie zur Mauer. Dort gab er sie Mindrello hinüber und setzte sie dann, als er die Mauer übersprungen hatte und wieder aufgestiegen war, zu sich aufs Pferd.

Im eiligsten Lauf schlugen die beiden Reiter jetzt den Weg nach Rodriganda ein, und bald durchritten sie das Dorf. In der Venta erblickte man noch ein Licht. Sternau drängte sein Pferd an das kleine Fenster, durch das es schimmerte, und klopfte. Nach einiger Zeit wurde es vorsichtig geöffnet, und ein mit einer großen Nachtmütze bedeckter Kopf ließ sich beim Schein der Lampe erkennen.

»Was gibt es?« fragte die Stimme des Wirts.

Der Arzt neigte sein Gesicht vom Pferd bis zum Fenster nieder und antwortete:

»Blickt einmal her! Kennt Ihr mich?«

»O Gott, Señor Sternau!« rief da der Besitzer der Venta. »Ist dies möglich?«

»Ja, ich bin es. Wollt Ihr mir einen Gefallen tun?«

»Gern! Welchen?«

»Geht einmal zum Alkalden und sagt ihm, er solle sofort mit den Dorfältesten nach dem Schloß kommen.«

»Was sollen sie dort?«

»Das werden sie erfahren.«

Dann eilten sie weiter, und der Wirt sah ihnen kopfschüttelnd nach. »Der Señor Doktor«, brummte er. »Woher kommt er? Was hatte er auf dem Pferd? Das sah grade wie eine menschliche Gestalt aus. Und der andre war Mindrello, der so lange fort gewesen ist.«

Als die beiden Reiter das Schloß erreichten, stiegen sie vom Pferd. Man sah kein einziges Fenster erleuchtet, und nur aus der Wohnung des Pförtners schimmerte ein matter Lichtschein. Sternau klopfte, und gleich darauf trat der Pförtner ans Gitter.

»Wer ist draußen?« fragte er. »Es wird zur Nachtzeit nicht geöffnet.«

»Und dennoch wirst du öffnen, Henrico!« sagte Sternau. »Ich hoffe, daß du mich noch kennst?«

Der Mann war beim Klang dieser Stimme freudig erstaunt zurückgefahren. »Señor Sternau! Ja, ja, ich öffne sogleich!«

Er beeilte sich, das Gitter aufzuschließen, und Sternau trat, die Wahnsinnige auf dem Arm, ein. Als der Pförtner es sah und sie erkannte, hätte er fast das Licht fallen lassen.

»Heilige Madonna!« rief er. »Das ist ja die Condesa!«

»Allerdings. Weißt du vielleicht, ob sich ihre Zimmer noch in der alten Ordnung befinden?«

»Es ist gar nichts daran geändert. Ich habe die Schlüssel hier, denn es ist noch kein Verwalter wieder angestellt worden.«

»So nimm den Schlüssel und leuchte uns voran!«

»Soll ich nicht den Grafen wecken?«

»Wecken werden wir erst später. Komm!«

»Oder doch die Dienerin der Condesa?«

»Ist sie noch da?«

»Ja. Sie hat die Señora Clarissa zu bedienen, wenn diese zu Besuch nach Rodriganda kommt.«

»So wecke sie! Aber das soll alles in der Stille geschehn.«

Es war dem Arzt jetzt vor allen Dingen darum zu tun, den Eindruck zu beobachten, den die bekannte Wohnung auf die Kranke machen werde. Die Zimmer wurden aufgeschlossen, Sternau trug Roseta hinein und ließ sie auf den Diwan nieder. Sofort glitt Roseta zu Boden, um mit gefalteten Händen zu beten. Sie bemerkte es gar nicht, daß sie den kalten Friedhof mit ihrer früheren Wohnung vertauscht hatte. Sternau ließ sich nicht merken, was er fühlte. Übrigens trat jetzt das Mädchen herein. Dieses war ganz außer sich vor Freude, ihre Herrin zu sehn, und Sternau befahl ihr, die Gräfin zu einer weiten Reise an- und umzukleiden. Sodann gab er dem Pförtner den Befehl, sämtliche Diener im Speisesaal zu versammeln. Er selber aber schritt nach der Wohnung des Grafen Alfonso. Im Vorzimmer schlief ein Diener, der sich erstaunt aufrichtete, als er Sternau erkannte. Der Doktor wies ihn hinaus und trat bei Alfonso ein.

