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13. Alfred de Lautreville

In Pons war heute Jahrmarkt, und darum herrschte auf den Straßen und Wegen, durch die dieser Ort mit der Umgegend verbunden war, bereits am frühen Morgen reges Leben. Der Spanier ist ernst, doch wenn sich ihm Gelegenheit bietet, das Leben von der heitern Seite zu nehmen, so gibt er sich dem Genuß um so nachdrücklicher hin.

Zwei Männer schritten von Osten her der Stadt entgegen. Sie hielten sich der Straße fern und benutzten nur Wege, auf denen sie keine häufigen Begegnungen zu erwarten hatten. Sie trugen lange Pyrenäenbüchsen auf der Schulter und Messer und Pistolen im Gürtel und hatten auch sonst nicht das Aussehn friedlich gesinnter Leute. Einem von ihnen hing an einer Schnur eine schwarze Tuchrolle von der Achsel hernieder. Hätte man diese aufgerollt, so hätte man sie als eine schwarze Vermummung erkannt, die vorn wie eine Maske mit ausgeschnittenen Augenlöchern gebaut war. Solche Kapuzen hatten die Briganten bei dem Überfall im Park von Rodriganda getragen, darum war es nicht schwer, diese Männer mit ihnen in Verbindung zu bringen.

Und wirklich, der eine war jener Räuber, der beim Angriff auf den Doktor in die Büsche entsprungen war, und der andre war derjenige, dem der Notar zur Flucht verholfen hatte. Als dieser sein Gespräch mit dem Notar so schnell abgebrochen hatte, war er weiter ins Feld gegangen, hatte Rodriganda, das Dorf, zur Seite liegenlassen und war in den nach Pons führenden Weg eingebogen. Hier war er auf seinen Kameraden gestoßen, der sich in der Nähe versteckt hatte, um abzuwarten, was man mit dem Gefangnen tun werde, und ihm vielleicht gar beizuspringen, falls sich die Möglichkeit dazu ergeben würde.

»Nun, Bartolo,« begann der eine, nachdem sie lange schweigend nebeneinander einhergeschritten waren, »was gedenkst du nun zu tun?«

»Ich kehre zum Capitano zurück.«

»Das fällt mir nicht ein!« meinte der andre. »Er wird ohne mich auch auskommen. Ich habe keine Lust, mich wegen des Mißlingens unsres Auftrags bestrafen zu lassen. Er entzieht uns wenigstens zehnmal unsern Beuteanteil.«

»Hm, wenn er es nicht gar noch anders macht!« brummte Bartolo. »Recht hast du, Juanito; aber wir müssen gehorchen. Wir haben ihm Treue geschworen.«

»Pah! Einem Räuberhauptmann braucht man keinen Schwur zu halten. Ich tue das, was die Kaufleute sagen: ich werde das Geschäft von jetzt an auf eigne Faust betreiben. Machst du mit?«

»Ich? Hm!«

»Überlege es dir, Bartolo! Der Capitano nimmt von allem, was wir bringen, den Löwenanteil; er behält alle Geheimnisse, alle Schliche und Kniffe für sich; wir plagen uns; wir wagen das Zuchthaus und den Galgen, er aber bleibt daheim und spielt den Gebieter. Du weißt, wieviel er für den Tod dieses Deutschen erhalten hat. Wieviel wird er wohl uns davon geben?«

»Einige lumpige Dukaten. Ja, das ist wahr.«

»Sind wir nicht die Kerle dazu, die Summe uns ganz allein zu verdienen? Können wir zum Beispiel uns nicht auch einen reichen Edelmann fangen, der uns ein so großes Lösegeld geben muß, daß wir die Herren spielen können?«

»Alle Teufel, du hast recht, Juanito! Aber dann müssen wir die Gegend verlassen. Wenn uns der Capitano erwischt, ists um uns geschehn.«

»Wir gehn über den Ebro. Vorher aber müssen wir uns Reisegeld holen. Da ist heut in Pons Jahrmarkt, und wir werden manchen sehn, dessen Tasche für uns besser paßt als für ihn. Gehst du mit?«

»Ja, es mag so beschlossen sein. Also Gewehre hast du!«

»Die Gewehre und Pistolen, die wir ablegen mußten, da wir den Deutschen nur mit den Messern angreifen durften. Zufälligerweise habe ich zwei Messer bei mir; du kannst eins davon bekommen.«

»Aber mit all den Büchsen und Pistolen sehn wir zu auffällig aus.«

»Narr! Was wir nicht brauchen, das wird versteckt bis zu einer gelegneren Zeit. Jetzt aber wollen wir uns zunächst selbst in Sicherheit bringen und einen Ort suchen, wo wir die Nacht ungestört verschlafen können.«

Sie schliefen während der Nacht im Wald, vergruben am Morgen alles Überflüssige und machten sich dann auf den Weg nach Pons.

Sie hatten nicht die Absicht, in die Stadt zu gehn, denn das war zu gefährlich für sie. Sie wollten sich vielmehr vor dem Ort in den Hinterhalt legen, um irgend jemand eine genügende Summe Geldes abzunehmen, mit der sie eine Zeitlang zu leben vermochten.

So lagen sie hinter einigen Sträuchern verborgen und sahen manchen Vorübergehn, ohne daß sie sich von der Stelle bewegt hätten, denn die Vorbeikommenden machten nicht den Eindruck, als ob sie größere Beträge bei sich führten.

Da vernahmen sie nahenden Hufschlag und das weiche Rollen von Wagenrädern; Bartolo lugte mit vorgestrecktem Hals durch die Büsche und zog sich augenblicklich mit einer Bewegung des Schrecks wieder zurück.

»Was hast du? Wer ist es?« fragte Juanito.

»Alle Wetter, bin ich erschrocken!« antwortete der Gefragte. »Das ist die Señorita aus Rodriganda, die bei dem Deutschen war, als wir ihn überfielen.«

»Wirklich? Alle Teufel, die müssen wir haben!«

Juanito lugte nun seinerseits auch durch die Büsche.

