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16. Die Zigeuner

Am Spätnachmittag kehrte der Notar Gasparino Cortejo von Barcelona zurück. Es begann bereits zu dunkeln, und er war kaum noch eine Stunde weit von Rodriganda entfernt, als er plötzlich sein Pferd anhielt. Auf einem freien Waldplatz, über den die Straße führte, erblickte er eine Anzahl Hütten und Zelte, die um ein großes Feuer standen, über dem ein eiserner Kessel brodelte. Es herrschte ein reges Leben auf der Lichtung, da die Zelte und Hütten ein Zigeunerlager bildeten.

»Sollte das Mutter Zarba sein?« fragte er sich, als er ein altes Weib erblickte, das hart neben dem Feuer hockte. »Das wäre ja ein glückliches Zusammentreffen!«

Mittlerweile war er auch bemerkt worden, und im nächsten Augenblick wurde er von schreienden und lärmenden Männern, Burschen, Weibern und Kindern umringt.

»Soll ich Euch weissagen, Señor?« fragte ein Mädchen.

»Nein, ich kann es besser!« rief ein altes Weib.

»Herr, eine kleine Gabe!« brüllten fünf oder sechs Kinder, indem sie sich an Cortejos Pferd hingen.

Dieser lächelte nur auf den wüsten Lärm herab und nickte einem alten Burschen freundlich zu:

»Ist das nicht der wackre Garbo, der mich doch kennen sollte?« fragte er.

Der Angeredete trat näher und blickte dem Sprecher unter den breitrandigen Hut.

»Ah, Señor Cortejo!« rief er. »Willkommen! Ich erkannte Euch nicht sogleich; habt Ihr nicht ein Pfeifchen Tabak für einen armen Burschen?«

»Das und noch viel mehr, wenn du es dir verdienen willst!«

»Warum nicht? Ihr habt mir doch schon manch schönen Duro verschafft. Gibt es vielleicht etwas zu tun, Señor?

»Möglich. Ist Mutter Zarba hier?«

»Ja. Sie sitzt dort am Feuer.«

»So will ich einmal absteigen. Haltet mein Pferd!«

Gasparino Cortejo stieg ab und begab sich ans Feuer. Im Kessel kochten ein paar Hühner, ein Kaninchen, ein Kürbis und einige Heringe.

»Guten Abend!« grüßte er die Alte.

Diese rührte mit einem Stock in dem Kessel, blickte sich gar nicht nach ihm um und fragte:

»Wer ists?«

»Ein alter Freund.«

»Wie heißt er?«

»Das wirst du sehn, wenn du dir ihn einmal anschaust. Oder ist die einstige Rose der Gitanos so stolz geworden, daß sie ihre alten Bewunderer nicht mehr anblicken will?«

Jetzt drehte sich die Alte langsam um. Es ist schwer, die Jahre einer alten Zigeunerin zu erraten. So konnte man auch das Alter dieses Weibes nicht bestimmen; aber das sah man noch heute: schön, sehr schön mußte sie in ihrer Jugend gewesen sein.

»Ah, Cortejo!« grüßte sie vertraut, indem sie sich mit dem Stock stützte, der ihr jetzt als Rührlöffel gedient hatte, und sich vom Boden erhob. Ihr Gewand bestand nur aus Fetzen, aber ihre Haltung war stolz und gebieterisch.

»Ihr lebt also noch, Señor?« fragte sie, den Advokaten mit ihren blitzenden Augen messend. »Ich dachte, Ihr wärt längst schon zum Teufel!«

»Ah,« lachte er, »ich sehe, daß du noch immer die Alte bist. Seit wann weilst du hier?«

»Hier? Seit Mittag erst.«

»Ach, deshalb sah ich euch heut früh noch nicht. Aber sag, Zarba, sind wir noch die alten Freunde?«

»Ja«, antwortete sie mit einem lauernden Blick.

»Oder haben wir uns etwa beleidigt?«

»Ich weiß nichts davon. Es müßte denn deswegen sein, daß Ihr uns das letztemal so schlecht bezahltet!«

»Du bist bei guter Laune, Alte«, lachte er. »Gasparino zahlt stets gut.«

»Ich weiß es«, nickte sie; »aber er verlangt auch rüstige und verschwiegene Arbeit.«

»Ja, wie zum Beispiel heute«, stimmte er bei. »Wie sind jetzt eure Preise?«

»Hm, noch die alten«, erwiderte sie.

»Ein Toter?«

»Fünfhundert Duros.«

»Ein Verschwundener?«

»Zweihundert Duros.«

»Eine Kasse, die ihr holt, ohne sie zu öffnen?«

»Zweihundert.«

»Ein Junge oder ein Mädchen, euch zur Aufbewahrung übergeben?«

»Einhundert.«

»Ein Grab öffnen?«

»Fünfzig.«

»Das sind allerdings die alten Preise. Seit wir uns nicht sahen, habe ich mit einem andern arbeiten müssen.«

»Ich weiß es«, nickte sie. »Mit dem Capitano. Seid Ihr zufrieden?«

»Nein. Ich wollte, ich hätte euch vor kurzer Zeit gehabt! Also, ein Toter kostet immer noch fünfhundert Duros?«

»Ja, ein Gewöhnlicher nämlich.«

»Und ein Ungewöhnlicher?«

»Da richte ich mich ganz nach dem Stand und Reichtum.«

»Ein Graf zum Beispiel?«

»Alle Wetter! Ihr wollt doch nicht –«

Zarba sprach nicht weiter, deutete jedoch mit der Hand hinter sich nach Rodriganda zu.

»Hm! Möglich!« antwortete er.

»Tot oder verschwinden?«

»Das ist noch unentschieden. Wie würde der Preis sein?«

»Das ist auch noch unentschieden«, lachte sie. »Wir kommen aus der Gegend –«

»Von Rodriganda her? Wie steht es dort? Gab es nichts Neues?«

»O doch, der Graf hat einen Anfall gehabt.«

»Was für einen?«

»Das konnte ich nicht erfahren, doch hieß es, daß ihn ein Doktor Sternau herstellen wird.«

»Das soll ihm schwerfallen.«

»Aha, ich ahne. Ihr scheint mit diesem Anfall sehr vertraut zu sein!«

»Pah! Merke dir einmal diesen Namen Sternau! Du wirst den Mann vielleicht bald kennenlernen. Hast du heut abend Zeit? Kannst du einmal nach dem Park kommen?«

»Gern. Nach welchem Ort?«

»An die große Korkeiche.«

»Die ich von früher kenne? Gut, ich komme!«

»Ich verlasse mich darauf. Adios

Diese Unterredung hatte unter vier Augen stattgefunden, denn die Zigeuner achteten ihre Anführerin so, daß sie diese bei dergleichen Verhandlungen niemals zu belästigen wagten. Jetzt aber, als der Advokat wieder zu seinem Pferd zurückkehrte, drängte sich die ganze umherstreunende Gesellschaft an ihn heran. Er teilte seinen Tabak und seine Zigaretten aus, warf einige kleine Münzen unter die Kinder und ritt davon.

Das Zusammentreffen mit den Gitanos war ihm sehr erwünscht. Er hatte mit diesen Leuten, besonders aber mit ihrer Anführerin, bereits früher in Verbindung gestanden und hoffte, aus ihrer jetzigen Gegenwart Nutzen zu ziehn.

Als er Rodriganda erreichte, herrschte dort wieder eine tiefe Stille. Cortejo übergab sein Pferd einem Diener und ging darauf nach seinem Zimmer, verließ es aber bald, um Clarissa aufzusuchen, von der er alles erfuhr, was geschehn war.

»Bei allen Teufeln!« fluchte er. »Dieser Sternau sitzt in jedem Sattel fest. Also den Ausdruck Pohon Upas erwähnte er? Dann wird er den Grafen sicherlich herstellen können.«

»So gibt es also ein Gegenmittel?«

»Ja.«

»Es verlautet auch im Schloß, daß der Graf, wenn ihm die Besinnung zurückkehrt, denjenigen kennen werde, dem er das Gift verdankt. Willst du nicht aufrichtig mit mir sein?«

»Pah!« antwortete er. »Ihr Weiber dürft nicht alles wissen. Aber, hm, ja, der Graf darf seine Besinnung eben nicht wiedererlangen!«

»Wie wolltest du dies anfangen?«

»Beim richtigen Ende!« entgegnete er kurz und verließ seine Gefährtin, um, in seinem Zimmer angelangt, ruhelos auf und ab zu schreiten, bis er zu einem Anschlag kam, den durchzuführen er fest entschlossen war.

Einige Zeit vor Mitternacht kehrte der Reitknecht von Barcelona zurück, der dem Arzt die Nachricht brachte, daß das Schiff den Hafen heute verlassen habe. Nur wenige Minuten später schlich sich der Advokat hinaus in den Park. Er war um eine Erfahrung reicher geworden und benutzte diese, indem er sich bemühte, keine Spuren zurückzulassen. Er traf Zarba an der Eiche seiner wartend.

»Habt Ihr Euch nach dem Befinden des Grafen erkundigt?« fragte diese.

»Ja. Er muß sterben.«

»Wie habe ich das zu verstehn? Muß er infolge seiner Krankheit sterben?«

»Nein. Durch euch.«

»Ah! Das wird sehr viel kosten.«

»Wieviel verlangst du?«

Die Zigeunerin tat, als ob sie sich besinne, und erwiderte dann: »Wieviel bietet Ihr?«

»Ich biete nichts. Du hast zu fordern.«

»Die Bezahlung hängt von der Schwierigkeit der Arbeit ab.«

»Das weiß ich«, meinte der Advokat. »Ich habe mir alles reiflich überlegt. Don Manuel muß zerschmettert werden.«

»Zerschmettert? Beim Himmel, das ist ein sonderbares Verlangen. Warum denn grade das?«

»Weil er wahnsinnig ist.«

»Ah, ich verstehe! Er wird als Wahnsinniger bewacht; es gelingt ihm aber, seine Wächter zu täuschen; er entkommt und stürzt von irgendeinem Felsen. Ist es so richtig?«

»Genau so denke ich es mir«, bejahte der Notar.