Dieser lag im Bett und schlief. Eine Ampel erleuchtete das Gemach zur Genüge. Ohne nur einen Augenblick zu zaudern, erhob Sternau die Faust und schlug sie dem Schläfer vor die Stirn, so daß der Schlaf in Betäubung überging. Er fand einige Tücher, die als Fesseln und Knebel verwendet wurden. Dann verließ er das Zimmer, schloß es hinter sich zu und steckte den Schlüssel ein. Sein Weg führte ihn zur Wohnung des Advokaten. Diese war verschlossen. Er klopfte.

»Wer ist da?« fragte nach einer Weile Cortejo von innen.

»Ich. Öffne mir!« antwortete Sternau, indem er die Stimme Alfonsos nachahmte.

»Donnerwetter! Was gibt es denn? Hat es keine Zeit?« fragte der Advokat gähnend.

»Nein.«

»So komm!«

Man hörte, daß Cortejo aus dem Bett stieg und den Schlafrock anzog, näher schlürfte und öffnete. Es war dunkel auf dem Flur, so daß er nicht sah, wer draußen stand.

»Nun, tritt näher, Alfonso!« sagte er. »Was kommt dir denn in den Sinn, daß du so spät – –«

Doch da hielt der Advokat plötzlich mitten in der Rede inne, denn der Schreck raubte ihm die Sprache. Sternau war eingetreten, hatte die Tür hinter sich zugezogen, und da das Nachtlicht ihn zur Genüge beleuchtete, hatte der Notar ihn sofort erkannt und vor ungeheurer Bestürzung vergessen, seine Rede zu vollenden.

»Ihr scheint meine Stimme verkannt zu haben«, sagte Sternau zu ihm in einem Ton, der kalt wie Eis war und spitz wie Stahl.

»Sternau!« stammelte jetzt der Notar.

Zu einem lauten Wort konnte er es noch nicht bringen, aber er machte doch eine Bewegung, als wolle er nach der Tür springen. In demselben Augenblick jedoch schlug ihm der Arzt die Faust vor den Kopf, daß er wie ein Sack zu Boden stürzte. Eine Minute später war auch Cortejo gefesselt und geknebelt, wie vorher Graf Alfonso. Sternau schloß ihn dann ein und geleitete Señorita Roseta nach dem Saal, wo die Diener in Erwartung dessen standen, was da kommen solle. Auch der Alkalde mit den Ältesten des Dorfs war bereits zugegen.

Die Anwesenden erschraken bei dem Anblick der geliebten Herrin und wollten herzutreten, um ihre Gefühle auszusprechen. Sternau aber wehrte ihnen ab und sprach:

»Señores, kennt Ihr diese Dame?«

»Ja«, ertönte es rundum.

»Könnt Ihr beschwören, wer sie ist?«

Man wunderte sich über diese Frage und antwortete wieder mit einem Ja.

»So mag auch der Alkalde sagen, wer sie ist.«

»Es ist die Condesa Roseta de Rodriganda y Sevilla«, versicherte der Aufgeforderte.

»Dann setzt Euch nieder, Señor, und stellt mir ein amtliches Zeugnis aus, daß diese Doña die Gräfin ist! Die sämtlichen Anwesenden werden die Urkunde unterzeichnen.«

»Warum?«

»Man trachtet der Gräfin nach dem Leben, man macht sie wahnsinnig, ich will sie retten und brauche dazu die erwähnte Urkunde.«

Der Alkalde wollte noch weiter fragen, denn er sah sich hier vor den Pforten eines Geheimnisses, in das er gern eingedrungen wäre. Doch Sternau bat um Eile, und er mußte sich fügen.