»Ja, sie war es!« meinte er. »Aber das ging ja so schnell vorbei, daß man gar nicht zum Schuß kommen konnte.«

»Zum Schuß, Juanito?« fragte Bartolo. »Du wolltest sie doch nicht etwa erschießen?«

»Narr! Die Pferde wollte ich erschießen. Dann mußten sie halten und waren in unsre Hand gegeben.«

»Das lasse ich mir eher gefallen! Bei der heiligen Madonna, es ist etwas verdammt Armseliges, ein so schönes, wehrloses Frauenzimmer zu erschießen! Wir wären mit diesen paar Leuten schnell fertig geworden. Der Kutscher sah nicht aus wie ein Held, und der andre, den hörte ich gestern Señor Schloßverwalter nennen. Er ist ein Kerl, den eine Mücke in die Flucht treibt. Die Señorita hat sicherlich mehr Geld bei sich als jeder andre, der hier vorüberkommt. Wollen wir hier auf ihre Rückkehr warten?«

»Ja«, nickte Juanito zustimmend. »Einen bessern Fang können wir ja gar nicht machen. Wir schießen die Pferde nieder, du das Hand- und ich das Sattelpferd. Das weitere wird der Augenblick ergeben.«

Während dieser Plan hier besprochen wurde, rollte der Wagen der Gräfin Rodriganda im Galopp der Stadt entgegen. Roseta wußte, daß die Freundin mit der Post eintreffen werde, und da deren Ankunftszeit noch nicht gekommen war, so gab sie dem Kutscher Befehl, nach der Locanda zu fahren, die sie als das anständigste Gasthaus des Städtchens kannte.

Dort angekommen, überließ sie dem Schloßverwalter und dem Kutscher die Sorge für ihre Pferde und begab sich in das Zimmer, in dem sie bei ihrer jedesmaligen Anwesenheit in Pons abzusteigen pflegte. Es war heute zwar bereits besetzt, aber der Wirt machte es der Gräfin möglich, es für die kurze Zeit des Wartens zu erhalten.

Als nach einer halben Stunde der mit sechs Maultieren bespannte Postwagen in das Städtchen rollte, stand Alimpo mit dem Kutscher in der Posthalterei bereit, den Gast zu empfangen und seiner Herrin zuzuführen.

Der große Kasten der Post-Arche entleerte sich nach und nach seines Inhalts, und ganz zuletzt entstieg ihm auch eine Dame in Schleier und Reisemantel. Der Schloßverwalter hatte alle Aussteigenden vergeblich gemustert, jetzt aber trat er mit seiner tiefsten Verbeugung zu der Dame heran und sagte:

»Guten Tag – willkommen! Nicht wahr, Ihr seid Miß Amy, Señorita Lady Dryden?«

Ein kurzes, helles Lachen drang durch den Schleier, grad, als ob ein Rotkehlchen einen abgerissenen Jubelton getrillert hätte, und dann erklang die Antwort auf die seltsame Frage des Verwalters:

»Ja, mein Freund, ich bin Amy Dryden. Und wer seid Ihr?«

»Oh, Doña Lady Señorita, ich bin Señor Juan Alimpo, der Verwalter auf Schloß Rodriganda. Das sagt meine Elvira auch.«

Wieder erklang ein kurzes, melodisches Lachen.

»Und wer ist diese Elvira?«

»Diese Elvira ist meine Frau, Miß Amy Señorita Dryden.«

»Ach so! Und wollt Ihr mir nun wohl sagen, ob Ihr allein hier seid, um mich abzuholen?«

»O nein, Lady Dryden Doña! Meine gnädige Condesa ist da. Sie ist in einer Locanda abgestiegen und erwartet Euch dort.«

»So führt mich hin, Señor Alimpo!«

Der Verwalter gab dem Kutscher einen Wink, sich des Gepäcks anzunehmen, und schritt in stolzer Haltung vor der Engländerin her, um ihr den Weg zu zeigen. Der gute Alimpo war sich bereits jetzt bewußt, daß diese »Miß Lady Amy Señorita Dryden« seine ganze Verehrung erlangen werde.

Roseta stand am Fenster ihres Zimmers und sah die Freundin kommen. Sie eilte ihr entgegen. Draußen vor der Zimmertür trafen sie sich. Die Fremde schlug den Schleier zurück, und nun blickte Alimpo in ein so zauberisch mildes, blondes Mädchenangesicht, daß er ganz vergaß, sich zu entfernen, um nicht Zeuge des Bewillkommnungskusses zu sein. Erst ein fragender Blick aus dem dunklen Auge seiner Herrin machte ihn auf seine Unhöflichkeit aufmerksam. Er drehte sich also schleunigst um und kehrte nach dem Hausflur zurück, wo er auf den Kutscher stieß, der soeben unter der Last des Gepäcks dahergekeucht kam.

»O heilige Madonna! War das ein Gesicht!« rief Alimpo ganz begeistert. »Und dieses Haar! Nein, so ein Haar! Wie Gold! Nein, noch viel goldner als Gold! Und dieser Kuß! Donnerwetter, ich wollte, den hätte ich bekommen an der Stelle der – hm! Ja! Was stehst du denn da und gaffst mich an? Schaffe den Koffer und die Schachteln nach dem Wagen und bekümmre dich nicht um Dinge, für die du gar keinen Geschmack haben kannst!«

Der gute Verwalter hatte erst jetzt bemerkt, daß der Rosselenker mit weit aufgerissenem Mund bereitstand, seine zarten Gefühlsgeheimnisse zu verschlingen. Er schleuderte ihm einen vernichtenden Blick zu und wandte sich, um in der Nähe des Zimmers seiner Herrin auf deren Befehle zu warten.

Die Begrüßung war vorüber und die nötigen ersten Fragen und Antworten ausgetauscht. Nun standen die jungen Damen am Fenster, in heiterm Geplauder das rege Leben musternd, das der Jahrmarktsmorgen vor ihren Augen entfaltete. Da erhob die Engländerin den Finger und sagte hinauszeigend:

»Sieh Roseta, wer ist das?«

»Ah, ein Offizier! Ein Husar!«

»Kennst du ihn?«

»Nein. Er ist kein Spanier; der Uniform nach muß er ein Franzose sein.«

Es war Mariano, der auf seinem Weg nach Rodriganda jetzt durch Pons kam. Wer ihn in der kleidsamen Husarentracht und in so stolzer, sicherer Haltung auf seinem feurigen Hengst sitzen sah, hätte nie vermutet, daß dieser junge Mann das Ziehkind einer Räuberbande sei. Ein als Diener verkleideter Brigant folgte ihm in vorgeschriebener Entfernung.

Er ritt auf die Locanda zu, um sich und dem Pferd hier eine Erholung zu gönnen; aber grad quer vor seiner Richtung stand ein ziemlich hoher Karren, auf dem Apfelsinen verkauft wurden. Anstatt auszubiegen, nahm Mariano seinen Hengst empor und flog so leicht über den Karren hinweg, als sei dieser nur ein geringfügiges Hindernis gewesen.

»Herrlich!« rief Roseta in die Hände klatschend.

»Welch ein Reiter!« meinte auch Amy, während ihre Augen bewundernd auf dem Jüngling ruhten.

