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Señor Gasparino Cortejo war inzwischen nach Barcelona gereist.
Im Hafen dieser Stadt lag zwischen andern Schiffen ein Dreimaster, der am Bug und Stern den Namen »La Péndola« führte. Dieses Wort heißt zu deutsch »die Feder« oder »der Pendel«. Dies war für den Nichtkenner vielleicht ein sonderbarer Name für ein großes, schweres Kauffahrteischiff von drei Masten und mehreren Decks; aber ein Seemann hätte sich über diesen Namen nicht gewundert. Man sah es zwar, daß die »Feder« nicht auf einer amerikanischen Werft gebaut sei, aber sie war doch nach amerikanischem Muster gezeichnet. Ihr Bug stieg kühn am Vorderdeck empor, und der Kiel lag lang und scharf im Wasser; dazu war die Takelung eine beinah klipper-artige, so daß sich vermuten ließ, die »Feder« sei ein außerordentlich schneller Segler und fliege »federleicht« über die Wogen dahin. Freilich sind solche Schiffe auch leicht zum Kentern geneigt; sie »brechen oft das Rückgrat«, wie der Seemann sich ausdrückt, und es gehört ein ganz besondres Geschick dazu, ein derartiges Fahrzeug zu befehligen.
Landola hatte sich heute mit Gasparino Cortejo in die Kajüte eingeschlossen, um ungestört über Geschäfte sprechen zu können. Der Notar saß vor einem großen Stoß von Papieren, die er durchgerechnet hatte. Er legte soeben die Feder weg und sagte:
»Ich bin mit Euch zufrieden, Landola. Mein Teil beträgt dreißigtausend Duros, und so viel gedachte ich für diesmal nicht zu gewinnen.«
Im Gesicht des Kapitäns zuckte keine Miene. Er fragte kalt:
»Und wie steht es? Soll ich zahlen, oder laßt Ihr das Geld im Geschäft, weil ich es brauche?«
»Behaltet es!«
»Gut, abgemacht. Habt Ihr sonst noch etwas?«
»Hm! Könnt Ihr keinen Matrosen gebrauchen?«
»Brauche immer welche. Was für einen?«
»Den man einmal verliert.«
»Aha! Im Wasser?« fragte Landola mit einem bezeichnenden Lächeln.
»Meinetwegen auch auf dem Land. Nur wiederkommen darf er nicht.«
»Wie damals Don Fernando de Rodriganda y Sevilla. Nicht wahr?«
»Pst!« meinte der Notar erschrocken. »Wenn man Euch hörte! Nennt diesen Namen ja nicht wieder! Don Fernando ist ja – tot ...!«
»Ja, schlimmer als tot – verloren – das kann ich beschwören! Wer ist der neue Matrose?«
»Einer, der sich für einen Offizier ausgibt, aber ein Abenteurer ist.«
»Freut mich! Sind mir die liebsten! Wo ist er zu finden?«
»Auf Rodriganda.«
»Ah! Wie bringt Ihr ihn her?«
»Ihr sollt ihn Euch holen.«
»Auch schön. Ist er stark?«
»Sehr!«
»Tapfer?«
»Noch mehr!«
»Jedenfalls!«
»Das wollen wir ihm verbieten! Wieviel zahlt Ihr, Señor?«
»Wieviel verlangt Ihr, Capitano?«
»Dreihundert Duros für alles: Unbemerktes Abholen, ohne Geräusch, spurloses Verschwinden und niemalige Wiederkehr.«
»Ich gehe drauf ein, obgleich ich weiß, daß er Euch beim Verkauf eine tüchtige Summe einbringt. Schreibt Euch also die dreihundert über. Wohin werdet Ihr ihn bringen?«
»Hm, weiß noch nicht. Vielleicht nach Borneo oder Celebes. Die Malaien geben dort gern Gold oder gar Edelsteine für Weiße, die sie ihren Göttern oder Toten zu Ehren schlachten.«
»Ihr seid ein verdammt feiner Pfiffikus, Capitano!«
Der Seemann lachte boshaft. »Euch fehlt es auch nicht an dieser verdammten Pfiffigkeit. Wann soll ich den Jungen holen?«
»Könnt Ihr morgen abend eintreffen?«
»In Rodriganda? Ja. Werde einen hübschen Wagen mitbringen. Wo soll ich halten?«
»Ich werde Euch entgegenkommen. Richtet es ein, daß ich Euch Punkt zehn Uhr an der Grenze der Besitzung treffe!«
»Schön. Die Einleitungen überlasse ich natürlich Euch. Es muß wohl ein ungewöhnlicher Kerl sein. Sonst gebt Ihr Euch nicht solche Mühe. Ein Schlückchen Gift, hm, würde viel rascher wirken.«
»Ich hasse das Gift. Es ist unzuverlässig und verräterisch.«
»Unzuverlässig? Hahahaha! Habe in einer alten Scharteke eine Art neues Gift entdeckt, prachtvoll! Will sie Euch einmal zeigen!«
Der Kapitän schloß ein in der Kajütenwand eingelassenes Schränkchen auf, schob eine Menge schwerer Geldrollen zur Seite und zog ein Heft hervor, dessen Schrift erkennen ließ, daß es mehrere hundert Jahre alt sei. Der Einband und das Titelblatt fehlten. Er legte es vor sich hin und schlug es auf.