Hierauf ging Sternau nach den Zimmern, die er selber bewohnt hatte. Er fand diese unberührt und packte in Gegenwart des Alkalden und der Ältesten ein, was er mitzunehmen gedachte. Dann mußten ihn die Beamten nach den Zimmern der Gräfin begleiten, wo er ebenso alles aufschreiben ließ, was mitgenommen wurde. Durch diese Maßregel stellte er sich gegen spätere Anklagen sicher. Von höchstem Wert waren ihm der Geburts-, Tauf- und Firmungsschein der Gräfin. Er fand diese Papiere in ihrem Schreibtisch und steckte sie zu sich.

Der Alkalde bat um Bescheid, erhielt aber keine Aufklärung. Dann ließ Sternau zwei Schlitten mit den schnellsten Pferden bespannen, bestieg den einen mit der Gräfin, während Mindrello den andern lenkte, und fuhr davon. Die beiden Tiere, auf denen sie nach Rodriganda gekommen waren, ließen sie zurück.

Die Zurückbleibenden lugten den beiden Schlitten so lange nach, als sie zu sehn waren, endlich aber blickten sie sich – untereinander selber an. Was war das gewesen? Was hatte das zu bedeuten? Woher war Sternau, der Verschwundene, so plötzlich gekommen, und wohin wollte er mit der Gräfin? Warum ließen sich der Graf und der Sachwalter gar nicht sehn?

Man ging nach der Wohnung des erstern und fand sie verschlossen. Das war verdächtig. Man klopfte, und als man angestrengt horchte, hörte man als Antwort ein unterdrücktes Wimmern. Jetzt wurde das erste beste Werkzeug herbeigeholt, um die Tür aufzusprengen, und nun fand man Graf Alfonso gefesselt und geknebelt im Bett liegen. Er wußte von nichts, aber als er befreit war und hörte, daß Sternau hier gewesen sei und die Gräfin mitgenommen habe, warf er die nächstliegenden Kleidungsstücke über und eilte zum Advokaten.

Auch dessen Tür war verschlossen, man sprengte sie ebenfalls auf und fand Cortejo in einem jammervollen Zustand. Er hatte sich unter den Fesseln so gekrümmt und gewunden, daß die Bande tief ins Fleisch gedrungen waren.

Beide ordneten sofort eine schleunige Verfolgung an, und Alfonso stieg selber zu Pferd, um in Manresa Polizei zu holen und die sonst noch notwendigen Schritte einzuleiten. –

Unterdessen hatten die beiden gräflichen Schlitten Manresa erreicht. Die Freude, die Alimpo und Elvira beim Anblick ihrer Herrin empfanden, läßt sich nicht beschreiben. Sie hatten ihre Vorkehrungen vollständig getroffen und konnten sofort einsteigen.

»Für jetzt trage ich keine Sorge,« sagte Sternau zu Mindrello, »aber später–!«

»Grade für später darf es Euch nicht bange sein, Señor«, antwortete dieser. »Haben wir nur erst die Berge erreicht; dann laßt mich sorgen!«

»Wie weit geht Ihr mit?«

»So weit Ihr wollt.«

»So haben wir nachher Zeit zu Erklärungen; jetzt müssen wir eilen. Ich nehme die Gräfin und Elvira in meinen Schlitten: Alimpo fährt mit Euch.«

Nachdem die braven Verwaltersleute von ihrem Neffen Abschied genommen hatten, fuhr man ab. Die beiden Schlitten verließen im Norden grad in demselben Augenblick die Stadt, als Alfonso von Süden her in diese einritt.

Die Pferde waren sehr gut, aber nach den Bergen zu wurde der Schnee immer höher, der Weg immer unfahrbarer und die Eile infolgedessen immer mäßiger. Gegen Abend waren die Tiere so ermüdet, daß man gezwungen war, in einem einsamen, an der Straße gelegnen Wirtshaus zu übernachten.