Dieser musterte das Haus, in dem er einzukehren gedachte, und dabei schweifte sein Blick über das Fenster, an dem die beiden Mädchen standen. Sie sahen, wie er zusammenzuckte, als sei er auf das freudigste überrascht worden, sie sahen sogar, daß er ganz unwillkürlich den Zügel anzog, als ob er halten wollte, sich aber sofort zusammenraffte. Noch einen zweiten, schnellen Blick warf er hinauf, und dann sprang er vom Pferd.

»Hast du gesehn,« fragte Amy, deren Wangen sich gefärbt hatten, »daß er nach dir blickte?«

»Nach mir? O nein. Dieser Blick galt dir. Ich habe es genau bemerkt.«

»Das ist unmöglich!« lächelte die Engländerin, beinah ein wenig befangen. »Du bist so schön, auf dich muß jedes Auge fallen.«

»Weißt du, meine gute Amy, daß du noch viel schöner bist als ich? Du glaubst es nicht? Nun gut, so werde ich es dir beweisen.«

»Womit, Roseta? Du machst mich neugierig.«

»Durch einen Schiedsrichter.«

»Ach, das ist ja herrlich!« lachte die Engländerin. »Wer soll dieser Schiedsrichter sein? Doch nicht etwa dieser gute Señor Alimpo, der mich Miß Señorita Amy Doña Dryden nennt?«

»Nein, dieser nicht, meine Liebe. Unser Alimpo ist ein sehr treuer Diener, den ich deiner Freundlichkeit empfehle, aber für das schwierige Amt eines Schiedsrichters ist er nicht geschaffen; er hat ohne ›seine Elvira‹ kein Urteil. Aber wir haben jetzt jemand auf Schloß Rodriganda, der dir sagen wird, daß du schöner bist als ich: unser Arzt.«

»Ein Arzt? Ach, was versteht ein Arzt von Schönheit? Er hat seine Tinkturen, Mixturen und Salben. An ihnen übt er sein Urteil.«

Amy sagte das mit einem so schelmischen Rümpfen ihres Näschens, daß Roseta lachen mußte, dann aber schnell entgegnete:

»Oh, ein Arzt braucht nicht stets an seine Salben zu denken; Doktor Sternau ist –«

»Sternau?« wurde sie von der Freundin unterbrochen. »Sternau ist ja ein deutscher Name. Hast du mir nicht einmal erzählt, daß euer Arzt Cielli heißt?«

»Allerdings; aber dieser Cielli ist verabschiedet worden. Denke dir, meine liebe Amy, mein Vater wird wieder sehend werden!«

Die Engländerin blickte schnell empor und sah einen Strahl aus dem Auge der Freundin leuchten, der mehr als Freude, der Begeisterung bedeutete.

»Wäre es möglich?« fragte sie. »Oh, welch ein Glück! Erzähle, erzähle mir schnell, Roseta!«

»Ja, ich werde es dir erzählen, aber nicht hier, sondern während der Fahrt im Wagen. Wir dürfen den Vater nicht warten lassen, er freut sich so sehr, dich begrüßen zu können.«

Rosa gab Alimpo den Befehl, anzuspannen und nur wenige Minuten später verließen sie das Zimmer, um einzusteigen.

Draußen vor der Einfahrt standen die beiden Pferde der Husaren. Mariano war in die Gaststube getreten und hatte sich Wein geben lassen; aber er trank ihn nicht, er dachte gar nicht ans Trinken, denn er sah nur die beiden blauen Augen vor sich, die so voll offner Bewunderung auf ihn niedergeleuchtet hatten.

Jetzt hörte er Pferdegetrappel vor der Tür. Er erhob sich leicht und warf einen Blick durchs Fenster. Da sah er den Wagen, vor den der Kutscher soeben die Pferde spannte. Mit zwei raschen Schritten stand er unmittelbar am Fenster, um mit weitgeöffneten Augen den Wagenschlag anzustarren, an dem er die Gold in Weiß gemalte Grafenkrone und darunter die beiden Buchstaben R und S erblickte.

Er fuhr sich mit der Hand an die Schläfe, wo er den Puls laut hämmern fühlte. Da sah er ja das verkörperte Bild seiner Träume! Und diese Träume waren doch nicht Träume, sondern Wirklichkeit gewesen. Es wogte und wallte in ihm; aber er faßte sich schnell und winkte den Wirt herbei.

»Wem gehört dieser Wagen?« fragte er.

»Dem Grafen Manuel de Rodriganda«, lautete die Antwort.

»Rodriganda?« erklang es langsam und leise. »Und was bedeutet das S?«

»Der Graf heißt Manuel de Rodriganda y Sevilla. Die Dame, die soeben einsteigt, ist seine Tochter, Condesa Roseta.«

»Ah! Und die andre?«

»Eine Fremde. Der Verwalter, Señor Juan Alimpo, hat nur gesagt, sie sei eine Freundin der Condesa, eine Engländerin, die nach Rodriganda zu Besuch kommt.«

Der Wirt trat zurück; Mariano blieb stehn. Er wußte nicht, worauf er seinen Blick richten sollte, auf das jetzt noch unverschleierte Gesicht der Engländerin, oder auf das Wappen, dessen Züge ihm wie die Schriftzeichen eines Evangeliums entgegenglänzten. Jetzt hatten die Damen im Wagen Platz genommen; und eben war der Wirt hinausgeeilt, um sich zu empfehlen, da traf Amys Auge das Fenster, an dem der Husar stand. Eine tiefe Glut überflog sie. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte davon.

Mariano warf ein Geldstück auf den Tisch und eilte hinaus.

»Vorwärts!« sagte er, sich auf den Rappen schwingend.

»Schon?« fragte der Diener, sich über die Eile wundernd.

Er bekam keine Antwort und mußte sich sputen, um den Leutnant, der im Galopp die Gasse hinunterjagte, nicht aus den Augen zu verlieren.

Erst dann, als Mariano die Stadt weit hinter sich hatte und den Wagen in einiger Entfernung vor sich erblickte, zügelte er den Lauf seines Pferdes. Die Aufwallung seines Bluts legte sich, und er begann ruhiger nachzudenken. Konnte diese Begegnung nicht ein bedeutungsloser Zufall sein? Konnte es nicht mehrere Familien geben, die die Buchstaben R und S in ihrem Wappen trugen? Warum jagte er wie unsinnig hinter dem Wagen her? Rodriganda war doch sein Ziel, und er sah die beiden Damen jedenfalls wieder, auch wenn er sie jetzt aus den Augen verlor!