»Herrliches Buch!« meinte er. »Habe es einem alten deutschen Steuermann abgekauft, der es weiß Gott wo aufgegabelt hatte. Stehn alle möglichen Rezepte und Mittel drin, und hier ...« Er zeigte auf folgende Stelle:
» Item eyn herrlich Gifft für Tott und Wahnsinn.
Man nimbt eyn Töpfleyn Safft von Antiaris toxicaria, welches genannt ißt Antschaar, eyn halbes Töpfleyn Safft des Strychnos Tieutê, so man nennt javanische Brechnuß, eyn vierteyl Töpfleyn Safft von Alpinia galanga, welches ißt indischer Galgant und ebenso vill Safft des Zingiber cassamumar, genannt gifftiger Ingwär. Das siedet man auff die Hälfften eyn und hebt es in eyn Flaschen auff. Fünff Tropffen davon machen eyn starken Menschen tott; zwey Tropffen awer gäben ihm in Wahnsinn, so er nicht mehr weiß, wer er gewessen ißt.
Diesser Wahnsinn wierd wieder geheylt durch folgenden Trankk:
Man zerstößt eyn Tassenkopff Capsium, welches heyßt die strauchigte Beißbeeren und thut darauff eyn halben Tassenkopff Speichel von eyn Menschen, welchen man bis zum Schäumen gekietzelt hat, läßt stehen eyn Wochen und tut darauff eyn Löffel scharpfen Essieg, gießt ab und hebt in eyn Flaschen auff. Zwei Tropffen von dieser feynen Artzeneyen nimbt den Wahnsinn wieder hinfort binnen dreyen Tagen.
Notabene: Kann nur im Landte Asien gemacht werden und ißt erprobt von viellen Menschen, so man Neger, Malayas oder Wildte nennet.«
»Könnt Ihr denn diese Schrift lesen?« fragte der Advokat.
»Ja«, antwortete der Kapitän. »Ich verstehe Deutsch.«
»So verdolmetscht mir doch einmal das Zeug!«
Der Kapitän tat es. Als er fertig war, fragte der Notar:
»Und dieses Gift habt Ihr? Hm! Könnte man wohl einige Tropfen davon bekommen?«
»Für wen? Für den Jungen etwa, den ich mir holen sollte?«
»Nein.«
»So, das ist etwas andres. Aber das Zeug ist verteufelt teuer. Der Tropfen kostet fünf Duros.«
»Alle Wetter! Aber es wirkt zuverlässig?«
»Auf mein Wort!«
»Kann ich zehn Tropfen haben?«
»Ja. Macht fünfzig Duros!«
»Gebt her, und schreibt Euch die fünfzig über!«
Der Kapitän griff in das gleiche Schränkchen, nahm eine Arzneiflasche heraus, aus der er in ein kleines, leeres Fläschchen genau zehn Tropfen abzählte.
»Hier, Señor! Das ist grad genug, um zwei tot oder fünf wahnsinnig zu machen. Ich hoffe, Ihr werdet mit mir zufrieden sein!« – – –
Diese Unterredung geschah am zweiten Tag nach der Abreise des Advokaten von Rodriganda. Am dritten, dem Tag des Festes, kehrte er dorthin zurück. Als er durchs Dorf fuhr, war er nicht wenig überrascht, den ganzen Ort im Festkleid zu erblicken. Erst auf dem Schloß erfuhr er, was geschehn war, und ging sofort zu seiner Verbündeten, um sich alles ausführlich erzählen zu lassen.
Als die Dämmerung hereinzubrechen begann und der Arzt mit Roseta sich abermals beim Grafen befand, bestand dieser darauf, nunmehr seinen Sohn zu sehn. Sternau blieb nichts andres übrig, als sich dem Willen Don Manuels zu fügen.
»Ich werde nach ihm schicken«, meinte er, indem er nach dem Vorzimmer ging. Dann befahl er dem Diener: »Der Graf Alfonso und der Leutnant Lautreville sollen kommen. Sie dürfen aber nur zugleich eintreten!«
Mariano hatte keine Ahnung von dem Plan des Arztes. Er trug heute nicht die Uniform, sondern ein kleidsames Zivil und stieß unten im Vorzimmer mit Alfonso zusammen, der an ihm vorbeisah. Der Graf hatte bereits die Binde wieder abgelegt und erwartete mit Ungeduld den Sohn. Als die beiden eintraten, fiel sein Auge zunächst auf Alfonso, glitt aber schnell von ihm ab und auf den Leutnant hinüber. Da erhob er sich, schritt auf diesen zu, öffnete die Arme und rief:
»Mein Sohn, ich bin sehend! O komm und freue dich!«
Bei dieser Szene stieg dem Leutnant das Blut siedend heiß empor, aber er mußte sich beherrschen. Wie gern hätte er sich an die Brust dieses Mannes geworfen! Es war ihm unmöglich, eine Antwort zu geben, aber er hatte es auch nicht nötig, zu sprechen, denn Alfonso antwortete an seiner Stelle:
»Das ist ein Irrtum, Vater, Graf Alfonso bin ich!«
Der sehend Gewordene heftete seinen Blick jetzt schärfer auf den Sprecher und entgegnete:
»Wer treibt hier Scherz mit mir? Ihr seid nicht mein Sohn!«
»Und doch bin ich es«, antwortete Alfonso. »Erkennst du mich nicht an der Stimme?«
Don Manuel starrte den Sprecher an.
»Diese Stimme, oh, diese Stimme!« rief er. »Ja, ich kenne sie, aber als ich sie zuerst hörte, dachte ich nicht, daß sie meinem Sohn gehören könne. Doch wer ist der andre?«
»Es ist Leutnant de Lautreville«, antwortete Sternau.