Bereits am nächsten Morgen in der Frühe wurde wieder angespannt. Es war für Sternau eine traurige Fahrt, denn Roseta kannte ihn nicht, blieb gleichgültig gegen alles und betete nur in einem fort. Er gab sich ebenso wie Frau Elvira alle Mühe, die Aufmerksamkeit der Kranken auf irgendeinen bestimmten Gegenstand zu lenken, doch vergeblich. Es war unmöglich, sie zur Erkenntnis der Gegenwart zu bringen.

Als der Mittag herannahte, befand man sich bereits mitten in den Pyrenäen.

Hier stand wieder ein einsames Einkehrhaus, und da die Pferde durch den tiefen Schnee bereits sehr ermüdet waren, beschloß Sternau, eine kurze Weile zu halten. Die Reisenden stiegen also aus und traten in den engen, kahlen Raum, in dem der Wirt ihnen nichts weiter als einen riesigen Herd und ein Stückchen trocknes, halb verschimmeltes Brot zu bieten vermochte. Zum Glück hatte die gute Frau Elvira vor der Abfahrt von Manresa dafür gesorgt, daß Mundvorrat nebst einigen Flaschen Wein in die Schlitten gepackt worden waren.

Die in dem einsamen Haus befindlichen Möbel bestanden nur aus einigen rohen Holzstühlen und einer langen, rohen Tafel, an der bei dem Eintritt der Gäste neben dem Wirt ein Mann saß, der nicht eben ein vertrauenerweckendes Aussehn hatte. Er trug eine weite Lederhose, lederne Gamaschen, eine zerschlissene Jacke, die anstatt der Knöpfe mit alten Kupfermünzen besetzt war, und einen vielfach abgerissenen und zerknitterten Hut. In seinem Gürtel steckte zwischen zwei großen Pistolen ein langes Messer; zwischen seinen Knien lehnte ein altes Gewehr, und neben ihm saß einer jener großen, bärenartigen Pyrenäenhunde, die es mit drei Männern aufnehmen.

Er zog sich vor den Reisenden in eine Ecke zurück, blickte aber erstaunt auf, als er jetzt Mindrello eintreten sah, der sich etwas länger bei den Pferden verweilt hatte. Als dieser den Mann erblickte, gab er ihm ein geheimnisvolles Zeichen und ging wieder vors Haus hinaus.

»Alle Wetter, Mindrello, woher kommst du mit diesen vornehmen Leuten?« fragte er.

»Von Manresa«, antwortete der Gefragte.

»Du fährst selber einen Schlitten!«

»Wie du siehst.«

»Wohin geht der Weg?«

»Hinüber nach Foix.«

»Sind es Freunde?«

»Ja. Sie stehn unter meinem Schutz.«

»So mögen sie in Gottes Namen ziehn; nur hoffe ich, daß sie uns keinen Schaden machen werden.«

»Schaden? Wie wäre dies möglich?«

»Dadurch, daß sie uns entdecken und verraten. Wir warten auf einen Transport Ware von drüben herüber. Er soll gegen Abend hier vorüberkommen. Wir stecken zu dreißig Mann droben unter dem Dach. Wenn deine Begleiter etwas merken und es den Franzosen erzählen, so kommen wir um den Fang.«

»Trage keine Sorge! Sie werden nichts merken. Wir bleiben nur eine halbe Stunde.«

Diese Versicherung beruhigte den Schmuggler; er kehrte nach der Stube zurück und nahm in seiner Ecke wieder Platz. Er schien sich um die Reisenden nicht zu bekümmern, nahm aber ein Glas Wein, das Alimpo ihm reichte, mit dankbarer Miene an.

So mochte die halbe Stunde fast vergangen sein, als man plötzlich draußen Pferdegetrappel und ein lautes, fröhliches Hallo hörte. Frau Elvira, die grade vor dem kleinen, schmalen Fenster stand und hinausblickte, erbleichte, schlug vor Schreck die Hände zusammen und rief:

» Santa Madonna, die Schutzleute!«

Alimpo sprang hinzu und blickte hinaus; auch er machte ein Zeichen des höchsten Schrecks und meldete:

»Und der Corregidor ist dabei.«

»Welcher?« fragte Sternau.