Er ritt also langsamer und sah den Wagen hinter einer Krümmung der Straße verschwinden. Im nächsten Augenblick aber horchte er erschrocken auf; es war ein Schuß gefallen und noch einer! Grad hinter jener Krümmung kräuselten sich zwei Rauchwölkchen empor. Hatte man auf den Wagen geschossen?

Mariano gab dem Pferd die Sporen und sauste vorwärts. Kaum eine Minute nach den beiden Schüssen hatte er die Krümmung erreicht und sah nun, was geschehn war.

Der Wagen der Gräfin hielt mitten auf der Straße, und vor ihm lagen die beiden Pferde, die durch die Köpfe geschossen waren. Hinter ihm kauerte der Kutscher, vor Angst an allen Gliedern zitternd, und von dem tapfern Verwalter Juan Alimpo war keine Spur zu sehn. Auf dem Tritt des Wagens aber stand ein mit einer Kapuze verhüllter Mann, der den beiden Damen eine Pistole entgegenstreckte. Neben ihm am Boden stand ein zweiter, der das Gewehr angelegt hielt und dessen Gesicht mit Kohle geschwärzt war.

Bei den lauten Hufschlägen eines Pferdes drehten sich die beiden Vermummten herum.

»Verdammt!« murmelte Bartolo, der Mariano sofort erkannte.

»Was geht der uns an!« rief Juanito. »Herunter vom Pferd mit ihm!«

Darauf legte er seine Büchse auf Mariano an und drückte los. Der junge Mann war aber vorsichtig gewesen. Als der Schuß krachte, warf er seinen Leib zur Seite, und die Kugel flog an ihm vorüber. Im nächsten Augenblick riß er den Säbel aus der Scheide.

»Fahre dahin, Schurke!«

Bei diesen Worten hieb er den Räuber mitten über den Kopf, daß er zusammensank. Der Hieb war so furchtbar, daß der Säbel zerbrach; daher zog Mariano die Pistole, sprang vom Pferd und hielt sie dem andern Räuber entgegen. Dieser, anstatt sich zu ergeben, erhob die eigne Waffe; da krachte Marianos Schuß, und Bartolo stürzte zu Boden. Die Kugel war ihm in die Stirn gedrungen.

»So, diese haben ihren Lohn«, meinte der Jüngling, indem er mit einer tiefen Verbeugung sich zu den Damen wandte. »Seid ihr verletzt, Señoritas?«

Er stand vor ihnen, die Pistole noch in der Hand. Amy schwieg, aber eine tiefe Röte zog über ihr Angesicht. Roseta hatte sich schneller gefaßt und erwiderte:

»Nein, wir sind glücklicherweise unversehrt, denn Ihr kamt grade zur rechten Zeit, um das Schlimmste zu verhüten. Nehmt unsern innigsten Dank, Señor! Ich bin die Condesa de Rodriganda, und diese Dame ist Amy Dryden, meine Freundin.«

Mariano verneigte sich höflich und antwortete:

»Ich nenne mich Alfred de Lautreville, Señoritas. Darf ich so glücklich sein, euch meine Dienste anzubieten?«

»Wir scheinen leider darauf angewiesen zu sein,« lächelte Roseta, »denn meine Diener sind ja spurlos verschwunden.«

»Oh,« lachte er, »der eine steckt da hinter dem Wagen. Komm doch einmal her, Bursche!«

Der Kutscher stand vom Boden auf, wo er sich zusammengekauert hatte, und kam in höchster Verlegenheit herbeigehinkt.

»Warum versteckst du dich, anstatt den Herrschaften beizustehn?« fragte Mariano.

»Ach, Señor, ich lag ja hinter dem Wagen«, lautete die Antwort.

»Ja, aber warum lagst du da? Ein so starker Kerl wie du muß es doch mit zehn solchen Strauchdieben aufnehmen!«

»Señor, das kann ich auch, aber ich dachte mir nur, sie würden mich ein wenig erschießen. Übrigens hat es Señor Juan, der Verwalter, ebenso gemacht. Er steckt da drüben hinter dem Busch.«

Der Kutscher deutete nach einem Strauchwerk, hinter dem sich allerdings eben jetzt der wackre Alimpo langsam erhob. Er hatte mit dem Gesicht auf der Erde gelegen, um vom ganzen Unglück gar nichts zu sehn. Als er jetzt vorsichtig herüberblickte und erkannte, daß die Gefahr vorüber sei, sprang er vollends auf, machte zwei Fäuste und kam herbei.

»Ach, Condesa,« rief er, »ich glaube gar, man will uns überfallen! Wo sind die Schufte? Ich werde sie zerquetschen und zermalmen!«

Mariano wollte antworten, doch blieb ihm das Wort beim Anblick Alimpos auf der Zunge stecken. Wo hatte er diesen Mann bereits gesehn? Dieser kleine Kerl, dieses furchtsame Gesichtchen, dieses eigentümliche Bärtchen!

Roseta entgegnete an seiner Stelle:

»Zum Zermalmen kommst du zu spät. Du hättest vorher nicht fliehn dürfen.«

»Fliehn? Bin ich geflohn, meine gnädige Condesa?« fragte er verlegen.

»Natürlich! Und versteckt hast du dich!«

»Versteckt? Ja, allerdings, das mußte ich doch. Ich ließ mich nicht erschießen, sondern entfloh und versteckte mich, um Euch dann später beistehn zu können.«

»So hast du ein wunderbares Verfahren, uns zu retten!« lächelte sie. »Übrigens kommt deine berühmte Hilfe nun leider zu spät. Da liegen die beiden Menschen. Wer sind sie?«

Der Diener Marianos war vom Pferd gestiegen und hatte sich darüber gemacht, die beiden Toten von ihrer Vermummung zu befreien. Das infolge des Säbelhiebs stark blutende Gesicht des einen Banditen war nicht zu erkennen; aber als er den Ruß aus dem Gesicht des zweiten weggewischt hatte, rief der Verwalter:

»Heilige Laureta, das ist ja unser Flüchtling! Erkennt Ihr ihn, Doña Roseta?«

»Wahrhaftig!« stimmte die Gräfin bei. »Oh, ihn hat die Strafe schnell ereilt!«

Es war gut, daß sie zu sehr mit dieser Entdeckung beschäftigt war, und so keine Zeit fand, die beiden Husaren zu beobachten. Diese hatten sich über den Toten gebeugt, und der Diener flüsterte: »Alle Teufel, das ist ja Bartolo.«

»Pst! Laß dir ja nichts merken!« warnte Mariano. Dann richtete er sich wieder empor und fragte die Gräfin: »Ihr kennt diesen Menschen, Doña?«