»Der Leutnant! Oh, Señor de Lautreville, sagt, ob dies wahr ist!«
In Mariano wallte es heiß empor, aber er erwiderte: »Erlaucht, es ist so!«
Da stieß der Graf einen Laut aus, von dem man nicht sagen konnte, ob es ein Seufzer oder ein Schluchzen sei. Er berührte keinen von den beiden, sondern drehte sich langsam um, sank auf seinen Sitz und sagte:
»Roseta, teile den Herren mit, daß sie gehn sollen! Nur Señor Sternau bleibt hier!«
Alfonso und Mariano gingen. Sie erfuhren nicht, was in des Grafen Zimmer noch gesprochen wurde.
Als der erstere das Gemach Clarissas erreichte, fand er den Advokaten dort. Sie beide hatten seine Rückkehr mit größter Spannung erwartet.
»Nun?« fragte Cortejo.
»Er mag nichts von mir wissen!« lautete die Antwort. »Er wollte den Leutnant umarmen.«
»Dieser war zugegen?«
»Er trat mit mir ein.«
»Alle Teufel, das sieht ja aus wie Berechnung! Was sagte der Graf zu ihm?«
»Er hielt ihn für seinen Sohn.«
»Und als du den Irrtum aufklärtest?«
»Da gebot er uns beiden, uns zu entfernen. Jetzt ist Sternau wieder bei ihm.«
»Sollte dieser etwas ahnen oder gar wissen? Es ist ein Glück, daß es heut anders wird. Morgen wäre es vielleicht zu spät dazu!«
»Heute? Was soll geschehn, mein Lieber?« fragte Clarissa.
»Das werdet ihr noch erfahren. Je weniger heute davon wissen, desto besser ist es für uns. Geht beizeiten schlafen, und kümmert euch um nichts!«
Auch er begab sich nach seinem Zimmer; bald jedoch verließ er dieses; es schien, als ob er sich noch im Park ergehn wolle, denn er verschwand mit den langsamen, ziellosen Schritten eines Spaziergängers nach dieser Richtung hin.
Sobald er aber den Park erreicht hatte, verdoppelt er seine Schritte und gelangte lange vor zehn Uhr zur Grenze. Landola erschien pünktlich. Er hatte einen zweispännigen Wagen und sechs kräftige Matrosen bei sich. Der Wagen wurde unter Bäumen, die ihn verbargen, in die Obhut eines der Leute gestellt. Die andern marschierten auf Rodriganda zu.
»Wie wird es gehn?« fragte der Kapitän.
»Sehr leicht«, versicherte der Notar. »Es ist Tanz im Dorf, wo sich fast die ganze Dienerschaft befindet. Er ist auch dort, ich habe ihn beobachtet. Eine der hintern Treppen ist frei. Auf ihr führe ich Euch nach dem Flur und in seine Zimmer, die unverschlossen sind. Ihr verbergt euch in seiner Schlafstube, und wenn er kommt, so nehmt ihr ihn fest!«
»Das klingt leicht. Aber wie kommen wir wieder fort?«
»Auf demselben Weg. Ihr wartet, bis ich erscheine, denn ich hole euch wieder ab, wenn alles sicher ist.«
Es geschah, wie der Advokat gesagt hatte. Sie erreichten unbemerkt die Rückseite des Schlosses und gelangten von der Treppe, auf der sie die Fußbekleidungen auszogen, auf den erleuchteten Flur, der verlassen lag, in die Wohnung des Leutnants, in der kein Licht brannte. Dort versteckten sie sich. – – –
Da Sternau und Roseta beim Grafen weilten, so waren Amy und der Leutnant aufeinander angewiesen. Die Lady war zwar auch auf eine Viertelstunde zu Don Manuel gerufen worden, hatte sich aber bald wieder zurückgezogen, da das Gemüt des Grafen sehr gedrückt zu sein schien.
Um der Langweile zu entgehn, hatte Amy dem Leutnant vorgeschlagen, einen Gang in das Dorf zu machen. Sie hatten die Venta Wirtshaus besucht, wo beim Klang der Pfeifen und Zithern getanzt wurde, und kehrten nun zum Schloß zurück. Unweit davon blieb die Engländerin stehn und fragte leise:
»Señor, Ihr leidet an einem Geheimnis?«
»Ja«, antwortete er nach einer kleinen Pause.
»Darf man es nicht erfahren?«
»Jetzt nicht.«
»Ihr habt kein Vertrauen zu mir, Señor?«
»Oh doch«, erwiderte er. »Aber es gibt Dinge, die man kaum sich selbst sagen darf.«
»Aber später darf ich es erfahren?«
»Miß Amy, Ihr werdet es sicher erfahren, ganz sicher, wenn –« Er stockte.
»Wenn –? Was wolltet Ihr sagen, Señor?«
»Wenn ich – wenn ich Euch wiedersehn darf!«
Da nahm sie seine Hand, blickte ihm treu und offen ins Gesicht und entgegnete:
»Ihr dürft! Ich werde auf Euch warten.«
»Wie lange? Oh, wie lange? Sagt es mir, Miß Amy!«
Sie legte ihr Köpfchen an seine Brust und flüsterte:
»So lang ich lebe!«
Er antwortete nicht, aber er hielt sie lange Zeit umschlungen, bis sie ihn selbst bat, den Weg fortzusetzen. Er brachte sie noch bis vor die Tür zu ihren Gemächern und begab sich dann gradewegs nach seiner Wohnung. In seinem Glücksgefühl wollte er in der Einsamkeit seines Zimmers mit seinen Gedanken allein sein.