»Wie aber kommen wir zu ihm, wenn er bewacht wird?«

»Eigentliche Wächter hat er nicht. Nur der Arzt oder seine Tochter sind bei ihm. Sie befinden sich meist im Nebenzimmer. An die andre Seite des Krankenzimmers stößt die Bücherei, zu der ich den Nachschlüssel besitze. Ich lasse euch ein, und das weitere ist dann Sache deiner Leute.«

»Garbo wird sie anführen.«

»Er ist allerdings befähigt zu solchen Streichen. Also was kostet die Sache, wenn sie gelingt?«

»Dreitausend Duros.«

»Wie? Du bist dreitausendmal verrückt!«

»Señor, Ihr kennt mich. Ich bin teuer, aber ich arbeite gut und sorgfältig. Ferner müßt Ihr bedenken, welchen Wert der Tod des Grafen für Euch hat, Don Gasparino!«

»Hm! Und wie soll diese Summe bezahlt werden?«

»Ich hole sie mir von Euch erst nach gelungner Tat. Seht Ihr nun, daß ich ehrlich bin?«

»Ja, ja, du arbeitest allerdings anders als der Capitano, der sich die Hälfte vorauszahlen läßt und dann den Auftrag nicht ausführt.«

»Er sollte sich schämen. Aber sagtet Ihr nicht, daß ich mir den Namen Sternau merken solle? Ist es der Arzt?«

»Ja! Auch er muß fort! Allerdings nicht sogleich, denn zwei Todesfälle würden zu auffallend sein.«

»Und wie soll er sterben?«

»Das werden wir später noch besprechen.«

»Also handelt es sich jetzt nur um Don Manuel. Wann soll dies geschehn, Señor Cortejo?«

»Morgen.«

»Wo treffen wir uns?«

»Grade hier wieder zur jetzigen Zeit, um Mitternacht. Bist du vielleicht selbst mit dabei?«

»Nein«, antwortete sie. »Solche Aufgaben sind nur für Männer. Ist Euch Garbo nicht sicher genug?«

»O ja.«

»So schlaft wohl, Señor!«

»Gute Nacht!«

Sie schieden. Der Advokat schlich sich nach dem Schloß zurück, das er auch unbemerkt erreichte. Die Zigeunerin aber suchte ihr Lager auf, jedoch nicht allein. Kaum hatte sich nämlich der Notar entfernt, so erhob sich hinter dem Stamm der Eiche eine dunkle Gestalt.

»Hast du alles gehört, Garbo?« fragte die Zigeunermutter.

»Ja, alles.«

»Also der Graf! Möchtest du ihn töten?«

»Nein, Zarba, Er hat uns zu viel Gutes erwiesen. Wir sind ihm Dank schuldig.«

»Aber dreitausend Duros!«

»Ich habe darüber nachgedacht –« flüsterte der Zigeuner geheimnisvoll. »Als ich heute drüben in Loriba war, hörte ich, daß morgen der Bäcker begraben wird.«

»Ah! Ich verstehe bereits«, meinte die schlaue Alte.

»Den Bäcker graben wir aus –«

»Ziehn ihm die Kleidung des Grafen an –«

»Und stürzen ihn vom Felsen.«

»So wirds gehn, Garbo. Was aber tun wir mit dem Grafen?«

»Den verbergen wir. Er kann uns später eine große Summe Geld einbringen.«

»Verbergen, ja; aber wo?«

»Bei meinem Freund Gabrillon auf dem Leuchtturm.«

»Wirklich, das geht. Da hinauf kommt kein Mensch, da wird ihn niemals jemand suchen.«

»Also du stimmst bei, Zarba?«

»Vollständig! Dieser Advokat Cortejo wird uns noch manche Summe zahlen müssen! Jetzt komm!« – ? ?

Als am nächsten Morgen der Leutnant de Lautreville noch nicht wieder zurückgekehrt war, hegte man in Rodriganda die feste Überzeugung, daß ihm ein Leid geschehn sei. Sternau hielt es für das beste, über seine Vermutungen noch zu schweigen, als beschlossen wurde, nach Paris zu schreiben. Er hatte jetzt seine ganze Sorgfalt auf Don Manuel zu verwenden.

Dieser befand sich in einer tiefen Schwäche. Er genoß die ihm dargereichten Lebensmittel und flüsterte den Namen Alimpo vor sich hin; das waren die einzigen Lebenszeichen, die er gab.

Graf Alfonso ließ sich im Krankenzimmer nicht sehn, Cortejo und Clarissa auch nicht. Diese drei saßen immer zusammen und hielten Beratung. Alfonso wollte sich an die Gerichte wenden, um seine Ansprüche geltend zu machen, doch Cortejo veranlaßte ihn zu dem Versprechen, wenigstens noch einen Tag zu warten, eh er diesen Entschluß zur Ausführung brachte.

So verging der Tag, und der Abend brach herein. –

Ungefähr drei Viertelstunden im Nordosten von Rodriganda liegt das Dorf Loriba. Dort war der Bäckermeister gestorben und heute begraben worden. Der Totengräber, der im Dorf, nicht aber in der Nähe des vor dem Ort liegenden Kirchhofs wohnte, hatte es nicht für nötig gehalten, das Grab sofort fertigzumachen, sondern es nur so weit zugeworfen, daß es der Erde gleich war.

Es mochte um die elfte Stunde sein. Es schien kein Mond vom Himmel, aber die Sterne verbreiteten einen genügenden Schimmer, daß man zwei oder drei Schritte sehn konnte, da kam eine kleine Truppe phantastisch gekleideter Leute leise über die Felder gestiegen und schritt auf den Kirchhof zu. Es waren fünf erwachsene Zigeuner und drei Knaben. Diese Knaben wurden als Wächter aufgestellt, die andern fünf aber schwangen sich über die Mauer.

»Hast du richtig aufgepaßt, Lorro? Weißt du das Grab?« fragte der eine von ihnen.

»Ich weiß es«, antwortete der Gefragte. »Kommt!«

Dabei schritt er mit Sicherheit zwischen den alten Gräbern hindurch, denn er war heute während des Begräbnisses Zuschauer gewesen und führte sie zur richtigen Stelle. Dort begannen sie sogleich ihre Arbeit. Die dazugehörigen Hacken und Schaufeln hatten sie sich mit Leichtigkeit im Dorf zusammengesucht.

Da die Erde sich noch nicht gesenkt hatte, sondern locker war, ging ihre Arbeit nicht nur schnell, sondern auch ziemlich unhörbar vonstatten, so daß sie bereits nach fünfzehn Minuten auf den Sarg stießen. Nach kurzer Zeit schon gelang es ihnen, diesen im jetzt offnen Grab so aufzurichten, daß das Kopfende oben am Rand lehnte; dann erbrachen sie ihn.

Lorro öffnete eine bisher versteckt gehaltene Blendlaterne und leuchtete der Leiche ins starre Angesicht.

»Komm heraus, Alter!« sagte er. »Du sollst mit uns spazierengehn!«

Der in seiner Grabesruhe gestörte Bäcker wurde darauf herausgenommen und neben das Grab gelegt. Den Sarg aber brachte man wieder in seine vorige Lage, und nun wurde das Grab zugefüllt und genau so hergerichtet, wie sie es gefunden hatten. Mit Hilfe der Blendlaterne gelang es den Zigeunern leicht, alle Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen.

Hierauf nahmen zwei Männer die Leiche auf die Schulter und verschwanden mit ihr im Dunkel der Nacht; die Knaben kehrten nach ihrem Lager zurück, die übrigen drei Männer aber sputeten sich, noch zur rechten Zeit nach Rodriganda zu kommen.

Dort traf im Park grad um die Mitternachtsstunde der Advokat bei der Eiche ein und fand die Gitanos versammelt.

»Garbo?« fragte er.

»Hier bin ich«, antwortete der Gerufene.

»Sind alle da, oder müssen wir noch warten?«

»Wir sind vollzählig.«

»So kommt!«

Cortejo schritt nun den Zigeunern voran und führte sie über Stellen, wo ihre Füße keine auffälligen Eindrücke hinterlassen konnten. Dann geleitete er sie durch dieselbe Tür, durch die er mit den Seeleuten eingedrungen war, ins Schloß. Hier brannte keine Lampe mehr, und es wurde also die Blendlaterne hervorgezogen. Es ging darauf mehrere Stiegen empor und wieder hinab durch eine Reihe von unbewohnten Zimmern hindurch bis in einen Raum, in dem viele Bücherschränke standen. Das war die Schloßbücherei.

»Wartet!« sagte jetzt der Advokat und trat zu einer Tür, die er geräuschlos ein Spältchen breit aufzog, so daß er in das nebenanliegende Gemach blicken konnte. Dann winkte er Garbo herbei und sagte flüsternd:

»Schau hinein! Getraust du dich?«

Der Gitano trat an den Türspalt, warf einen Blick in das Nebenzimmer und erwiderte leise:

»Ja, sofort.«

»Aber ohne bemerkt zu werden und die Mädchen zu wecken!«

»Jawohl! Ihr könnt Euch auf uns verlassen.«

»So holt ihn heraus!«

Im Nebenzimmer lag der kranke Graf. Er hatte ganz das Aussehn einer Leiche und regte sich nicht. Auf einem Diwan saßen Roseta und Amy, beide in festen Schlaf versunken. Das Leid des heutigen Tags hatte beide so ermattet, daß sie nicht erwachten, als der Zigeuner hinüberhuschte und zunächst die Lampe des Krankenzimmers verlöschte.

Sofort folgten ihm die andern. Der Advokat blieb zurück und lauschte. Er hörte nicht das allergeringste Geräusch, nicht einmal das leise Rauschen einer Falte des Bettes. In der nächsten Minute schon kehrten die Zigeuner zurück, eine regungslose Last in den Händen.