»Der Corregidor von Manresa.«

»Ah! Der kommt mir grade recht!«

»Oh, Señor, es ist keine Gegenwehr möglich. Es sind wohl gegen zwanzig Mann!«

Sternau überzeugte sich durch einen Blick von der Wahrheit dieser Worte und sagte entschlossen: »Ich werde dennoch kämpfen!«

Da erhob sich der Fremde in der Ecke und versetzte: »Habt keine Sorge, Señor! Ihr steht unter meinem Schutz!«

Sternau blickte erstaunt auf den Sprecher und fragte:

»Wer seid Ihr?«

»Euer Freund. Ihr habt mir Wein gegeben; ich werde Euch beschützen. Seht Ihr nicht, daß Mindrello bereits verschwunden ist? Wir kennen uns. Er holt Hilfe. Bleibt ruhig sitzen und überlaßt mir den Empfang!«

Alimpo hatte sich mit seiner Elvira in den äußersten Winkel des Gemachs zurückgezogen. Sternau setzte sich wieder nieder, hielt aber die Waffen bereit. Draußen waren unterdessen verschiedne Rufe erklungen, aus denen Sternau hörte, was er von den Angekommnen zu erwarten hatte.

»Das sind sie!« sagte eine Stimme.

»Ja, es sind die Schlitten und Pferde des Grafen!« fügte eine andre hinzu.

»Wir werden die Belohnung verdienen«, jubelte ein dritter.

»Steigt ab! Hinein!« befahl ein vierter. Es war die Stimme des Corregidors von Manresa.

Jetzt wurde die Tür geöffnet, und einige Schutzleute traten ein, der Oberrichter an der Spitze.

»Ah, Señor Sternau, da treffen wir Euch ja!« sagte er, als er den Arzt erblickte.

»Allerdings!« erwiderte dieser ruhig.

»Wie es scheint, hat es Euch in Barcelona nicht gefallen. Ihr seid entflohn, Señor. Das ist sehr schlimm für Euch. Außerdem habt Ihr bereits wieder einige neue Verbrechen begangen!«

»Welche denn?«

»Eine Entführung und einen Mord- und Raubanfall gegen die Bewohner von Rodriganda.«

»Das klingt allerdings höchst gefährlich!« lächelte Sternau.

»Das ist es auch. Seht hier diese Handschellen! Ich muß Euch in Eisen legen und zurückbringen.«

»Versucht es einmal!« entgegnete Sternau, sich erhebend, zur Gegenwehr bereit.

Der Corregidor trat schnell und vorsichtig einen Schritt zurück und sagte:

»Ich warne Euch, Señor! Keine Gegenwehr! Hier stehe ich mit vier Schutzleuten, und draußen vor dem Hause stehn weitere fünfzehn Mann. Ein Widerstand ist also unnütz!«

»Das glaube ich nicht!«

Diese Worte hatte der Mann in der Ecke gesprochen. Der Corregidor wandte sich erstaunt zu ihm:

»Wer seid Ihr?«

»Ein Freund dieser Herrschaften«, antwortete der Mann gleichmütig.

»Ah! So habt Ihr ihnen geholfen?«

»Nein, aber ich werde ihnen jetzt helfen.«

»So nehme ich auch Euch gefangen!«

»Oder ich Euch!« lachte der Fremde.

»Mich?« fragte der Corregidor zornig. »Mensch, wage nicht, mit mir Spaß zu treiben!«

»Blickt Euch um!«

Der Corregidor sah sich um und fuhr erschrocken zurück. Auch seine vier Schutzmänner traten unwillkürlich zur Seite, denn durch die weit offen stehende Tür ragten wenigstens zehn geladne Büchsenläufe herein, und im Vordergrund des Hausflurs sah man noch mehrere Männer, die ihre Gewehre gegen die ganz ohne Deckung draußen bei den Schlitten haltenden Schutzleute richteten.