In den wunderschönen Traum versunken, trat er ahnungslos in das Gemach, das ihm als Wohnraum diente, und machte Licht. Er riegelte die Tür zu, die nach dem Flur führte, und begab sich dann ins Schlafzimmer, um sich seiner Oberkleider zu entledigen. Kaum jedoch hatte er den ersten Schritt in den dunklen Raum getan, so erhielt er einen Faustschlag an die Schläfe und darauf einen ebenso wohlgezielten zweiten, daß er die Besinnung verlor, eh er einen Laut auszustoßen vermochte.
»Holt das Licht heraus!« gebot der Kapitän. »Wir wollen uns den Burschen einmal ansehn.«
Das Licht wurde gebracht, und man beleuchtete Mariano.
»Ah, ein feiner Bursche!« meinte Henrico Landola. »Hm, er sieht irgendeinem ähnlich, den ich kenne. Werde mich wohl noch darauf besinnen. Knebelt ihn, wickelt ihn in das Segeltuch und bindet die Taue fest, daß es ein hübsches, steifes, ruhiges Bündel ist, mit dem wir keine Not haben!«
Das Licht wurde ausgelöscht, und noch war nicht lange Zeit seitdem vergangen, als es leise an die vordere Tür klopfte, die geöffnet wurde, worauf der Notar hereingehuscht kam.
»Habt Ihr ihn?« fragte er. »Hat er sich gewehrt?«
»Pah! Das werden wir uns verbitten! Eine Seemannshand weiß gut zu treffen.«
»Er ist wohl noch ohne Besinnung?«
»Das wird sich finden. Kann es fortgehn? Draußen ist es geheurer als hier.«
»So kommt!«
Cortejo führte nun die Seeleute auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und sie erreichten den Wagen, ohne von irgendeinem Menschen bemerkt worden zu sein. Zwei Männer hatten den Geraubten bis hierher getragen und niedergelegt. Der Advokat zog eine Blendlaterne hervor, die er ansteckte. Er konnte es sich nicht versagen, sein Opfer noch einmal anzusehn und ihm ein peinigendes Wort mit auf den Weg zu geben.
Das Licht der Laterne fiel aufs Gesicht des Gefangnen. Er hatte die Augen offen.
»Ah, Bursche, du bist munter«, grinste der Notar ihn an. »Deine Rechnung mit Rodriganda ist gemacht. Du wirst keinem Menschen mehr schaden. Leb wohl und vergiß mich nicht!«
Mit diesen Worten schlug er dem Wehrlosen mit der geballten Faust ins Gesicht und gab das Zeichen, ihn in den Wagen zu heben. Während dies geschah, wurde er von dem Kapitän auf die Seite genommen und gefragt:
»Also wie, Señor? Soll er sterben oder –«
»Hm, tot ist am besten!«
»Dann verliere ich aber ein Bedeutendes!«
»So schreibt Euch zweihundert Duros mehr auf Euer Konto!«
»Das ist etwas andres! Für diesen Preis kann man es machen. Da sind die Jungens ja fertig. Gute Nacht, Señor! Ihr laßt Euch doch noch sehn, ehe ich in See steche?«
»Einmal noch, ja. Dann auf Wiedersehn!«
Der Wagen rollte davon, und der Advokat kehrte nach Rodriganda zurück.
Er nahm dorthin nun die feste Überzeugung mit, daß sein Spiel jetzt nicht mehr zu verlieren sei. Vielleicht wäre er jedoch eines andern belehrt worden, falls er Landola nach dem Abschied hätte beobachten können; der Seeräuber grinste verschmitzt und flüsterte händereibend: »Cortejo und Mariano, beide sollen mir zinsbar sein!«
Am andern Morgen hatte sich Miß Amy Dryden bereits zu einer sehr frühen Stunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe wie das Unglück; es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinauszugehn in den kühlen, taufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen am Arm. Sie grüßte mit einem tiefen Knicks, und Amy dankte ihr aufs freundlichste.
»Wie es scheint, ist unsre gute Señora Elvira schon sehr in Geschäften«, sagte sie.
»Jawohl, meine verehrte Doña Amy Lady«, antwortete die Verwalterin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. »Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen. Denkt Euch, Doña Dryden Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und grade dem, der den Tag zum Fest machte, dem hat man nicht eine einzige Blüte auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.«
»Ah, Ihr meint Señor Sternau?«
»Ja, ihn und keinen andern. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat! Darum sagte Doña Roseta, ich solle heute früh für Rosen sorgen.«
»Er hat bisher bei Don Manuel stets gewacht?«
»Ja, es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Herrn verhindern wollen. Er ist ein tatkräftiger Mann, das sagt mein Alimpo auch. Selbst heute hat er beim gnädigen Grafen gewacht; jetzt aber ist er in den Park gegangen.«
»So werden wir ihn vielleicht treffen. Ich werde Euch helfen, Blumen brechen.«
»Oh, wie gütig Ihr seid, teure Señorita Miß Amy Doña! Ich nehme diese große Ehre an.«
Amy hatte richtig vermutet. Sie waren noch nicht lange beschäftigt, so sahen sie den Arzt herbeikommen. Er zog den Hut grüßend, und die Engländerin trat auf ihn zu.