»Schließt wieder zu, Señor!« bat Garbo, »und leuchtet dann!«

Man verfolgte nun denselben Weg, den man gekommen war, und gelangte bis zur Eiche zurück. Der Advokat, der weder einen Atemzug noch irgendeine Bewegung des Grafen bemerkt hatte, fragte jetzt:

»Ist er bereits tot?«

»Ich glaube«, erwiderte Garbo. »Um ihn ruhig zu erhalten, mußte ich ihn ein wenig fest anfassen. Ich denke, das ist eins. Nicht, Señor?«

»Ja«, erwiderte der Advokat, indem er sich eines leisen Schauders doch nicht erwehren konnte. »Also ihr wißt, wohin ihr ihn zu schaffen habt?«

»Versteht sich. Darf ich jetzt um die Belohnung bitten, Señor?«

»Ja, ich bin mit euch zufrieden! Hier ist das Geld. Wenn ich mit euch zu sprechen habe, werde ich Zarba aufsuchen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Señor!«

Die Zigeuner entfernten sich darauf mit ihrer Last und fanden am Ende des Parks einen kleinen Handwagen, den sie hier versteckt hatten. Der Graf wurde daraufgelegt und vorsichtig weitergeschafft, bis die Zigeuner die Nähe ihres Lagers erreichten.

Dort stießen sie auf eine Gruppe stiller Gestalten, deren eine sich bei ihrer Annäherung erhob. Es war die alte Zigeunermutter.

»Ist es gelungen?« fragte sie.

»Vollständig«, bejahte Garbo. »Der Graf ist ohnmächtig.«

»Hier sind Kleider für ihn. Zieht sie ihm an! Dann kommt er auf deinen Wagen, Garbo, und du bringst ihn sofort aus dem Land hinaus. Aber ich binde dir sein Leben auf die Seele. Und hier liegt die Leiche. Wir haben sie bereits ausgezogen. Legt ihr die Wäsche und alles an, was Don Manuel jetzt trägt, und dann fort mit ihr!«

Unterdessen war auch der Advokat ins Schloß zurückgekehrt, aber sehr langsam und vorsichtig. Er war gewitzigt worden und hatte in der Nähe der Eiche einen Federbesen versteckt gehabt, den er jetzt benützte, die Spuren seiner Schritte zu verwischen. So erreichte er sein Zimmer, ohne von jemand bemerkt zu werden, legte sich aber nicht zum Schlaf nieder, da er in jedem Augenblick den Hilferuf der beiden Damen erwarten konnte.

Aber es blieb alles still, und als der Morgen tagte, hatte er sogar nun Zeit, im Park nachzusehn, ob ihm die Vertilgung seiner Spuren auch wirklich gelungen sei. –

Doktor Sternau hatte daraus bestanden, die Nacht beim Kranken zuzubringen, aber Roseta hatte ihm seinen Wunsch nicht erfüllt, sondern mit der Freundin die Nachtwache übernommen. Beide waren aber übermüdet gewesen und so fest eingeschlafen, daß sie erst erwachten, als die Sonne bereits aufstieg.

Auch Sternau war erwacht. Die Sorge um den Kranken hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er erhob sich von seinem Lager, kleidete sich an und begab sich zu Graf Manuel. Das Vorzimmer war von innen nicht verschlossen. Er trat ein. Doch in demselben Augenblick hörte er aus dem Krankenzimmer einen angstvollen Doppelschrei.

Er eilte hinzu und fand die beiden Mädchen vor dem leeren Krankenbett stehend.

»Ah! Wo ist der Graf?« fragte er.

»Ja, mein Gott, wo ist der Vater?« rief Roseta.

»Ihr habt geschlafen?«

»Leider«, gestand sie, tief errötend.

»Wir beide zu gleicher Zeit«, fügte Amy hinzu.

Sternau unterließ es, ein rügendes Wort auszusprechen, er bemerkte nur einfach:

»Er kann nicht weit fort sein. Er war zu schwach zum Gehn!«

»War er nicht in einem der vordern Zimmer?« fragte Roseta.

»Nein.«

»So ist er in der Bücherei!«

Sternau öffnete die Tür zu dieser, fand aber den Vermißten nicht, auch als er in und unter den Möbeln suchte.

»Ich begreife nicht, daß er das Bett und das Zimmer verlassen haben soll«, sagte er kopfschüttelnd. »Er war so schwach und litt an keinerlei körperlicher oder geistiger Aufregung. Auch die Fenster sind alle von innen verschlossen, also ist ein Sturz oder Sprung durch diese hinab gar nicht möglich. Man muß sofort im ganzen Schloß nachsuchen.«

Sämtliche Bewohner des Schlosses wurden zusammengerufen und ausgefragt. Keiner hatte den Grafen gesehn und keiner eine Spur von ihm bemerkt. Es wurde selbst der kleinste und entfernteste Winkel des Schlosses durchsucht und durchforscht, aber ohne allen Erfolg. Während der dadurch hervorgebrachten Aufregung blieben nur drei ruhig und kaltblütig – der Advokat, Señorita Clarissa und Alfonso. Sie sagten sich, daß man bald genug kommen werde, um ihre Hilfe zu beanspruchen.

Diese Voraussetzung stimmte, denn es dauerte nicht lange, so trat Roseta in der allerhöchsten Aufregung ins Arbeitszimmer ihres Bruders, bei dem sich gerade Cortejo befand, und rief:

»Aber, Alfonso, der Vater ist verschwunden, und du sitzt so ruhig hier?«

Der Angeredete zuckte einfach die Achsel. »Ich muß mich leider bescheiden, man hat mir ja das Recht, mitzudenken, mitzureden und mitzuhandeln, gewalttätig abgesprochen.«

»Das ist in der Weise, wie du es zu meinen scheinst, ja keinem Menschen eingefallen.«

»Streiten wir uns nicht abermals! Ihr habt getan, was euch beliebte, und müßt nun auch die Folgen tragen. Wenn meinem Vater ein Unglück zugestoßen sein sollte, so habt nur ihr es zu verantworten, ich kann meine Hände in Unschuld waschen.«

»Aber der Vater muß sich doch irgendwo befinden!«

»Ist er denn nicht im Schloß? So ist er also außerhalb des Schlosses zu suchen. Señor Cortejo, Ihr seid der Sachwalter meines armen Vaters, nehmt Euch doch seiner und auch meiner an und veranlaßt die nötigen Schritte, daß er gefunden wird!«

Der Advokat erhob sich jetzt mit Würde und fragte die Gräfin: »Wie war Don Manuel bekleidet, Doña Roseta?«

»O mein Gott, fast gar nicht. Er lag ja krank und war so schwach, daß an ein Erheben vom Lager gar nicht gedacht werden konnte.«

»Das mag die Ansicht Señor Sternaus sein, ich aber weiß, daß ein geistig Gestörter selbst bei schwächstem Körper zu fast riesenhaften Anstrengungen fähig ist. Ich werde Don Manuel in der ganzen Umgegend suchen lassen und empfehle, demjenigen, der ihn findet, eine Belohnung auszusetzen. Wir feuern damit die Tatkraft aller derer an, die imstande sind, uns zu nützen.«

»Ja, tut das!« rief Roseta, dann eilte sie wieder fort.

»Nun, hatte ich nicht recht?« fragte Cortejo seinen Sohn. »Jetzt trete ich als Sachwalter des Grafen auf, und ich will den sehn, der mich nicht als solchen beachtet.« –

Sternau hatte sich bald von den andern getrennt. Ihm schien es unmöglich, daß der durch den Aderlaß sehr geschwächte Graf auch nur das Bett und Zimmer, viel weniger aber das Schloß verlassen haben solle. Für wahrscheinlicher hielt er eine gewaltsame Entführung. Darum ging er hinaus und umkreiste das Schloß, um nach Spuren zu suchen. Er fand jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt und mußte schließlich unverrichteter Dinge zurückkehren, um Roseta zu überwachen, die sich in einer außerordentlichen, fieberhaften Aufregung befand.

Mittlerweile hatte der Advokat die Nachforschung in die Hand genommen. Laufende und reitende Boten durcheilten die ganze Umgegend, um die Bewohner zu Hilfe zu rufen und demjenigen, der den Aufenthaltsort des Vermißten nachweisen könne, eine Belohnung von fünfhundert Duros zu versprechen. Doch schien auch diese Maßregel ohne Erfolg zu sein.

So verging der Tag, und der Abend brach herein. Auch die Nacht verging, ohne daß sich eine Spur gefunden hatte, obgleich Hunderte von Menschen sich auf den Beinen befanden, um womöglich die Belohnung zu verdienen. Am Morgen saß man im Speisesaal beim gemeinsamen Frühstück, aber keiner rührte die Speisen an. Das Unglück schien die Feindseligkeiten der Parteien ausgeglichen zu haben, denn es hatten sich alle eingefunden, die in letzter Zeit sich schroff begegnet waren. Da trat ein Diener ein und meldete einen Zigeuner, der den Herrschaften etwas zeigen wolle. Er wurde sofort eingelassen, da die Vermutung nahelag, daß er in der Angelegenheit komme, mit der sie sich alle so außerordentlich beschäftigten.

Er trat ein. Es war Garbo. Er trug Sandalen, die mit Riemen um die nackten Füße und Waden befestigt waren, eine kurze, zerrissene Hose, eine ebensolche Jacke, und drehte den hohen, spitzen Hut sehr eifrig zwischen den Fingern, als wolle er mit dieser Beschäftigung gegen die Verlegenheit ankämpfen, die er in einer so vornehmen Gesellschaft empfinden mußte.

»Wer bist du?« fragte ihn der Advokat.

»O nichts als nur ein armer Gitano, Señor«, antwortete er. »Ich wollte Euch etwas mitteilen. Erlaubt, daß ich es Euch erzähle!«

»So rede!«

Der Zigeuner spielte seine Rolle vortrefflich. Sein Gesicht war so ehrlich und bieder, als ob niemals ein falscher Zug darauf Platz gehabt habe. Er räusperte sich und begann:

»Ich bin ein schlichter Gitano und verdiene mir mein Brot mit der Heilung aller Krankheiten der Menschen und Tiere. Daher gehe ich viel in die Berge, um Kräuter zu suchen. Dies tat ich auch heute morgen. So kam ich an eine steile Felsenwand, und da hing an einem Dorn ein Stückchen feiner Leinwand, wie ich noch gar keine gesehn habe. Es war eine Krone drauf, und darunter stand ein R und ein S –«

»Mein Gott, unser Wappen!« rief Roseta. »Mann, hast du das Leinwandstück mitgenommen?«

»Ja, ich hörte, daß ein reicher Don gesucht wird, und nahm den Fetzen vom Zweig hinweg. Dann stieg ich in die schauerliche Tiefe hinab, und da – und da fand ich – fand ich –«

Der Zigeuner schüttelte sich, als ob er noch jetzt ein Grausen fühle, so daß er die Worte nicht aussprechen könne, aber Roseta war aufgesprungen, auf ihn zugetreten und befahl ihm:

»Sprich weiter, Mann! Was fandest du?«

»Halt!« sagte da Sternau, indem er näher trat. »Ich bitte die Damen sich zu entfernen, ehe dieser Mann weiter erzählt!«

»Nein, ich bleibe, ich muß hören, was er spricht«, entgegnete die Gräfin und stand so entschlossen da, und ihre Stimme klang so entschieden, daß Sternau jeden weitern Einwand unterließ.