»Ja. Er gehörte zu einer Mörderbande, die einen Bewohner unsres Schlosses überfiel. Er wurde gefangengenommen. Vier wurden getötet, und nur einer entkam.«

Der Jüngling warf einen warnenden Blick auf seinen Diener und meinte nachlässig:

»So ist dieser hier vielleicht der Entkommene. Man muß die Sache sofort in Pons anzeigen, denn diese Stelle gehört noch zum Gebiet der Stadt.«

»Und wir? Was geschieht mit meinem Wagen und den armen Pferden?«

»Ihr dürft mit dieser unangenehmen Sache nicht länger belästigt werden. Ich bitte um die Erlaubnis, Euch nach Rodriganda führen zu dürfen.«

»O gern, Señor! Aber wir haben keine Pferde!«

»Nun so spannen wir das meine und das meines Dieners vor und verlassen diesen Ort, während mein Diener und Eure Leute hier zurückbleiben, um Anzeige zu erstatten und die Leichen zu bewachen, bis diese aufgehoben werden. Sie können ja dann in einem Mietwagen nachkommen.«

»Dieser Vorschlag wird der beste sein, Señor«, stimmte Roseta bei. »Schnell, ihr Leute, nehmt den toten Pferden das Geschirr ab! Mir graut es vor dieser Stätte.«

In kurzer Zeit waren die beiden Pferde vorgespannt, und der Leutnant schwang sich auf den Bock. Da trat der Schloßverwalter an den Wagenschlag und bat:

»Meine gnädigste Condesa, wollt Ihr mir eine große Gnade erweisen? Sagt meiner Elvira, daß ich nicht erschossen worden bin, sondern daß wir gesiegt haben!«

»Ja, das werde ich tun, Alimpo«, versprach sie ihm.

Fast wäre dem Leutnant der Zügel aus den Händen gefallen. Elvira, Alimpo, das waren die Namen, die ihm stets im Gedächtnis geblieben waren. Sollte er sich wirklich so ganz unerwartet auf der richtigen Fährte befinden?

»Und die Anzeige werde ich sogleich erstatten«, meinte der Verwalter. »Einen solchen Raubanfall muß man der Obrigkeit melden. Meine Elvira sagt das auch.«

Bei den letzten Worten fiel es Mariano wie Schuppen von den Augen. Ja, dieser Alimpo war der Mann, der ihn so oft auf den Händen getragen und auf den Knien geschaukelt hatte! Aber er konnte diesen Gedanken jetzt nicht auf sich einwirken lassen, denn die Gräfin gab das Zeichen zur Weiterfahrt.

Der Verwalter blickte dem dahinrollenden Wagen so lange nach, als er ihn zu sehn vermochte. Darauf wandte er sich an den Husaren:

»Nicht wahr, Ihr seid der Diener dieses Offiziers? Darf man erfahren, wie er heißt?«

»Er ist der Leutnant Alfred de Lautreville.«

»Also ein Franzose?«

»Ja! Unser Regiment steht in Paris.«

»Aber dennoch sprecht Ihr das Katalonische so gut, als ob Ihr hier geboren wäret. Was tut Ihr in Spanien?«

»Hm; das läßt sich nicht sagen«, antwortete der Diener in stolzem Ton. »Wir sind nämlich wegen einer diplomatischen Mission hier.«

»Ah!« rief Alimpo. »So ist Euer Leutnant also ein Diplomat! Donnerwetter, so jung und schon ein Diplomat! Und dabei ein Offizier, vor dem man alle Hochachtung haben muß. Seht nur, wie er diesem Menschen den Kopf zugerichtet hat!«

Zum Kutscher gewandt, fuhr er fort:

»Hast du dir diesen Señor Leutnant de Lautreville genau angesehn? Was hast du bemerkt?«

»Nichts!«

»Ach, du mußt doch etwas bemerkt haben! Wie lange dienst du unserm gnädigen Grafen?«

»Über dreißig Jahre.«

»So hast du ihn also auch in seinen jüngern Jahren gekannt. Denke einmal an jene Zeit zurück und vergleiche unsern Grafen mit diesem Leutnant de Lautreville! Merkst du etwas?«

»Nein!« antwortete der Kutscher kopfschüttelnd.

»Du bist ein Esel! Verstanden?«

»Ja«, antwortete der Kutscher gleichmütig und machte dabei ein so selbstzufriednes Gesicht, als ob ihm die größte Höflichkeit gesagt worden wäre.

Unterdessen rollte der Wagen gegen Rodriganda zu.

Roseta dachte über die Frage nach, wer die Räuber wohl zu dem Überfall gedungen haben möge. Amy hingegen hing mit ihrem Blick an dem jungen Mann, der vor ihr auf dem Bock saß. So verhielten sie sich wortlos, bis der Wagen durchs Dorf rollte und das Schloß erreichte. Vor dem hohen Eingangstor stand ein langer, dürrer Mann, der mit verwundertem Blick die Kommenden betrachtete.

»Wer ist dieser Mann?« fragte Amy.

»Es ist Señor Gasparino, unser Sachwalter«, erklärte Roseta.

Mariano kannte auch diesen Namen: Gasparino war ja der Mann genannt worden, auf dessen Befehl er umgewechselt worden war. Und hier oben, grad über der Pforte des Schlosses, erblickte er ein großes, in Stein gehauenes Wappen mit der Grafenkrone und den Buchstaben R und S. Der große, reiche Bau des Schlosses machte einen unerklärlichen Eindruck auf ihn. Es war ihm, als sei er hier an den Ort gelangt, wo alle seine Jugendträume ihre Wurzeln schlugen, und er sprang vom Bock mit der Empfindung herab, daß sein Leben hier eine neue Gestaltung finden müsse.

Das Auge des Notars ruhte mit finsterm Erstaunen auf der Gestalt des jungen Mannes. »Was ist das?« murmelte er. »Wer ist dieser Mensch? Welche Ähnlichkeit! Das ist ja genau Graf Manuel, wie er vor dreißig Jahren aussah! Ist das Zufall, oder ist es etwas andres?«

Er sah nur einen einzigen Augenblick lang den scharfen, forschenden Blick des Offiziers auf sich ruhn. Aber es war ihm doch, als sei dieser Blick der Ausdruck einer Frage, die eine Gefahr enthielt.

Die Damen waren ausgestiegen und kamen die große Freitreppe empor. Der Notar trat ihnen mit einem verbindlichen Lächeln entgegen, verneigte sich tief vor ihnen und sagte zur Gräfin:

»Ich bin ganz glücklich, Euch als der erste begrüßen zu können. Darf ich bitten, Condesa, mich den Herrschaften vorzustellen?«

»Gern«, antwortete Roseta.