»Darf ich mich Euch anschließen, Señor Sternau, oder sind Eure Gedanken mit etwas Besserem beschäftigt, als ich Euch bieten kann?« fragte sie.
»Ihr seid mir herzlich willkommen, Miß,« erklärte er, »denn Ihr bietet mir die Wirklichkeit dessen, womit sich meine Gedanken beschäftigten. Ich dachte nämlich an Euch.«
»An mich?« fragte sie mit scherzhaftem Erstaunen.
»Ja, und der Gedanke an Euch führte mich im Geist nach dem fernen Land, das Euch bald zur Heimat werden soll.«
»Ihr meint Mexiko? Kennt Ihr es?«
»Sehr gut. Ich bin von den Prärien Nordamerikas durch Texas und Neu-Mexiko geritten, kam dann durch die Wüste Mapimi nach der Hauptstadt des Landes, wo ich einige Tage verweilte, und ging hierauf nach Kalifornien, um das Leben und Treiben in den Minenregionen näher kennenzulernen.«
»Ah, Ihr wart wirklich in Mexiko? Oh, das befreundet mich mit diesem Land!« rief sie. »Ihr werdet mir von ihm erzählen müssen, Sir. Ich muß Euch nämlich gestehn, daß ich eine entsetzliche Angst vor Mexiko habe, dem Land der Grausamkeiten und der Gewalttätigkeiten. Denkt an seine Geschichte!«
»Ja, diese Geschichte ist allerdings mit Blut geschrieben, und die Verhältnisse sind selbst heute noch immer keine geordneten. Aber so schlimm, wie es Euch zu sein scheint, ist es doch nicht. Mexiko ist eins der schönsten Länder der Erde; es bietet die seltensten Genüsse und Annehmlichkeiten, und besonders wird das Leben und Treiben der Hauptstadt Euch große Befriedigung gewähren.«
»Aber das Leben und Treiben der Provinzen, Sir! Man spricht sogar von Räuber- und Mörderbanden, die es dort geben soll!«
»Nun,« lächelte der Arzt, »man möchte freilich fast behaupten, daß ein jeder Mexikaner so ein wenig Räuber oder Freibeuter ist, aber man wird bald daran gewöhnt.«
»Gewöhnt!« rief sie. »Wie kann man gewöhnt werden, mit Räubern und Freibeutern zusammen zu sein!«
»Sehr leicht, Miß Amy. Diese Räuber sind die feinsten Kavaliere, die es geben kann. Ihr macht die Bekanntschaft eines hohen Offiziers, der Euch bezaubert, eines Richters, dessen Gerechtigkeit den tiefsten Eindruck hervorruft, eines Gelehrten, dessen Wissen Ihr anstaunt; dann werdet Ihr eines schönen Tags von Räubern angefallen und erkennt in deren Anführer Euren Offizier oder Richter oder Euren Gelehrten. Das ist dort gar nicht auffällig, obgleich es Euch ungewöhnlich vorkommen und ein kleines Lösegeld kosten wird. Ihr werdet von den Leuten mit aller Höflichkeit behandelt, und wenn der Anführer Euch späterhin in irgendeiner Gesellschaft wieder begegnen sollte, so wird er Euch mit aller Höflichkeit den Arm bieten und nichts verlangen, als daß Ihr Euch an das kleine Abenteuer nicht mehr erinnert.«
»Das ist ja überaus romantisch! Es ist in diesen Fällen also bloß auf die Kasse und nicht auf das Leben abgesehn?«
»Meist. In den entfernten Provinzen ist es allerdings etwas gefährlicher. Wer sich da nicht jeder Gegenwehr enthält, der kann seinen Mut leicht mit dem Tod büßen. Man reist in diesen Gegenden deshalb nur unter militärischer Bedeckung. Doch sind solche Kleinigkeiten keineswegs mit den Gefahren der wilden Savanne zu vergleichen. Dort ist jeder wider jeden; man schwebt alle Augenblicke in Todesgefahr; und wer da nicht gut beritten und ebenso gut bewaffnet ist, Körperstärke und Erfahrung besitzt, der soll lieber daheim bleiben.«
»Ja, ich habe davon gelesen. Ist es wahr, daß solche Leute, die diese Wildnis durchziehn, die Spur eines jeden Menschen, eines jeden Tiers zu entdecken vermögen?«
»Allerdings. Doch gehört dazu nicht nur Übung, sondern vor allen Dingen ein Scharfsinn, den man sich nicht anzueignen vermag; er muß angeboren sein. Man muß jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, muß tausend Umstände berücksichtigen, an die kein andrer denken würde.«
»Habt Ihr das auch getan?«
»Ich war ja dazu gezwungen«, bejahte Sternau leichthin.
»Ah, da seid Ihr also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, die ein so romantisches Leben führen?«
Er verbeugte sich mit scherzhaftem Stolz: »Zu dienen, Miß Dryden.«
»Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Präriejägers bewundern zu können!«
»Dieser Wunsch wird Euch in Mexiko leicht zu erfüllen sein, hier aber, meine teure Miß – ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, die uns als Beispiel dienen kann.«
Sie hatten sich im Verlauf der Plauderei von Elvira und ihren Blumen entfernt und waren nach dem Teil des Parks gekommen, der an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte im Sand des Wegs den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick Sternaus, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gesprächs, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen seien.