»Soll ich weitererzählen?« fragte der Gitano.

»Ja, ich befehle es sogar!« antwortete sie.

»Ganz unten in der Tiefe lag – eine Leiche.«

»Eine Leiche!« rief sie, die Hände in Verzweiflung aneinander schlagend. »O mein Vater, mein lieber, teurer Vater!«

Da legte ihr Sternau die Hand auf den Arm:

»Doña Roseta, faßt Euch! Noch ist nicht jede Hoffnung verloren. Die Leiche kann die eines Fremden sein, oder der scheinbare Tote hat noch Leben in sich.«

»Nein, lebendig ist er nicht mehr, denn er ist ganz zerschmettert«, sagte der Gitano.

»Hast du den Leinwandfetzen mit?« forschte Graf Alfonso.

»Ja. Hier ist er.«

Der Zigeuner zog aus der Tasche ein dreieckig gerissenes Stück feinster Leinwand hervor und gab es dem jungen Grafen. Dieser warf einen Blick drauf und entschied sogleich:

»Unser Wappen! Ja, das ist es!«

»Zeig her!«

Mit diesen beiden Worten sprang Roseta auf ihn zu, zog die Leinwand aus seiner Hand und betrachtete das Wappen.

»Tot! Wirklich tot! O mein Gott!« hauchte sie, indem sie, um nicht zusammenzubrechen, sich auf den Tisch stützen mußte.

»Könnt Ihr das genau sagen?« fragte Sternau in tiefster Bewegung.

»Ja«, klang es matt zwischen ihren erbleichten Lippen hervor. »Es ist ein Stück des Oberhemds, das ich selber ihm zuletzt noch anlegte, als der Aderlaß vorüber war. Ich erkenne es an der Nummer.« Und sich an den Zigeuner wendend, fuhr sie fort: »Sag schnell, wo er liegt!«

»Er liegt tief unten in dem Abgrund, den man die Bateria nennt.«

Das spanische Wort Bateria bedeutet einen Mauer- oder Felsenbruch, also eine wilde, gefährliche Stelle. Als die Anwesenden dies Wort hörten, wußten sie, daß von einem noch Lebendigsein gar keine Rede sein könne, denn die Bateria war eine wohl hundert Meter tiefe Schlucht, ein fürchterlicher Abgrund, dessen Wände fast lotrecht hinabfielen. Wer in diesen Schlund stürzte, der war sicher zerschmettert und zermalmt.

»Ich weiß genug«, jammerte Roseta. »O mein Gott ich bin seine Mörderin. Ich habe geschlafen, während er starb. Nie werde ich dies vergessen und überwinden können! Mein Vater! Mein Vater!«

Sie verließ, den Leinwandfetzen in der Hand, den Saal, und Amy Dryden folgte ihr, um ihr in ihrer Herzensnot beizustehn.

»Kann man ohne Lebensgefahr zu der Leiche kommen?« fragte der Advokat den Zigeuner.

»Ja, wenn man die Felsen kennt.«

»Du kennst sie? Willst du uns führen?«

»Ich werde es tun. Aber, Señor, ich bin ein armer Zigeuner.«

»Schon gut, du wirst fünfhundert Duros erhalten, wenn es wirklich die Leiche dessen ist, den wir suchen. Don Alfonso, Ihr werdet mitgehn müssen, um festzustellen, ob es sich um Euren Vater handelt.«

Der Angeredete nickte schweigend. An Sternau erging keine Aufforderung, sich anzuschließen. Er hatte dies auch nicht anders erwartet, obwohl es sich von selbst verstand, daß er nicht zurückbleiben werde. Die Kunde, daß die Leiche des Grafen gefunden worden sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durchs Schloß. Ein jeder wollte mitgehn, sie aufzusuchen, und als sich endlich der Sachwalter nebst Alfonso auf den Weg begaben, schlossen sich zahlreiche Begleiter an aus Schloß und Dorf.

Sternau hatte erst noch bei Roseta angeklopft. Es war ihm, als könne das, was er jetzt erfahren hatte, nicht wahr sein, er wollte so gern ein Wort des Trostes sagen, wurde aber gebeten, später wiederzukommen, wenn der erste, niederschmetternde Eindruck der Trauerbotschaft überwunden sei. So machte also auch er sich zu dem schweren Gang fertig, aber er schloß sich nicht dem Advokaten und dessen Begleitern an, sondern er zog es vor, den Weg unter der alleinigen Begleitung des braven Alimpo zurückzulegen.

Die Bateria lag ungefähr eine halbe Stunde weit in der Richtung nach Manresa von Rodriganda entfernt. Auf ihrem dunklen Grund floß ein dunkler Bach, dessen kaltes Wasser aber nur wenig Pflanzenwuchs zu befeuchten hatte, da die Sonne niemals bis zum Boden der engen Schlucht dringen konnte. Es kam da selten ein Mensch hinab, die Schlucht war schwer zugänglich, aber Alimpo erklärte dem Arzt, daß er in jungen Jahren öfters unten gewesen sei und einen Zugang kenne, von dem der Zigeuner wohl nichts wissen werde.

Der Advokat hatte einen Boten nach Manresa zu Doktor Cielli geschickt und auch den Alkalden Dorfrichter. von Rodriganda mitgenommen, so daß also die Besichtigung der Leiche einen obrigkeitlichen Anstrich bekam. Auch mit einer Tragbahre hatte man sich versehn, um den Verunglückten gleich aufheben und mitnehmen zu können.

Alimpo war kein großer Läufer, und so kam Sternau mit ihm später an der Bateria an als der Advokat mit seinem Gefolge. Da aber der Zugang, den der Verwalter kannte, bequemer war als der beschwerliche Abstieg, auf dem der Gitano seine Begleiter zur Tiefe führte, so erreichte Sternau zu gleicher Zeit mit der andern Partei den Grund der Schlucht.

Hier bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Hart am Ufer des Wassers lag die Leiche des Herabgestürzten. Sie war während des Sturzes auf den Felsenkanten und emporragenden Spitzen aufgeschlagen und dadurch so zerrissen worden, daß sie keine menschliche Form mehr besaß, sondern eine wirre, breiartige Masse bildete, deren Anblick schaudern machte. Der Kopf war so zerschmettert, daß man die Gesichtszüge nicht erkennen konnte.

Alimpo schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und brach in Tränen aus.

»Oh, die liebe, gute Erlaucht! Welch ein fürchterlicher Tod! Diesen Anblick werde ich niemals vergessen können.«

Auch die andern brachen in laute Klagen aus. Der Advokat stand wortlos dabei, während Graf Alfonso sich den Überresten seines Vaters näherte und versuchte, davor niederzuknien. Er fuhr aber schaudernd zurück.

Sternau warf einen ernsten Blick auf ihn, trat zu dem formlosen Klumpen und bückte sich, um ihn in Augenschein zu nehmen und zu untersuchen.

»Halt«, sagte da der Advokat mit einer abwehrenden Handbewegung. »Ich verbitte mir jede Berührung des Toten, bevor Señor Cielli aus Manresa herbeigekommen ist!«

Sternau trat zurück und antwortete im Ton tiefster Verachtung:

»Ich will nicht prüfen, ob Ihr das Recht habt, hier einen solchen Befehl auszusprechen, aber Doktor Cielli ist Gerichtsarzt, und so mag er der erste sein, der diese Leiche berührt.«

»Ich habe als Sachwalter des seligen Grafen nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, darauf zu sehn, daß hier alles nach Form des Gesetzes vorgenommen wird«, erwiderte der Notar. »Ich habe erklärt, daß der Graf wahnsinnig ist, ich habe darauf gedrungen, ihn streng bewachen zu lassen, Ihr habt mir widerstanden und ihn entspringen lassen. Ihr seid allein schuld an seinem schrecklichen Tod und dürft nicht erwarten, daß man auch fernerhin ruhig zusieht, wie Ihr Unglück anrichtet an einem Ort, wo Ihr nicht hingehört.«

Sternau zuckte nur verächtlich die Achseln, einer wörtlichen Entgegnung hielt er den Notar nicht wert.

Es dauerte eine geraume Weile, bis der Manresaer Arzt kam. Während dieser Zeit hatten die Anwesenden Gelegenheit, über das Verhalten Sternaus sich zu verwundern. Er durchschritt nämlich die ganze Sohle des Tals und untersuchte jeden Fußbreit. Er betrachtete jeden Stein, jede Felskante. Er stieg sogar unter Lebensgefahr an den steilen Felsen empor und untersuchte diejenige Stelle des Schluchtrandes, von der der Tote mutmaßlich herabgestürzt war.

Der Advokat beobachtete dieses mit höhnischen Blicken, es war ersichtlich, daß er sich darüber ärgerte, aber er konnte nichts dagegen tun.

Endlich kam Cielli. Er hatte, um rascher sein zu können ein Pferd genommen, ließ es oben und stieg in den Abgrund, hinab.

»Willkommen, Señor!« rief ihm Cortejo entgegen. »Ich habe mit Schmerzen auf Euch gewartet.«

»Konnte nicht schneller, Don Gasparino«, lautete die Antwort.

»Ihr habt bereits gehört, um was es sich handelt?«

»Ja, Euer Bote erzählte es. Der arme Graf! So ein Ende! Ah, wer ist denn das, der da oben herumklettert, als ob er Hals und Beine brechen wollte?«

Cielli deutete nach oben, wo Sternau noch zwischen den Felsen und Steinen suchte.