Als sie zunächst den Namen Gasparino Cortejo nannte, fiel abermals ein eigentümlich forschender Blick aus dem Auge des Leutnants auf den Notar. Und als dieser den Namen Alfred de Lautreville hörte, glitt es wie ein Zug der Beruhigung über sein scharfes Vogelgesicht. Der Offizier war ein Franzose – die Ähnlichkeit konnte also nur ein Zufall sein.

Jetzt war die Ankunft des Wagens im Schloß bemerkt worden, und es kamen Graf Alfonso, Doktor Sternau und Señora Clarissa herbei, um die Gäste zu begrüßen. Man bemerkte die fremden Pferde vor dem Wagen, und Alfonso fragte nach der Ursache dieses auffälligen Umstands.

»Señor de Lautreville hat die Güte gehabt, uns seine Pferde zu leihen, da die unsrigen erschossen wurden«, erklärte Roseta.

»Erschossen?« fragte der Advokat erstaunt. »Wieso? Von wem?«

»Von demselben Mann, der uns heute nacht entflohn ist.«

Sie erzählte den Vorgang, der bei den Zuhörern die größte Teilnahme erweckte. Dem jungen Offizier dankte man lebhaft für seine Tapferkeit, und auch Cortejo reichte ihm die Hand. Er war sehr erfreut über den Tod der beiden Briganten, denn nun hatte er keine Zeugen seiner Schuld mehr zu befürchten, und bemerkte:

»Dieser unverschämte Überfall wird sehr streng und unverzüglich untersucht werden, denn es ist die Untersuchungskommission hier angekommen, an ihrer Spitze der öffentliche Ankläger aus Barcelona, der sich jetzt beim Grafen befindet. Die Herren haben nur noch die Condesa zu vernehmen, dann sind sie mit der Untersuchung des gestrigen Raubanfalls fertig und können sogleich nach Pons fahren.«

Man begab sich nun zum Grafen, bei dem man den Oberrichter fand. Graf Manuel bewillkommnete die Freundin seiner Tochter mit Herzlichkeit und bedankte sich bei dem Leutnant mit großer Wärme für die Rettung der beiden Damen.

»Oh, bitte,« wehrte Mariano ab, »es handelt sich hier keineswegs um eine so außerordentliche Heldentat. Wenn ich ja etwas gerettet habe, so ist es nur die Börse, nicht aber das Leben der Damen.«

»Nein,« fiel Roseta ein, »es ist in Wirklichkeit unser Leben, das wir Euch zu verdanken haben. Seht unser Haus als das Eure an, Señor! Wir werden Euch auf keinen Fall so bald von Rodriganda fort lassen.«

Mariano machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete:

»Ich tat meine Pflicht, als ich Euch nach Rodriganda geleitete, darf aber nicht wagen, Eure Güte zu mißbrauchen.«

»Dies ist kein Mißbrauch«, fiel der Graf schnell ein. »Ihr werdet uns nur zu erhöhter Dankbarkeit verpflichten, wenn Ihr unsre Einladung annehmt. Ich erwarte ganz bestimmt, daß Ihr Euch bei uns von Eurer Reise ausruht. Roseta wird Euch sofort Eure Zimmer anweisen lassen.«

Es war nicht bloß die Höflichkeit, die den Grafen diese Worte sprechen ließ. Er war blind und konnte den Offizier nicht sehn, aber er hörte seine Stimme, und in dieser Stimme lag ein unerklärliches Etwas, das den Blinden fesselte.

Der Notar stand dabei und verglich die Züge der beiden Männer. Er mußte sich innerlich sagen, daß die Ähnlichkeit ganz ungewöhnlich sei, und so beschloß er im stillen, auf seiner Hut zu sein.

Als sich nach einiger Zeit die Herrschaften trennten, wurde der Leutnant von einem Diener nach den für ihn bestimmten Gemächern geleitet. Er erhielt drei Räume, ein Vor-, ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Im Wohnzimmer legte er seinen Degen ab und trat in den Schlafraum, um sich zu waschen. Dort stand die Verwalterin, die nachgesehn hatte, ob sich alles in Ordnung befinde, und nun von ihm überrumpelt wurde.

Beim Schall seiner Schritte drehte sie sich nach der Tür. Sie wußte, daß der Gast ein französischer Offizier sei, und wollte ihn als solchen mit einem recht höflichen Knicksbegrüßen. Da fiel ihr Auge auf sein Gesicht und – sie vergaß den Knicks. Mit großen, weitgeöffneten Augen starrte sie ihn an und rief:

»Herr, mein Gott, steh mir bei! Graf Manuel!«

Dieser Ausruf machte einen solchen Eindruck aus Mariano, daß er einen Schritt zurücktrat. Die Frau, die hier vor ihm stand, kannte er. In ihrem Schoß hatte er gelegen und oft in ihr gutes, fettglänzendes Gesicht geblickt.

»Elvira! Nicht wahr, Ihr seid die Verwalterin Elvira?«

»Ja«, bestätigte sie, tief aufatmend. »Ihr kennt mich, Señor?«

»Ja. Ich hörte Euren Mann von Euch sprechen. Aber sagt, warum nanntet Ihr mich soeben Graf Manuel?«

»Señor, das ist wunderbar! Ihr seht grad und leibhaftig so wie der alte Graf Manuel aus, als er zwanzig Jahr zählte.«

»Wirklich? Das ist ein Naturspiel, das zuweilen vorkommt.«

»Aber so genau, wie aus den Augen geschnitten. Wenn das mein Alimpo sähe!«

»Er hat mich bereits gesehn.«

»Richtig, Ihr sagtet ja, daß er von mir gesprochen habe.«

»Hat Condesa Roseta seinen Gruß ausgerichtet?«

»Seinen Gruß? Nein. Hat er mich grüßen lassen?«

»Ja.«

Da zog sich ihr Gesicht ganz entzückt noch mehr in die Breite, und sie sagte mit strahlenden Augen:

»Ja, so ist er. Er läßt mich grüßen! Oh, wie schön von ihm! Aber was läßt er mir denn sagen?«

»Daß er nicht erschossen worden sei.«

»Mein Gott, ja, ich hörte vom Diener, daß er mit angefallen worden ist. Wie gut für unsre gnädige Condesa, daß sie sich unter seinem Schutz befunden hat.«

»Allerdings,« lächelte Mariano, »er läßt Euch sagen, daß er sehr tapfer gesiegt hat.«