»Eine Fährte?« fragte die Engländerin, indem sie den Boden musterte. »Ich sehe nichts!«
»Das glaube ich Euch gern, Miß Amy«, antwortete Sternau. »Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrnen Präriejägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während der Nacht betreten worden ist.«
»Während der Nacht? Sir, das klingt ja nach irgendeinem heimlichen Abenteuer!«
»Oh, wir brauchen nicht sogleich an so etwas zu denken«, lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: »Bitte, bleibt zunächst hier stehn, damit Euer Fuß die Spuren nicht verwischt!« Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen und sagte: »Jetzt blickt her, Miß Dryden! Seht Ihr, daß hier der Sand niedergedrückt worden ist?«
Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und bestätigte überrascht:
»Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Ihr denkt, daß er von einem Fuß herrührt?«
»Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr von der Art eines Wasserstiefels, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur eines zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts habt Ihr noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß dieser bereits vollständig eingefallen ist, denn er ist nicht mehr scharf abgegrenzt, wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.«
»Aber solche Stiefel trägt im Schloß niemand«, bemerkte das Mädchen, dem diese eigentümliche Angelegenheit reizvoll wurde.
»Das läßt also vermuten, daß diese Männer hier fremd waren«, lautete seine Antwort. »Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.«
»Ah, wirklich?« fragte sie ängstlich.
»Ja. Die Leute sind vom Schloß hergekommen. Laßt uns sehn, aus welcher Tür!«
Sie verfolgten nun die Spur nach dem Schloß zurück und kamen an den hinteren Eingang, den die Seeleute benutzt hatten.
»Ah!« rief Sternau. »Seht, man hat auf dem Herweg eine andre Richtung eingeschlagen als auf dem Rückweg. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird in der Tat bedenklich. Laßt uns eilen! Wir müssen schnell sehn, wohin sie gegangen sind.«
Sie verfolgten die Spur nach dem Park. Amy Dryden wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblick ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte und mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte. Sie erstaunte, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Tau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und sagte:
»Miß, das ist seltsam. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Seht, dieser Eindruck rührt von einem feinen Herrenstiefel her! Ich werde ihn mir genau abzeichnen.«
Mit diesen Worten zog er ein Zeitungsblatt und einen Bleistift hervor und zeichnete die Umrisse des Stiefels so genau nach der Spur, daß die Umrisse der Zeichnung streng an die Sohle des Stiefels passen mußten.
»So, das ist das eine«, sagte er. »Das andre ist fast noch merkwürdiger. Hier sind zwei Männer grade hintereinander gegangen. Bemerkt Ihr, daß die Absätze ihrer Stiefel tiefer in den Sand eingedrungen sind als die Sohle?«
»Ja, Sir!«
»Sie sind also fester und schwerer aufgetreten als die andern; sie haben eine Last zu tragen gehabt, die nicht leicht gewesen ist. Kommt, Miß Amy, gehn wir jetzt noch weiter!«
Sternau verfolgte die Spur noch längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen; endlich aber blieb er halten und meinte erstaunt:
»Ah, hier hat ein Wagen gestanden!«
»Wirklich?« fragte sie. »Was tut ein Wagen hier zwischen den Büschen?«
»Diese Frage werfe auch ich auf. Es ist hier die Grenze des Parks. Seht Ihr die Gleise? Es waren zwei Pferde vorgespannt. Hier hat man die Last niedergelegt, hier neben dem Wagen.«
Er bückte sich nieder, um den Eindruck, den die Last im weichen Moos gemacht hatte, sorgfältig zu betrachten. Das Moos hatte sich fast vollständig wieder erhoben, und es schien, als ob Sternau nicht mit sich ins klare kommen könne. Da aber fiel sein Blick auf einen niedrigen Schlehdorn; rasch griff seine Hand danach, zog etwas vorsichtig von dem Dorn weg, und dann schnellte er empor. Sein Gesicht war bleich geworden, und erschrocken rief er aus:
»Wißt Ihr, was für eine Last es war, die man vom Schloß holte und in den Wagen warf?«
»Mein Gott, Sir, Ihr erschreckt mich!« flüsterte Amy Dryden. »Was war es denn?«
»Ein Mensch! Seht hier diese wenigen Haare, die ich an dem Dorn gefunden habe! Sie sind hängengeblieben, als man ihn niederlegte. Sie sind schwarz und lang, fast so, wie Señor de Lautreville sie trägt. Sie gehörten keiner Dame, sondern einem Herrn.«
Jetzt kam die Reihe, zu erbleichen, an die Engländerin. »Señor de Lautreville?« fragte sie erschrocken. »Sir, es ist ein Unglück, ein Verbrechen geschehn! Wir müssen fragen, wer von den Schloßbewohnern fehlt.«
»Hm!« antwortete er nachdenklich. »Ungewöhnlich erscheint mir diese Sache allerdings; aber auf ein Unglück oder gar ein Verbrechen möchte ich denn doch nicht so schnell schließen. Wir befinden uns nicht in einem amerikanischen Urwald; wir leben hier in geordneten Verhältnissen, und unser Spursuchen nach Savannenart hat unsre Phantasie erhitzt.«
»Nennt Ihr es auch geordnete Verhältnisse, daß man Euch hier im Park töten wollte, und daß ich mit Roseta überfallen wurde?« fragte sie ängstlich.
»Euer Einwand ist richtig, Miß. Kommt, wir wollen eiligst umkehren!«
Sie gingen nun mit schnellen Schritten dem Schloß zu, dessen Bewohner sich unterdessen von ihrer Ruhe erhoben hatten.