»Es ist Euer berühmter Herr Kollege«, höhnte der Advokat. »Er scheint an der Wand dort oben Eiderdaunen zu suchen oder indische Vogelnester auszunehmen.«

Jetzt bemerkte Sternau, daß Cielli angekommen war. Er stieg sofort mit einer Schnelligkeit hernieder, daß den Zuschauern schwindlig wurde.

»Der Kerl klettert wie eine Katze«, meinte Cortejo.

»Schon mehr wie ein Affe, der er ja auch ist«, fügte Cielli bei. »Er will nichts versäumen.«

»Ich hoffe nicht, daß Ihr ihm eine Bemerkung erlaubt, Señor Doktor!«

»Fällt mir nicht ein«, entgegnete Cielli. »Ich bin Gerichtsarzt und kenne meine Obliegenheiten. Wollen wir beginnen?«

»Ja.«

Diese Unterredung war mit halblauter Stimme geführt worden, so daß niemand etwas davon hören konnte. Desto deutlicher aber sprachen die Blicke, mit denen Sternau, der jetzt herbeikam, empfangen wurde.

Der Alkalde erhielt einen Wink und trat mit dem Advokaten und Cielli zur Leiche.

»Ihr habt zunächst zu erklären, ob noch Leben in diesem Körper ist, Señor«, sagte Gasparino Cortejo zum Arzt.

Dieser warf einen Blick auf die zermalmten Überreste und meinte:

»Leben? Unmöglich! Der Zerschmetterte ist tot!«

»Nehmt dies zu Protokoll, Alkalde!« gebot Cortejo. »Hierauf gilt es, zu bestimmen, wodurch der Tod herbeigeführt worden ist.«

»Durch einen Sturz in den Abgrund«, antwortete der Arzt.

»Nehmt es zu Bericht, Alkalde! Die Hauptsache ist jedoch, den Verunglückten anzuerkennen. Er hat das Nachthemd des Grafen Manuel de Rodriganda an, er ist barfuß gewesen, wie dieser im Bett gelegen hat. Der Graf ist in einem Anfall von Wahnsinn entsprungen – es ist kein Zweifel, dieser Tote ist der Graf. Stimmt Ihr bei, Doktor?«

»Ja.«

Cortejo wandte sich jetzt an den Schloßverwalter:

»Señor Alimpo, wißt Ihr, welches Gewand der Graf während der letzten Nacht getragen hat?«

»Ja; ich sah es, als meine Elvira es holte«, lautete die Antwort.

»Ist es dieses?«

Cortejo deutete auf die blutigen Leinwandfetzen, die in dem blutigen Durcheinander zu erkennen waren. Alimpo trat näher und bückte sich über den Toten.

»Ja,« sagte er, »es ist das Nachtgewand des Grafen.«

Da deutete Cortejo nach einer bestimmten Stelle und sagte:

»Dieser Gitano hat oben am Felsen einen Fetzen des Gewands gefunden; wir haben das Stück zwar nicht mitgebracht, aber es hat augenscheinlich hier an diese Stelle gehört. Es trägt das Wappen des Grafen. Er ist es also. Die Anwesenden, die Don Manuel alle gekannt haben, mögen herbeitreten und sagen, ob sie glauben, daß es der Graf oder ein andrer ist.«

Sie taten es schaudernd, und alle ohne Ausnahme erklärten, daß es Don Manuel sei. Alimpo machte sogar eine nicht unwichtige Entdeckung:

»Señores,« rief er, »seht hier die Hand! An dem Finger befindet sich der Trauring des gnädigen Herrn. Er hat niemals einen andern getragen.«

Es war so, wie er sagte. Die Zigeuner hatten die Klugheit gehabt, dem Grafen den Ring abzuziehn und ihn der Leiche anzustecken.

»So ist kein Zweifel mehr vorhanden, es ist der Graf«, meinte Cortejo. »Alkalde, nehmt es zu Bericht!«

Der Alkalde, der in Spanien die gleiche Stelle einnimmt wie in Deutschland der Ortsrichter oder Bürgermeister, ließ sich von Cortejo die Befundschrift diktieren, die nach einigen weiteren Bemerkungen und Hinzufügungen unterschrieben wurde.

»Nun ladet ihn auf die Bahre!« befahl der Notar. »Wir schaffen ihn nach dem Schloß!«

Die Träger nahten sich; da aber trat Sternau herzu, der den Vorgang bisher nur von weitem beobachtet hatte.

»Halt!« sagte er. »Ich widerspreche dem Fortschaffen der Leiche. Sie gehört nicht auf das Schloß!«

»Ah!« machte Cortejo. »Glaubt Ihr, daß Ihr hier auch mitzureden habt? Aus welchem Grund, oder in welcher Eigenschaft?«

»Weil ich der Arzt des Grafen bin.«

»Jetzt nicht mehr!«

»Nun gut, so verbiete ich das Fortschaffen der Leiche in meiner Eigenschaft als Mensch; das ist genug. In einem Fall wie der gegenwärtige, haben die Vertreter des Gesetzes die Verpflichtung, einen jeden anzuhören, der eine wesentliche Bemerkung zur Sache zu machen hat.«

»Zugegeben, Señor! Aber Eure Bemerkung schien mir nicht wesentlich, sondern sonderbar oder lächerlich zu sein. Weshalb gehört diese Leiche nicht auf das Schloß?«

Aller Augen richteten sich auf Sternau. Der Notar hatte in einem stolzen, wegwerfenden Ton gesprochen, und Doktor Cielli gab sich die größte Mühe, ein höhnisches Lächeln hervorzubringen; auch der junge Graf schüttelte hämisch und beleidigend den Kopf; aber die übrigen waren alle dem deutschen Arzt gewogen und warteten mit Spannung auf seine Erklärung. Er sagte sehr ruhig:

»Dieser Verunglückte gehört nicht auf das Schloß, weil er nicht Graf Manuel, sondern ein Fremder ist.«

Während den andern ein Ausruf der Verwunderung entfuhr, ließen die Gegner Sternaus ein heiteres Gelächter hören.

»Ah! Wie köstlich!« rief der Notar. »Diese Leiche soll nicht die des Don Manuel sein! Ich glaube, dieser Señor Sternau leidet an derselben Krankheit, an der der gnädige Herr leider zugrunde gegangen ist. Nehmt die Leiche auf und fort damit!«

»Halt!« widersprach da Sternau. »Diese Leiche bleibt liegen, bis ich meine Gründe zur Niederschrift gegeben habe! Dann könnt Ihr tun, was Euch beliebt.«

»Eure Gründe brauchen wir nicht. Vorwärts, Ihr Leute!«

»Verzeiht, Señor Cortejo«, gebot aber jetzt der Alkalde. »Ich stehe hier an Stelle des Gesetzes und weiß, daß Señor Sternau gehört werden muß! Eigentlich dürfte die Leiche nicht eher aufgehoben werden, als bis der Corregidor Oberrichter zugegen ist. So war es mit den Räubern, die Señor Sternau im Park und Señor de Lautreville bei Pons erschlug; sie mußten liegenbleiben. Hier glaubte ich eine Ausnahme machen zu können, weil nicht ein Verbrechen, sondern nur ein Unglücksfall vorzuliegen schien, und weil diese Leiche mit größter Bestimmtheit als die des Grafen anerkannt wurde. Das liegt jetzt anders, und nun hat kein andrer Mensch zu befehlen als nur ich. Señor Sternau, sprecht!«

Dieser nickte befriedigt und begann:

»Ich frage Euch, Alkalde, wie lange Don Manuel vermißt wird.«

»Seit gestern früh«, erwiderte der Beamte.

»Wie lange kann er also höchstens tot sein?«

»Nicht viel über einen Tag.«

»Nun wohl, seht Euch diese Leiche an! Sie ist bereits so von der Verwesung ergriffen, daß sie wenigstens vier Tage lang der Fäulnis verfallen ist. Seht diese Eingeweide! Sie sind bereits schwarzblau und zersprungen. Man braucht gar nicht Arzt zu sein, man braucht nur die Augen zu öffnen, um zu sehn, daß dieser Tote nicht vor erst vierundzwanzig Stunden gestorben sein kann. Dazu kommt, daß es hier unten feucht und kalt ist; kein Sonnenstrahl dringt herab. Eine Leiche in diesem Zustand müßte wenigstens zwei Wochen hier gelegen haben. Ich wende mich an das Denkvermögen der braven Bewohner von Rodriganda; sie werden sich von keiner verbrecherischen Gaukelei täuschen lassen –«

»Halt!« unterbrach hier der Notar den Sprecher. »Ich verlange, daß dieser Mann zum Schweigen gebracht wird!«

Der Alkalde entgegnete:

»Señor Cortejo, ich werde Señor Sternau vollständig anhören und dann selber wissen, was ich zu tun habe!« Und sich zu Sternau wendend, sagte er: »Fahrt fort, Señor!«

»Ich habe gesagt, daß ich mich an Euer Denkvermögen wende. Schlachtet eine Ziege, Alkalde, und legt sie hierher! In welcher Zeit wird sie wohl von der Fäulnis so angegriffen sein wie diese Leiche?«

»Ihr habt recht; in wenigstens zwei Wochen«, antwortete der Beamte.

»Hört!« lächelte Cielli. »Einen Menschen mit einer Ziege zu vergleichen!«

Sternau wandte sich mit größter Kaltblütigkeit an ihn.

»Ich gebrauchte dieses Beispiel, um mich diesen braven Leuten verständlich zu machen. Bei ihnen hat es hingereicht, wie ich an ihren Mienen sehe, bei Euch aber nicht, der Ihr ein Arzt sein wollt. Das ist traurig genug!«

»Ich hoffe nicht, daß Ihr es wagen wollt, meiner zu spotten!« brauste Cielli auf.