»Das glaube ich, ja, das glaube ich! Mein Alimpo ist tapfer, er ist sogar zuweilen verwegen und tollkühn, ich muß ihn mehr im Zaum halten! Euch aber, Señor, will ich nach der Bildergalerie führen, wo das Bildnis des Grafen hängt Ihr werdet sehn, daß Ihr diesem Bild genau gleicht, wie ein Ei dem andern. Vorher jedoch ruht Euch aus! Ihr habt mit Räubern gekämpft und werdet gar erschrecklich müde sein.«

Sie wollte sich entfernen, er aber hielt sie zurück und sagte:

»Bleibt, Señora, oder habt Ihr keine Zeit, mir einige Fragen zu beantworten?«

»Für Euch habe ich immer Zeit, Señor«, erwiderte sie. »Euch und Señor Sternau könnte ich keine Bitte abschlagen.«

»Ihr meint den deutschen Arzt? Was ist das für ein Mann?«

»Oh, ein Mann, ein Mann – ja, beinah so brav und tüchtig wie mein Alimpo. Er ist aus Paris gekommen und wird unsern Grafen sehend machen. Die berühmtesten Ärzte haben vor ihm weichen müssen. Gestern wurde er von Räubern angefallen.«

»Das hörte ich vorhin. Kennt man keinen Grund, weshalb er getötet werden sollte? Hat er vielleicht einen Feind?«

»Der? Einen Feind? Nein, sicher nicht! Den müssen ja alle Menschen liebhaben.«

Der Angriff auf den Arzt gab Mariano viel zu denken. Es war außer allem Zweifel, daß der Capitano die Hand dabei im Spiel hatte; dann aber mußte es jemand geben, der den Tod des Arztes wollte und den Capitano dafür bezahlt hatte. Dieses Schloß Rodriganda steckte voll finstrer Geheimnisse, die aufgeklärt werden mußten.

»Ich werde, wie es scheint, einige Zeit hier verweilen,« fuhr Mariano fort, »und darum wird es zu entschuldigen sein, wenn ich mich über die Bewohner des Schlosses zu unterrichten wünsche. Darf ich mich bei Euch erkundigen?«

»Tut es immerhin, Señor! Ich werde Euch gern Auskunft erteilen.«

»Schön! Da ist zunächst dieser Señor Gasparino Cortejo. Was ist das für ein Mann?«

»Wenn ich aufrichtig sein soll, Señor Leutnant, so kann kein Mensch diesen Cortejo leiden. Er steht seit langer Zeit als Sachwalter im Dienst des Grafen und ist in geschäftlichen Dingen seine rechte Hand. Er ist stolz und finster, und man hält ihn für einen Mann, der das Vertrauen des Grafen zu seinem eignen Vorteil benutzt. Das sagt mein Alimpo auch.«

»Sodann die Doña Clarissa?« fragte Mariano.

»Sie ist als Dueña sprich: Duennja – Ehrenwächterin der Condesa hier, verkehrt aber viel mit Gasparino. Sie tut sehr fromm, doch liebt man sie nicht.«

»Und der junge Graf?«

»Dieser ist erst seit einigen Monaten anwesend. Er war in Mexiko.«

»Wie lange?«

»Er war noch ein Knabe, als er hier abgeholt wurde.«

»Ah, das ist sonderbar! Ein Graf gibt seinen Stammhalter als Kind über die See hinüber in ein Land, wo die unsichersten Zustände herrschen und das Leben eines Menschen nichts gilt.«

»Oh, Señor, es gab Umstände, die den Grafen veranlaßten, es zu tun. Der Bruder des gnädigen Grafen, der Don Fernando hieß, war als jüngerer Sohn von der Nachfolge ausgeschlossen; er nahm sein Erbteil und ging nach Mexiko, wo er sich ankaufte und nach und nach ein steinreicher Mann wurde. Er war unverheiratet geblieben und wollte den zweiten Sohn unsres Grafen, der damals zwei Söhne hatte, zum Erben einsetzen. Dabei aber stellte er die Bedingung, daß dieser Sohn ihm zur Erziehung übergeben werde. Don Manuel ging darauf ein, weil es sich um ein ganz außerordentliches Vermögen handelte.«

»Der Knabe wurde also nach Mexiko gebracht? Wann?«

»Daran erinnre ich mich noch ganz genau, denn es war grade der Geburtstag meines guten Alimpo, als der Knabe abgeholt wurde, nämlich im Jahr 1830, am ersten Oktober.«

Marianos Augen wurden immer größer, und sein Puls schlug schneller, aber er beherrschte sich und fragte:

»Der Knabe hieß also Alfonso?«

»Ja.«

»Er wurde abgeholt? Von wem?«

»Von einem Pächter Don Fernandos, der zu diesem Zweck herübergekommen war.«

»Wie hieß er?«

»Pedro Arbellez. Ich habe mir diesen Namen genau gemerkt, weil er so spaßhaft klingt.«

»War noch jemand bei dem Kind?«

»Nur die Frau, die seine Amme gewesen war: Marie Hermoyes.«

»Wo schiffte sich Pedro Arbellez ein?«

»In Barcelona. Der Graf und die Gräfin begleiteten das Kind bis dahin, und ich war auch dabei.«

»Begleiteten sie den Knaben bis ans Schiff?«

»Nein. Es konnte wegen eines Sturms nicht auslaufen; darum blieb der Mexikaner noch zwei Nächte in einem Gasthof.«

»Wie hieß dieser Gasthof?«

»Zum großen Mann.«

Das stimmte ja ganz genau mit der Erzählung des toten Bettlers. Mariano hatte alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen, doch fragte er so gleichgültig als möglich:

»Stand Señor Cortejo damals bereits im Dienst des Grafen?«

»Ja.«

»Ist er verheiratet, und hat er Kinder?«

»Nein.«

»Hm, wißt Ihr nicht, ob er sehr nahe Verwandte hat, die Kinder besitzen?«

»Er hat nur in Mexiko einen Bruder, der eine unverheiratete Tochter hat!«

»Lebt Don Fernando in Mexiko noch?«

»Nein. Er starb im vorigen Jahr.«

»Und Alfonso hat ihn beerbt?«

»Ja, Señor. Er ist ungeheuer reich geworden.«

»Ihr sagtet, daß Don Manuel zwei Söhne gehabt habe?«

»So ist es. Aber der Älteste starb bald darauf, als Alfonso nach Mexiko gegangen war. Er war in Madrid, um Offizier zu werden, und bekam das Fieber, dem er erlag. Darum ist nun Alfonso der einzige Sohn und wird die Grafenkrone erben.«

»Mir scheint, dieser Alfonso sehe dem Señor Gasparino und der Doña Clarissa recht ähnlich.«