»Bitte, Miß Amy, sagt jetzt niemand etwas!« bat Sternau. »Überlaßt die Angelegenheit einstweilen mir! Vor allen Dingen müssen wir den Grafen schonen. Er ist noch kränklich und darf nicht aufgeregt werden. Begebt Euch nach dem Empfangszimmer und schweigt so lang, bis ich Euch wieder gesprochen habe!«
Amy versprach es ihm und schritt nach oben, während sich Sternau in die Wohnung des Pförtners begab, wo, wie er wußte, um diese Zeit das Schuhwerk sämtlicher Bewohner des Schlosses gereinigt wurde. Er fand den Hausmeister nebst dessen Gehilfen bei dieser Beschäftigung und zog wortlos und ohne ihnen eine Erklärung zu geben, das Zeitungsblatt hervor. Bald fand er einen Herrenstiefel, der genau zu der Zeichnung paßte, die er sich von dem Fußabdruck gemacht hatte.
»Wem gehört dieser Stiefel?« fragte er den Pförtner, der erstaunt diesem ihm unerklärlichen Beginnen zugesehn hatte.
»Er gehört Señor Gasparino Cortejo«, lautete die Antwort.
Hierauf begab sich der Arzt zum Schloßverwalter, um weitere Erkundigungen einzuziehn. Er erfuhr hier, daß alle Bewohner von Rodriganda bereits wach seien, den Leutnant ausgenommen, den Alimpo noch nicht gesehn hatte.
»Kommt, Señor Castellano, wir wollen ihn wecken!« gebot er.
»Wecken?« fragte Alimpo verwundert. »Wird er es nicht übelnehmen, wenn wir ihn in seiner Ruhe stören?«
»Nein.«
Sie fanden die Wohnung des Leutnants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedne Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden; es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, die der Leutnant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.
Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Señor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schloß und erfuhr, daß ihn heute noch niemand gesehn hatte. Kurz entschlossen begab er sich nach der Wohnung Cortejos. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgenzigarette zu rauchen; er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:
»Ah, Señor Sternau! Womit kann ich dienen?«
»Mit einer Auskunft, die ich mir erbitten möchte.«
»So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewöhnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.«
Cortejo sagte diese Worte in strengem Ton und mit einer Miene, die kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren; er trat hart an den Notar heran, faßte ihn scharf und fest in die Augen und erwiderte:
»Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Señor, sobald Eure Antwort so kurz und aufrichtig ist, wie meine Frage: wo ist der Leutnant Señor de Lautreville?«
Diese Frage hatte der Advokat nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich, und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdruck:
»Señor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!«
»Jedenfalls ebensoviel als jeden andern Bewohner Rodrigandas. Der Leutnant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.«
»Verschwunden? So sucht ihn, Señor! Wenn er sich wirklich aus dem Staub gemacht hat, so wundre ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten.«
»Ah, pah, es gibt hier andre Abenteurer als den Leutnant«, entgegnete Sternau ruhig. »Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, der an der Grenze des Parks wartete?«
Der Sachwalter zuckte zusammen. Er hatte geglaubt, daß alles unbemerkt geschehn sei und mußte nach der Frage Sternaus nun vermuten, daß es einen Lauscher gegeben habe. Erschreckt griff er mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhls, um sich darauf zu stützen. Im nächsten Augenblick aber dachte er daran, daß man dann doch jedenfalls versucht haben würde, die Tat zu verhindern; dies war nicht geschehn, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben, und die Frage Sternaus gründet sich auf eine bloße Vermutung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder, und er erwiderte mit möglichster Kaltblütigkeit:
»Seid Ihr verrückt, Señor, oder wandelt Ihr mondsüchtig am hellen, lichten Tag? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!«
Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:
»Señor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein! Bereits seit ich Euch zum erstenmal sah, habe ich Euch unendlich liebgewonnen. Ich habe Euch daher im stillen beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe verdient. Ich will Euch damit jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Wert erkenne. Wenn jedoch meine Liebe zu Euch zu groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme und – erdrücke! Adios, Señor!«
Nach einer kurzen und spöttischen Verneigung verließ er das Zimmer.
Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.
»Was war das?« fragte er sich. »Welch ein Hohn! Dieser Mensch durchschaut mich; er blickt mir in die Karten. Ich muß ihn unschädlich machen. Woher weiß er, daß Fremde hier gewesen sind, die den Leutnant nach dem Wagen geschafft haben, und daß ich dabei war? Ah, ich muß ihn mir unbedingt, koste es, was es wolle, aus dem Weg räumen! Es ziehn sich überhaupt finstre Wolken über mir zusammen; aber ich werde sie zerteilen. Auch der Graf soll einige Tropfen des Gifts haben. Eigentlich sollte ich ihn töten, aber ich will mich überzeugen, ob das Gift wirklich wahnsinnig macht, und der Wahnsinn ist ebenso schlimm wie der Tod. Der Wahnsinnige kommt unter Vormundschaft, und Alfonso wird dann den ungeheuren Besitz antreten, grade so, als ob der Graf gestorben wäre. Ich werde siegen, trotzdem sich Feinde auf allen Seiten gegen mich erheben!«
Während Cortejo auf diese Weise mit sich selber redete, rief Sternau die Bewohner des Schlosses, den Grafen Manuel ausgenommen, zusammen und teilte ihnen mit, daß der Leutnant de Lautreville verschwunden sei. Diese Kunde brachte eine außerordentliche Aufregung hervor, besonders als er erwähnte, daß er im Park Spuren entdeckt habe, die aus eine gewaltsame Entführung schließen ließen. Seinen Verdacht gegen den Advokaten verschwieg er einstweilen noch.