»Ich bin von der Wichtigkeit dieses Augenblicks so überzeugt, daß ich nur im allerheiligsten Ernst spreche, Señor. Und ich möchte Euch ersuchen, ebenso wie ich, unsre Verhandlungen nicht leicht zu nehmen! Den ersten Grund meiner Vermutung habe ich angegeben. Jetzt kommt der zweite: Man messe hier den rechten Fuß der Leiche. Er ist noch vollständig erhalten. Ich habe den Fuß des Grafen entblößt gesehn. Dieser gehört einem andern Mann an. Er ist breiter und größer als der des Grafen und hat eine dicke, zerrissene Sohle und eine so hornartige Ferse, wie es bei einem Edelmann, der nie barfuß geht und seine Füße pflegt, nicht vorkommen kann. Blickt her, Alkalde, und sagt, ob ich nicht recht habe!«

Die Leute aus Rodriganda traten herzu und gaben dem Deutschen recht. Nicht ohne Beklemmung warf der Notar ein:

»Und das Gewand des Grafen?«

»Man wird es diesem Mann angelegt haben.«

»Und den Ring?«

»Hat man ihm angesteckt.«

»Ah, Ihr vermutet also ein Verbrechen?«

»Allerdings! Seht Euch die Leiche genau an! Sie ist zwar aus einer schrecklichen Höhe herabgestürzt und dabei wiederholt auf dem Felsen aufgeschlagen, trotzdem aber kann sie dadurch nicht so ganz und gar zu Brei zermalmt werden, wie man es hier sieht. Ich behaupte, man hat diesen Mann aus der Höhe herabgestürzt, ist ihm dann nachgestiegen und hat diejenigen Teile des Körpers, die noch unverletzt waren und also verraten konnten, daß es der Graf nicht ist, vollends zerstört.«

»Ah! Eine wirklich wahnwitzige Idee!« rief Alfonso.

»Er ist nicht zu heilen!« bestätigte der Notar.

Der Zigeuner war erbleicht, aber noch hielten die andern alle die Ansicht des Deutschen für unbegründet und irrig. Dieser fuhr fort:

»Ich werde den Beweis meiner Behauptung sofort antreten.«

Dann entfernte er sich eine Strecke weit, hob dort einen Stein auf, brachte ihn dem Alkalden und fragte:

»Was seht Ihr an diesem Stein?«

»Blut.«

»Nein. Es ist kein Blut. Zeigt ihn dem Señor Cielli! Er wird Euch sagen, was es ist.«

Der Alkalde hielt dem Doktor den Stein entgegen. Dieser konnte nicht anders; er betrachtete ihn und sagte:

»Es ist kein Blut. Es ist Gehirn. Der Tote wird mit dem obern Teil des Kopfes darauf gefallen sein.«

»Nein«, antwortete der Deutsche. »Ich werde das Gegenteil beweisen. Folgt mir, Señores!«

Damit schritt er der Seite zu, die derjenigen, wo der Stein gelegen hatte, entgegengesetzt war, und deutete auf eine Vertiefung im Boden, in die der Stein genau paßte.

»Seht, Señores, hier hat der Stein fest in der Erde gelegen; er ist dann mit Anwendung von Gewalt hinweggenommen worden. Da drüben habe ich ihn gefunden, und dazwischen liegt die Leiche. Man hat ihn also aufgehoben, der Leiche damit den Kopf zerschmettert, so daß noch jetzt das Gehirn an ihm zu sehn ist, und ihn dann fortgeworfen. Derjenige, der dies getan hat, ist sehr unvorsichtig gewesen.«

»Wahrhaftig, es ist so!« rief der Alkalde erstaunt.

»Unmöglich! Das ist alles nur Phantasie!« meinte Graf Alfonso.

»Folgt mir nach oben, Señores; ich will Euch noch etwas zeigen!« rief Sternau.

Darauf stieg er voran, und die andern gingen unwillkürlich hinter ihm drein. Oben am Rand der Bateria angekommen, wandte er sich rechts und blieb an der Kante des steilsten Felsenabsatzes stehn.

»Seht her, Señores!« sagte er. »Dies ist der Ort, von dem die Leiche hinuntergefallen ist. Hier hat sie gelegen. Das Gras ist hoch und fett; es hat sich noch nicht wieder aufgerichtet. Der Eindruck hat ganz die Gestalt eines liegenden Menschen. Und um diesen Eindruck rund herum haben wir die Tapfen verschiedener Füße. Es ist kein Zweifel; hier sind mehrere Männer gewesen; die Leiche hat hier gelegen und ist dann hinabgeworfen worden. Und dies ist heut in der Nacht geschehn, wie die Deutlichkeit der Spur beweist.«

»Welch ein Scharfsinn!« rief der Alkalde.

»Verdammter Kerl!« brummte der Notar vor sich hin.

Der Zigeuner aber war noch blässer geworden als vorher. Sternau, der alle Anwesenden scharf beobachtete, hatte es wohl bemerkt und fuhr, gegen den Alkalden gewandt, fort:

»Ich werde gleich sehn, ob auch Ihr ein wenig Scharfsinn besitzt, Señor. Könnt Ihr wohl erraten, durch wen man am sichersten erfahren kann, wer hier gewesen ist?«

Der Gefragte dachte eine Weile nach und verneinte dann.

»So will ich es Euch sagen.« Damit trat er zum Zigeuner, legte ihm die Hand auf die Schulter und versetzte: »Durch diesen hier. Er hat die Leiche gefunden; er wird wohl auch Auskunft geben können. Komm mit, Bursche!«

Mit diesen Worten faßte Sternau ihn am Arm und zog ihn fort, wo die Spuren herkamen. Da gab es eine lehmige Stelle, in der die Fußeindrücke deutlich zu erkennen waren.

»Seht Ihr, daß seine Sandalen noch lehmig sind?« fragte Sternau.

»Wahrhaftig!« meinte der Richter.

»Und daß sein Fuß genau in diese Spur hier paßt?«

Er zwang Garbo, in die Spur zu treten.

»Auch das ist wahr!« stellte der Alkalde fest. »Nun, Gitano, sprich, wenn du dich verteidigen kannst!«

Garbo hatte sich gefaßt; er antwortete:

»Señor, das läßt sich sehr leicht erklären. Ich ging mit zwei Kameraden Kräuter sammeln. Wir kamen bis an den Schluchtrand. Dort ruhte ich aus, während sie links weitergingen. Der Eindruck im Gras ist von mir, Señor.«

»Ah, du bist ein kluger Kerl. Und den Zipfel des Hemdes hast du an einem Dorn hängend gefunden?«

»Ja«, erwiderte Garbo mit erneuter Verlegenheit.

»Zeige uns diesen Dorn!«

»Kommt!«

Garbo schritt an der Schlucht zurück und suchte, aber vergebens.

»Ich finde ihn nicht«, sagte er.

»Das dachte ich mir!« meinte Sternau. »Wenn ein fallender Mensch mit seinem Hemd an einem Dorn hängenbleibt, wird das Hemd zerschlitzt, oder es reißt ein unregelmäßiges und vielfach zerfetztes Stück ab; das Stück aber, daß du gefunden hast, hat eine so glatte und saubere Rißkante, daß ich sicher glaube, du hast es selber abgerissen. Man braucht nicht sehr klug zu sein, um zu sehn, was mit der Hand oder was durch einen dornigen Strauch zerrissen wurde.«

»Das ist wahr!« bemerkte der Alkalde.

»Ich erkläre also,« fuhr Sternau fort, »daß wir es nicht mit der Leiche des Grafen de Rodriganda zu tun haben, daß vielmehr das Verbrechen einer betrügerischen Verwechslung vorliegt. Ich bitte, alle meine Aussagen zu Bericht zu nehmen, verlange, daß die Spuren, die ich Euch zeigte, unversehrt erhalten bleiben, und hoffe, daß man die Leiche liegenläßt, bis der Corregidor kommt, um diese Angelegenheit genauer zu untersuchen.«

»Das soll geschehn, Señor«, erwiderte der Alkalde.

»Ihr werdet die Schlucht mit der Leiche bewachen lassen?«

»Ja.«

»Und diesen Gitano, der mir sehr verdächtig vorkommt, gefangennehmen?«

»Wenn Ihr es wünscht, ja.«

Da trat Graf Alfonso vor, um Einspruch zu erheben. Auf dem Weg nach der Schlucht hatte nämlich der Advokat ihm mitgeteilt, daß der Zigeuner in seinen Diensten stehe, und nun befürchtete er, daß dieser, wenn er festgenommen würde, das Geheimnis verraten werde.

»Halt, ich dulde das nicht!« rief er. »Wollt Ihr Euch nach den Wünschen dieses Fremden richten, Alkalde? Wißt Ihr, wer nach dem Tod meines Vaters hier Amts- und Gerichtsherr ist? Ich, der Sohn des Grafen!«

Sternau zuckte die Achsel und entgegnete mit kalter, unerschütterlicher Ruhe:

»Ihr habt erst zu beweisen, daß Ihr der Sohn des Grafen seid. Der echte Graf Alfonso ist mit dem Kapitän Landola in See gegangen. Man hat ihn gewaltsam entführt.«

Er sprach hier nur seine Vermutung aus, aber seine Worte machten einen gewaltigen Eindruck.

»Ah! Hört!« rief es im Kreis.

Der Advokat taumelte zurück; Alfonso aber sprang auf Sternau zu, um ihn zu packen.

»Schurke!« rief er. »Verleumder, ich erwürge dich!«

Da richtete Sternau sich zu seiner vollen Höhe empor, faßte den Grafen bei den Hüften, trat mit ihm bis an die äußerste Kante des Abgrunds heran und hielt ihn über die gähnende Tiefe hinaus. Ein Schrei des Schreckens erscholl rundum.

»Du mich erwürgen, Knabe!« lachte er. »Soll ich dich hinunterschmettern zu dem Popanz eurer Betrügereien? Nein, es ist keine Ehre, einen so unwürdigen Burschen zu besiegen und zu töten. Du magst im Schlamm deiner eignen Armseligkeit ersticken. Fahre hin, Fliege!«

Damit trat er von dem Abgrund zurück und schleuderte Alfonso hinweg. Hierauf wandte er sich an den Alkalden:

»Ich hoffe, daß Ihr Eure Pflicht tut, Señor. Das Gegenteil könnte Euch gefährlich werden. Kommt, Señor Castellano! Ihr könnt mich begleiten.«

Dann ging er mit Alimpo fort, ohne daß ihn jemand gehindert hätte.