»Ach, Señor, habt Ihr dies auch bemerkt?«

»Die Ähnlichkeit ist beinah auffallend.«

»Ja, das sagt mein Alimpo auch.«

»Ist Don Alfonso beliebt?«

»Nein. Er war ein so lieber Knabe, und ich Hab ihn sehr viel auf diesen meinen Händen getragen; aber in Mexiko scheint er ganz anders geworden zu sein. Er verkehrt mehr mit Cortejo und Clarissa als mit seinem Vater und seiner Schwester.«

»Hm! Und nun diese Doña Amy Dryden?«

»Die ist eine Engländerin, die von unsrer Condesa geliebt wird. Ihr Vater soll sehr reich sein. Weiter weiß ich nichts.«

»So bin ich also mit meinen Fragen zu Ende. Ich danke Euch, Señora.«

»Erlaubt, daß ich Euch auch eine Frage vorlege, Señor. Seid Ihr vielleicht mit den Rodrigandas verwandt?«

»Nein. Mein Name ist Lautreville.«

»Oder sind die Lautrevilles mit den Cordobillas verwandt? Die gnädige Gräfin, unsrer Condesa Mutter, war nämlich eine Cordobilla.«

»Nein, wir sind nicht mit ihnen verwandt.«

»Dann ist Eure Ähnlichkeit ganz unbegreiflich!« meinte die Verwalterin. »Und nun sagt mir noch, ob mein Alimpo bald wiederkommen wird.«

»Ganz sicher noch heute.«

»Ich danke Euch, Señor! Ich werde jetzt gehn. Wenn Ihr mich oder die Bedienung braucht, so dürft Ihr nur klingeln.«

Sie entfernte sich. Mariano schritt in tiefer Erregung in seinem Zimmer auf und ab. Was er erfahren hatte, war genug, jeden Tropfen seines Bluts in Wallung zu versetzen. Wenn seine Ahnung sich erfüllte, so war er der echte Erbe von Rodriganda, der Sohn des Grafen Manuel, der Bruder der Gräfin Roseta. Und dieser Alfonso war ein unterschobenes Kind, dessen Herkunft man nur beim Advokaten erfahren konnte. Vielleicht wußte auch der Capitano etwas davon.

Aber welchen Grund hatte dieser, ihn nach Rodriganda zu senden? Das konnte Marians nicht begreifen. Wenn er wirklich der Sohn des Grafen war, so war es doch gefährlich, ihn in dessen Nähe zu bringen, da irgendein zufälliger Umstand das Geheimnis entdecken konnte. –

Während Mariano sich mit diesen Gedanken beschäftigte, saßen zwei zusammen, die sich von derselben Sache unterhielten, nämlich Gasparino Cortejo und Clarissa.

»Ja, es ist mir ein Stein vom Herzen,« gestand der erstere, »seit ich weiß, daß die Räuber tot sind. Dieser Leutnant konnte mir keinen größern Gefallen tun, als sie erschlagen.«

»Desto bedenklicher ist aber seine Ähnlichkeit«, meinte Clarissa.

»Sie ist gradezu auffällig! Ich erschrak gewaltig, als ich ihn erblickte.«

»Ich ebenso! Wer ihn und Alfonso neben dem Grafen sieht, hält ganz sicher ihn für dessen Sohn.«

»Es ist mir ein Rätsel. Als Naturspiel ist die Ähnlichkeit denn doch zu bedeutend.«

»Hat vielleicht der Capitano – «

»Wo denkst du hin, Clarissa! Ein Räuber ist niemals so unvorsichtig. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken. Der Knabe, den wir den Briganten überließen, ist auch umgetauscht worden. Nun denkt der Capitano, er hat den unsrigen noch, während es doch nicht der Fall ist.«

»Und der zweimal Umgetauschte wäre dann dieser Leutnant? Wie käme dieses Kind nach Frankreich zu den Lautrevilles?«

»Wer weiß das! In der Welt geschieht gar vieles, was man für unmöglich hält.«

»Man muß schlau sein und diesen Leutnant ausforschen. Ein junger unerfahrner Mensch ist leicht auszuholen. Du wirst sein Vertrauen sehr bald gewinnen und dann alles erfahren können. Weiß der Capitano, wessen Sohn damals umgewechselt wurde?«

»Nein.«

»Nun, dann ist es ja wohl möglich, daß der Leutnant doch der richtige Rodriganda ist. Es kann ja Gründe geben, die den Räuber veranlaßten, diesen Menschen unter der Maske eines Leutnants nach Rodriganda zu schicken.«

»Das ist falsch. Der Leutnant ist nicht bei den Räubern aufgewachsen; das sieht man doch gleich beim ersten Blick. Dieses Äußere, diesen Schliff und diese Gewandtheit eignet man sich nicht unter Briganten an. Er scheint eine nicht gewöhnliche Bildung zu besitzen, wie aus den Worten hervorging, die ich ihn sprechen hörte. Nein, er ist kein Brigant.«

»Bei klarerem Nachdenken scheint es mir allerdings ebenso. Wäre er das Kind, das wir dem Capitano überließen, so würde er heut seine Kameraden nicht getötet haben!«

»Das ist der Umstand, der auch mich beruhigt. Aber dennoch war es eine Schwachheit von uns, darauf einzugehn, daß der Knabe nicht getötet werden sollte. Wer tot ist, der ist stumm und kann nicht mehr schaden.«

»Eine noch größere Schwäche war es von dir, Gasparino, dem Capitano jenen Zettel zu unterschreiben. Man hält es für unglaublich, daß ein Jurist eine solche Dummheit begehn kann.«

»Ich befand mich ja in seiner Hand, meine teure Clarissa.«

»Das will mir nicht einleuchten! Ein Räuber tritt nicht vor den Richter, um jemand anzuklagen.«

»Nein, aber ein Räuber geht zum Grafen und bringt ihm seinen richtigen Sohn zurück. Die Urkunde wird mir keinen Schaden tun. Der Hauptmann bezweckt damit jedenfalls nur eine Gelderpressung.«

»Wie könnte er dem Grafen das Kind zurückbringen, da er ja gar nicht weiß, ob es dessen Sohn ist!«

»Er weiß es allerdings nicht; das heißt, ich habe es ihm verschwiegen. Aber ein Bandit ist scharfsinnig. Er kann nachgeforscht haben. Und der Umstand, daß er sich weigerte, den Knaben zu töten, läßt mich vermuten, daß er von dessen Abstammung eine Ahnung hat. Übrigens ist die Sache jetzt einfach: wenn er sich einbildet, mir gefährlich zu werden, so schieße ich ihn nieder.«


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