»Nun?« fragte der Fremde. »Wie gefällt Euch das, mein tapfrer Señor Corregidor? Ich sage Euch, daß ich die Gewehre meiner Leute gar nicht brauche, um Euch das Maul zu stopfen. Seht Euch diesen Hund an! Auf einen Wink von mir reißt er Euch und Euren vier Männern die Gurgel auf. Hier in den Bergen wissen wir mit Leuten Eures Schlags umzugehn!«

»Mein Gott, wir sind verloren!« stammelte der Corregidor.

»Ja, das seid Ihr! Noch haben Eure Leute draußen keine Ahnung, was hier im Hause vorgeht. Es handelt sich um Euer Leben. Wollt Ihr gehorchen oder nicht?«

»Was soll ich tun?« fragte der Beamte kleinlaut.

»Befehlt Euren Leuten, die Waffen zu strecken und uns die Pferde zu übergeben!«

»Das – das geht nicht!« rief der Corregidor voller Angst.

»Es muß gehn! Meine Leute dort hören ein jedes Wort, das gesprochen wird. Ich zähle bis drei. Steht Ihr da noch nicht am Fenster, um den Befehl zu geben, so schießen sie Euch nieder. Wir sind dreißig Mann; es kann uns keiner entkommen. Also – eins – zwei – dr – –«

Der Fremde hatte das Wort »drei« noch nicht ausgesprochen, als der Corregidor ans Fenster sprang, es aufriß und hinaus rief:

»Legt die Gewehre ab!«

Die Schutzleute hörten die Worte und blickten erstaunt herüber.

»Um Gottes willen, legt die Waffen ab!« wiederholte er. »Legt sie in die Schlitten!«

»Warum?« fragte draußen einer.

»Weil wir hier gefangen sind«, erklärte er. »Das ganze Haus steckt voller Schmuggler, die Euch niederschießen werden, wenn Ihr nicht gehorcht.«

Die Leute schienen diese Versicherung nicht glauben zu wollen; da aber wurde die Haustür von innen aufgestoßen, und wohl zwanzig Schmuggler drangen, ihnen die geladnen Büchsen entgegenhaltend, hervor.

»Ergebt Euch! Ergebt Euch!« bat der geängstigte Corregidor.

»Gegen freien Abzug?« fragte einer vorsichtig.

»Ja.«

Die Schutzleute legten kleinlaut ihre Waffen ab, übergaben auch die Pferde und schlichen sich von dannen. Als sich jedoch auch der Corregidor entfernen wollte, hielt ihn der Schmuggler zurück.

»Halt, mein Bursche!« sagte er. »Ich habe noch mit Euch zu reden.«

»Was denn noch?«

»Das werdet Ihr bald hören.« Und sich an Sternau wendend, fragte er: »Wie es scheint, seid Ihr mit diesem Señor Corregidor nicht zufrieden?«

»Allerdings nicht«, antwortete der Arzt.

»Bloß weil er Euch jetzt fangen wollte? Oder habt Ihr noch etwas andres gegen ihn?«

»Etwas ganz andres. Er kam einst zu mir, um mich zu einer Dame abzuholen, brachte mich aber statt dessen nach Barcelona ins Gefängnis, wo ich mehrere Monate lang unschuldig eingeschlossen wurde.«

»Das soll er büßen! Zählt ihm fünfzig auf die Kehrseite!«

Der Corregidor wurde hinausgeschafft, und bald hörte man das laute Geschrei des Beamten, der wohl nicht gedacht hatte, daß er sich anstatt eines Gefangnen fünfzig Stockschläge holen würde.

Jetzt erst trat Mindrello wieder ein, der sich vorsichtigerweise versteckt gehalten hatte.

Sternau wollte sich den Schmugglern dankbar erweisen; sie lehnten jedoch allen Dank und jede Gabe entschieden ab. Sie hatten ja Waffen und Pferde gewonnen.


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