Alfonso erhob sich vom Boden. Er schäumte vor Wut, getraute sich aber nicht, diese an dem eisenstarken Deutschen auszulassen. Er war beschämt vor den vielen Leuten, die ihn als Herrn und Gebieter betrachten sollten, und wandte sich jetzt, vor Grimm zitternd, an den Alkalden, den er anbrüllte:

»Señor, an diesem Angriff seid nur Ihr allein schuld. Ich werde es Euch gedenken. Darauf verlaßt Euch!«

»Ich habe nur meine Pflicht getan!« entschuldigte sich der Beamte.

Er war ein gewöhnlicher Dorfbewohner, ein Untertan des Grafen. Er hatte nach dem Recht gehandelt, weil er unter dem Einfluß der körperlich und geistig mächtigen Persönlichkeit Sternaus stand. Dieser letztere hatte sich jetzt entfernt, und nun sank dem Mann dem jungen Grafen gegenüber der Mut, zumal auch der Notar das Wort ergriff, ihm entgegentrat und mit zürnender Miene die Frage aussprach:

»Señor, sagt einmal, ob Ihr wißt, wer ich bin!«

»Ja«, antwortete er. »Der Sachwalter Seiner Erlaucht.«

»Gut. Was heiß das: Sachwalter?«

»Ihr habt ihn sachlich und rechtlich in allen Stücken zu vertreten.«

»Sehr schön! Nun ist aber mein Auftrag noch keineswegs erloschen; was ich also tue, das ist gradeso, als ob es der Graf selber tut. Wollt Ihr diesen Gitano wirklich unschuldigerweise verhaften?«

Der Alkalde befand sich in keiner geringen Verlegenheit; er schwieg. Da wandte sich Cortejo an den Zigeuner und sagte:

»Wir brauchen dich nicht mehr. Du kannst gehn, und ich will denjenigen sehn, der dich zu halten wagt!«

Garbos Augen leuchteten vor Freude. Er machte eine tiefe Verneigung vor Cortejo und erwiderte:

»Señor, ich danke! Ich bin wirklich unschuldig!«

Er entfernte sich, ohne daß der Alkalde ihn zurückhielt. Jetzt wandte sich der Advokat an die Männer, die die Bahre zu tragen hatten, und gebot ihnen:

»Ihr geht da hinab, ladet den armen, gnädigen Herrn auf und tragt ihn nach dem Schloß! Wer sich weigert, der wird entlassen!«

Die Leute gehorchten ohne Widerrede, und die Furcht vor dem strengen Notar war so groß, daß die sämtlichen Auseinandersetzungen des Deutschen erfolglos blieben. Der Alkalde fügte sich schweigend, und es dauerte nicht lange, so setzte sich der Zug nach Rodriganda zu in Bewegung.

Der Doktor aus Manresa ging in der Nähe der Leiche, während Cortejo mit Alfonso in einer solchen Entfernung hinter dem Zug herschritt, daß sie miteinander sprechen konnten, ohne gehört zu werden.

»Sternau wird sicherlich den Corregidor rufen«, sagte der letztere. »Er ist ein Mensch, dem alles zuzutrauen ist!«

»Ich werde mich nicht beugen!«

»Aber wie kam er dazu, mir zu sagen, ich sei nicht der echte Sohn des Grafen Manuel de Rodriganda?«

»Das weiß der Teufel!«

»Und wie kam er weiter dazu, zu behaupten, daß der wirkliche junge Graf in See gegangen sei?«

»Das weiß des Teufels Großmutter! Er ist der einzige Gegner, den wir noch haben; er muß unschädlich gemacht werden, und zwar bald.«

»Und Roseta?«

»Pah! Sie ist ein Mädchen. Ich habe nicht gelernt, ein Weib zu fürchten!«

Auch die Bewohner von Rodriganda, die mit in der Schlucht gewesen waren, tauschten unterwegs ihre Bemerkungen aus. Sternau war beliebt, die andern aber haßte oder fürchtete man. Ein jeder hatte die Worte des Deutschen gehört, und nun wurden leise Vermutungen ausgesprochen, die dem jungen Grafen keineswegs zur Ehre gereichten.

Jetzt gelangte man zum Schloß, und der Notar ließ die Leiche in das Gewölbe eines Nebengebäudes niederlegen; dann begab er sich auf sein Zimmer. Hier fanden sich Briefschaften vor, die während seiner Abwesenheit von der Post abgegeben worden waren.

Das erste Schreiben, das er zur Hand nahm, enthielt nur eine kurze Nachricht. Kaum jedoch hatte er diese überflogen, so nahm sein Angesicht zunächst einen überraschten und dann einen förmlich satanischen Ausdruck an.

»Ah, wie herrlich sich das trifft!« rief er. »Besser kann ich es mir ja gar nicht wünschen!«

Mit dem Brief in der Hand eilte er zu seiner Verbündeten. Er fand dort Alfonso, der beschäftigt war, ihr das Ereignis in der Bateria zu erzählen.

»Gasparino, ist das alles wahr, was ich höre?« fragte Clarissa. »Wir befinden uns in großer Gefahr?«

»Befanden, meinst du, nicht aber befinden«, entgegnete er. »Die Gefahr ist vorüber.«

»Wirklich?« fragte Alfonso.

»Hier, hier ist unsre Rettung!« frohlockte der Notar, den Brief in die Höhe haltend.

»Was ist es, Vater?« fragte Alfonso.

»Eine Nachricht des Bankiers in Barcelona. Der Graf hat diesem Sternau ein Honorar ausgezahlt.«

»Weiter gibt es nichts?« fragte Clarissa enttäuscht. »Das ließ sich ja erwarten!«

»Aber er liefert ihn uns damit in die Hände! Das Honorar wurde nicht bar, sondern durch Anweisung ausgezahlt, und Sternau hat diese Anweisung dem Bankier geschickt, der die Summe nach Deutschland besorgen soll. Dieser hat es sofort getan und benachrichtigt den Grafen davon.«

Alfonso schüttelte den Kopf.

»Ich begreife aber noch immer nicht,« meinte er, »wie diese Angelegenheit den Doktor uns in die Hände liefern soll. Erkläre dich deutlicher!«

»Die Höhe der Summe ist es, die ihm den Hals bricht. Da, lest einmal!«

Die beiden hatten kaum einen Blick auf das Papier geworfen, so brachen sie in einen Ausruf des Erstaunens aus.

»Unmöglich!« rief Clarissa.

»Das ist ja ein Vermögen!« rief Alfonso.

»Nicht wahr?« fragte Cortejo. »Ein fürstliches, nein, sogar ein wahrhaft königliches Honorar! Das Augenlicht ist etwas wert; der Deutsche hatte den Grafen vollständig in seinem Netz; Don Manuel war unendlich reich, und im ersten Augenblick des Glücks, wieder sehn zu können, wurde er verschwenderisch.«

»Aber,« sagte Alfonso, »ich begreife noch immer nicht –«

»Du sollst es sofort hören. Der Graf war blind. Er schrieb niemals ein Wort –«

»Weiter!«

»Sämtliche schriftliche Arbeiten hatte nur ich allein zu besorgen. Selbst die Unterschrift war mir überlassen. Da kommt nun von seiner eignen Hand die Anweisung –«

»Ah, ich beginne zu begreifen!« rief Alfonso.

»– von der ich nicht das geringste weiß, die auch in keinem der Bücher vermerkt worden ist.«

»Auch das nicht?«

»Nein. Ich habe seit drei Tagen vergessen, meine Einträge zu machen und werde nachholen, daß mir der Graf befohlen hat, dem Doktor Sternau tausend Duros Honorar auszuzahlen. Das ist ein Beweis gegen den Deutschen.«

»Herrlich!« rief Clarissa. »Der Herr hat dich mit großem Scharfsinn begnadigt, Gasparino. Wir werden endlich siegen.«

»Ich werde dies sofort besorgen. Du aber, Alfonso, reitest schnell nach Manresa.«

»Was soll ich dort?«

»Pah! Du fragst noch? Anzeige machen natürlich und Polizei holen. Er muß noch heute verhaftet werden.«

»Und Roseta! Wenn sie davon weiß? In diesem Fall würde sie ihm als Zeugin dienen.«

»Das ist allerdings ein Umstand, den wir berücksichtigen müssen. Ich werde sehn, was zu tun ist. Übrigens kommt es uns ja gar nicht drauf an, das Geld zurückzuerhalten und diesen Deutschen wegen Fälschung bestrafen zu lassen; es genügt, daß er für den Augenblick unschädlich gemacht wird. Und dafür wird mein Freund, der Corregidor, sorgen.«

»Ah, du denkst, daß der Deutsche nicht nach Manresa, sondern nach Barcelona geschafft wird?«

»Freilich, da es sich um einen so hohen Betrag handelt. Während du nach Manresa reitest, werde ich den Brief für den Corregidor schreiben. Der Deutsche sitzt gefangen; der Graf wird begraben, du trittst das Erbe an und stellst dich bei Hof vor; sollte aber Roseta uns Schwierigkeiten bereiten, so gibt es ein sehr gutes Mittel, sie gefügig zu machen, nämlich: den Wahnsinn, wie beim Grafen!« –

Diejenigen, gegen die diese teuflischen Anschläge gerichtet waren, saßen jetzt mit der Engländerin zusammen, um sich zu beraten. Als Sternau mit dem Verwalter von der Bateria zurückkehrte, hatte er sich sogleich bei Roseta anmelden lassen. Er wurde angenommen und fand die Engländerin bei ihr. Roseta erhob sich. Sie war totenbleich und fragte, indem ihr die Augen überflossen:

»O bitte, Señor, macht es kurz, denn ich leide entsetzlich! Er ist tot, nicht wahr?«

Sternau trat aus sie zu, faßte ihre Hand, die er an seine Lippen zog, und erwiderte in mildem Ton:

»Weint nicht, Doña Roseta. Er lebt, er ist nicht tot!«

»Nicht? O mein Gott, wo ist dann mein Vater?«

»Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß der Tote da draußen nicht Don Manuel ist.«

Damit führte er Roseta zu einem Sessel und bat:

»Setzt Euch und sagt mir, ob Ihr stark genug seid, mich ohne Aufregung anzuhören!«

»Oh, Carlos, fragt nicht! An Eurer Seite bin ich immer stark, denn ich vertraue Euch.«

»So hört! Als Ihr mich von Paris herbeirieft, kannte ich von den Bewohnern Rodrigandas nur Euch. Ich hatte keinem ein Leid getan, niemand beleidigt und wurde doch bereits in der ersten Zeit meiner Anwesenheit hier überfallen. Ich erkannte bald, daß es nicht auf meine geringe Habe, sondern auf mein Leben abgesehn sei. Da meine Person hier keinen Feind besaß, so mußte die Angelegenheit, in der ich nach Rodriganda kam, mir diesen Feind erweckt haben. Ich kam nur aus dem einen Grund, Euern Vater zu retten; es mußte also jemand geben, der wünschte, daß der Graf nicht gerettet werde.«

Roseta zuckte vor Schreck zusammen.

»Das ist ja ganz unmöglich! Mein Vater war so gut!«

»Ja, er war gut, aber er war der Herr und Besitzer einer Grafschaft und vieler Millionen.«

»Was sagt Ihr da? Ich verstehe Euch nicht.«

»Es ging Don Manuel gradeso wie mir: er hatte keinen Feind. Daraus schloß ich, daß dieser Feind es auf Rodriganda abgesehn haben müsse.«

»Auf Rodriganda? Das kann doch nur mein Bruder erhalten.«

»Auch das sagte ich mir. Aber dieses Wort Bruder und der Umstand, daß Euer Bruder seit den Tagen seiner Kindheit in Mexiko gewesen war, brachte mich auf einen kühnen Gedanken. Ich beobachtete scharf und unausgesetzt. Euer Vater wurde von drei unfähigen Ärzten gepflegt, die ihn zu Tod behandelt hätten; diese Ärzte wieder wurden von drei Personen in leidenschaftlichen Schutz genommen.«

»Ihr meint den Notar?«

»Ja.«

»Señora Clarissa?«

»Ja.«

»Und wer ist der dritte?«

»Euer Bruder selbst.«

»Alfonso! Ah! Ihr sagt schreckliche Dinge, Señor; aber Ihr habt recht. Mein Bruder ist immer Euer Feind gewesen.«

»Dies sah ich. Ich beobachtete diese drei. Sie waren wenig bei Don Manuel, sie waren stets beisammen; sie waren es – ich sage es frei und offen – die den Tod Eures Vaters wünschten!«

»O mein Gott! Welch eine Kluft öffnet Ihr vor meinen Augen!«

»Gott gab mir die Gnade, Euern Vater vom Tod zu erretten; aber er wurde wieder krank; er wurde wahnsinnig. Dieser Wahnsinn war künstlich durch ein Gift herbeigeführt worden. Wer hatte ihm dieses Gift gegeben? Ich weiß es nicht. Ich ritt nach Barcelona; Ihr wart bei Alimpo beschäftigt, und der Graf befand sich allein. Es kann jemand während dieser Zeit bei ihm gewesen sein. Das Gift ist ihm durch Schokolade beigebracht worden. Nun war mir zufällig ein Gegenmittel bekannt. Ich gab es ihm zwar noch nicht, aber die Vorkur wirkte bereits günstig. Man erkannte, daß ich den Wahnsinn heilen würde, und traf eine Vorkehrung, die gründlich wirkte: man ließ Euren Vater verschwinden.«

»Oh, Ihr glaubt, daß er nicht selber gegangen ist?« fragte Roseta voll Angst.

»Er konnte nicht gehn; er war zu schwach dazu.«

»So hat man ihn getötet! Oh, mein Gott!«

»Man entfernte ihn, aber man tötete ihn nicht.«

»Glaubt Ihr? So lebt er noch?« rief sie aufspringend.

»Er lebt! Wo, das weiß ich nicht; aber wir werden es erfahren. Hört meine Gründe, Doña Roseta: wenn der Graf nur verschwand, so konnte Euer Bruder das Erbe nicht antreten; der Graf mußte also sterben. Der Tote da draußen aber ist der Graf nicht; folglich lebt Don Manuel noch. Man hat ihm einen andern untergeschoben, und dieser andre ist bereits seit vier Tagen eine Leiche gewesen.«

Er berichtete nunmehr den Damen das ganze Ereignis in der Bateria, und als er geendet hatte, pflichteten sie ihm bei.

»Welch ein Trost, daß es der Vater nicht ist!« rief Roseta. »Oh, nun bin ich wieder froh und stark. Ich weiß, wir werden diesen Anschlag durchschauen und besiegen. Nicht wahr, Señor?«

Er streckte ihr beide Hände entgegen.

»Doña Roseta, mein Leben gehört Euch, und ich werde es der Aufgabe widmen, Euren Vater aufzufinden. Und Ihr, Miß Amy, Ihr werdet uns helfen, Ihr werdet unsre Schwester sein?«

»Ja, die bin ich.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf und meinte:

»Ich meine das Wort ›Schwester‹ doch noch anders. Darf ich kühn sein und aufrichtig sprechen, Miß Amy?«

»Ja. Redet!«

»Ihr sollt unsre Schwester sein, indem Ihr Gräfin de Rodriganda werdet.«

»Gräfin Rodriganda?« fragte Amy. »Ich verstehe Sie nicht. Inwiefern?«

»Indem Ihr die Gemahlin des Grafen Alfonso de Rodriganda y Sevilla werdet. Ihr zürnt über diese meine Worte, aber Ihr werdet mir sofort vergeben, wenn ich Euch erkläre, daß der Graf Alfonso de Rodriganda sich nicht hier befindet. Er ist zur See.«

Eine tiefe Glut bedeckte das Antlitz der Engländerin. »Mein Gott, Ihr sprecht in Rätseln!«

»Ihr habt ihn aber hier gesehn«, fuhr er unbeirrt fort.

»Ich begreife Euch nicht!«

»Und zwar als Husarenleutnant.«

Jetzt vermochte Amy gar nicht zu antworten. Sie blickte Sternau nur in größtem Erstaunen an, und auch Roseta schien vor Verwunderung keine Worte zu finden. Er aber erhob sich jetzt und fragte:

»Señoritas, glaubt Ihr, daß ein Sohn den Tod seines Vaters wünschen oder gar ihn wahnsinnig machen kann?«

»Nein!« entgegnete Roseta.

»Nun, Señor Alfonso hat dies getan, er ist also gar nicht der Sohn Don Manuels!«

Da fuhr auch Roseta empor und rief:

»Was – was sagt Ihr da! Er ist nicht meines Vaters Sohn, nicht mein Bruder? Was sonst? Señor, ich stehe auf der Folter. Sprecht, sprecht schnell!«

»Er kann nicht der Sohn Don Manuels sein, denn ich und Ihr beide, wir haben den echten Alfonso gesehn.«

»Wann, wo?«

»Hier, Doña Roseta, tretet in Eure Bildergalerie und vergleicht das Jugendbildnis des Grafen Manuel mit dem Leutnant Alfred de Lautreville!«

Jetzt kam die Reihe, zu erstaunen, auch an Miß Amy.

»Alfred de Lautreville!« rief sie. »Señor, was sagt Ihr, was wißt Ihr von ihm? Er gestand mir, daß auf seinem Leben ein Geheimnis liege, das er erst aufklären müsse.«

»Er hat Euch die Wahrheit gesagt. Er ist der richtige Graf de Rodriganda y Sevilla, und der jetzige Alfonso ist ein untergeschobener Betrüger. Darum mußte der Leutnant verschwinden; daher hat man ihn geraubt und auf das Schiff geschafft.«

»Geraubt!« rief die Engländerin, indem sie die kleinen Fäuste ballte und einen schnellen Schritt auf Sternau zutat. »Geraubt? Auf das Schiff geschafft?« wiederholte sie. »Das soll man wagen! Ich werde sie alle vernichten!«

Sternau nickte lächelnd:

»Gebt Ihr nun zu, daß Ihr den Grafen Alfonso liebt, Miß Amy?«

»Ja«, antwortete sie aufrichtig. »Ich liebe ihn; ich werde ihn suchen und finden. Und wehe denen, die seine Feinde sind und unrecht an ihm handeln! Zwar hat mir mein Vater geschrieben, daß ich kommen soll, und ich werde auch heut noch abreisen, in einer Stunde bereits. Aber ich werde doch zu handeln wissen. Erzählt, Señor!«

Sternau berichtete nun, wie er die Spuren weiter verfolgt und dann alles übrige in Erfahrung gebracht habe. Sie durchschauten die Machenschaften, obgleich sie nichts genau beweisen konnten. Endlich mußten sie sich trennen, denn Amy war wirklich ganz plötzlich abberufen worden. Derselbe Briefträger, der dem Notar das Schreiben des Bankiers überbracht hatte, war auch der Überbringer eines Briefs von ihrem Vater gewesen. Sie versprach, ihrem Vater alles zu gestehn und für sich und die Freundin seine Hilfe zu erbitten. Dann nahm sie Abschied von dem Deutschen, dem sie ihre wärmste Freundschaft zusicherte.

Kurze Zeit später fuhr sie mit Roseta, die sie bis Pons begleitete, von Rodriganda fort.

Diese Unterredung und dann die schleunige Abreise der Freundin waren schuld, daß weder Sternau noch Roseta sich nach der Leiche erkundigt hatten. Der erstere glaubte, daß der Alkalde nach seiner Anordnung gehandelt habe, denn im Eifer des Gesprächs hatten sie gar nicht bemerkt, daß der Tote hereingebracht worden war.

Sternau hatte sich ins Dorf begeben, um dort den treuen Mindrello aufzusuchen. Dieser kam ebenfalls soeben erst von der Schlucht zurück, wo er als ferner, aber aufmerksamer Zuschauer zugegen gewesen war.

Sternau teilte ihm vertrauensvoll seine Vermutungen und Schlüsse mit und fragte ihn, ob er bereit sei, heimlich nach dem Grafen zu forschen. Der Schmuggler bejahte dies und erhielt von dem Deutschen 50 Duros zur Deckung von Auslagen. Hierauf kehrte der Arzt nach dem Schloß zurück, um seinerseits dort weitere Beobachtungen anzustellen.


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