Am tiefsten ergriffen war die Engländerin. Sie beschwor den Arzt, doch alles anzuwenden, um das Dunkel aufzuklären. Er hingegen bat die Anwesenden, den Grafen ja nichts von der Angelegenheit merken zu lassen. Man beriet über die geeignetsten Mittel, den Leutnant wieder aufzufinden, und gab zu, die Möglichkeit sei doch immerhin vorhanden, daß Lautreville sich freiwillig entfernt habe. Ja, es konnte sogar angenommen werden, daß er sich auf einem Morgenspaziergang befinde, während man sich in dieser Weise um ihn sorgte. Die Spuren im Park konnten sich ja auf ein andres und ganz gewöhnliches Ereignis beziehn. Darum wurde beschlossen, den heutigen Tag noch abzuwarten und erst nachher über den Verschwundenen zunächst in Paris, welche Stadt er als seine Garnison angegeben hatte, Erkundigungen einzuziehn.
Sternau war mit diesem Entschluß einverstanden, nahm sich jedoch im stillen vor, nichts zu versäumen, was Licht ins Dunkel bringen könne. Darum erbat er sich von dem Grafen unter dem Vorgeben, daß er in einer unaufschiebbaren Angelegenheit nach Barcelona müsse, einen Urlaub und ließ sich ein Pferd satteln. Nachdem er sich von dem Diener des Leutnants nochmals hatte versichern lassen, daß auch diesem das unbegreifliche Verschwinden seines Herrn ein Rätsel sei, stieg er in den Sattel und verließ das Schloß.
Auch der Advokat hatte mit Alfonso und Clarissa der Beratung im Schloß beigewohnt. Er hatte da erkannt, warum der Verdacht Sternaus grade auf ihn gefallen sei, und nahm sich desto fester vor, den Arzt unschädlich zu machen. Als er hörte, daß für diesen ein Pferd gesattelt werde, vermutete er sofort, daß Sternaus Ritt mit dem Verschwinden des Leutnants im Zusammenhang stehe. Vielleicht wollte der Arzt die aufgefundne Spur weiter verfolgen. Deshalb verließ der Advokat noch vor ihm das Schloß und eilte auf einem Umweg nach der Stelle, wo während der Nacht der Wagen gestanden hatte. Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er seinen Gegner kommen.
Sternau hatte geahnt, daß er beobachtet werde und deshalb den Weg nach dem Dorf eingeschlagen. Dann jedoch war er zur Seite abgebogen und kam nun zu der erwähnten Stelle, um die Spur von neuem aufzunehmen. Er brauchte, um das Wagengleis zu erkennen, gar nicht vom Pferd zu steigen und ritt der Fährte nach, ohne den verborgenen Lauscher zu bemerken. Dieser ließ ihn fortreiten und kehrte nach dem Schloß zurück.
»Es ist so, wie ich dachte«, murmelte er ergrimmt in sich hinein. »Er geht der Spur nach, wird sie aber auf der nächsten Straße, wo so viele Gleise zusammenführen, sicher bald verlieren. Dennoch muß ich schnell handeln, um allen Möglichkeiten zuvorzukommen.«
Als Cortejo das Schloß wieder betreten hatte, begegnete er einem Diener, der die Morgenschokolade nach dem Zimmer des Grafen Manuel trug, und zugleich bemerkte er, daß Gräfin Roseta zum Verwalter ging, jedenfalls um mit Frau Elvira die wirtschaftlichen Vorkommnisse des laufenden Tags zu besprechen.
»Ah,« dachte er, »jetzt ist der Graf allein; also jetzt oder nie!«
Er eilte nach seiner Wohnung, um das Fläschchen, das Kapitän Landola ihm gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.
Der Graf saß allein an seinem Frühstückstisch, und da nur ein Gedeck aufgelegt war, so ließ sich vermuten, daß seine Tochter nicht so bald zurück erwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über den Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehn recht befriedigend, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in guter Stimmung befinde.
»Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen«, begrüßte er den Advokaten bei seinem Eintritt. »Ich wollte Euch nach dem Frühstück holen lassen.«
»Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten«, erklärte der Sachwalter im Ton der tiefsten Ergebenheit.
»Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohl gewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehn. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?«
»Ja, Erlaucht.«
»So sprecht sie aus! Ich will Euch eine Freude bereiten.«
»Don Manuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, der mich selbst angeht«, meinte der Notar mit stolzem Nachdruck. »Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Vertrag für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?«
»Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehl einmal ungehorsam bin. Gebt den Vertrag her!«
Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, die sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona gegangen. Weshalb? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin geschafft worden war?
Der Graf hatte inzwischen das Papier zur Hand genommen und war damit an den Schreibtisch getreten, wo er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, Platz zu nehmen, und begann dann den Vertrag zu lesen. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhang verhüllt, so daß in dem Zimmer ein Halbdunkel herrschte. Aus Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut vor.
Cortejo hatte sich zum Sitz einen Sessel gewählt, der nahe am Frühstückstisch stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andre leise Geräusch unhörbar machte, zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, die in die Schokolade fielen. In diesem Augenblick hatte Don Manuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehn wolle, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.
»Señor, was tut Ihr?« fragte er überrascht.
»Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, die ich verjagte!« erwiderte der Giftmischer gefaßt.
Er hielt das Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin schwachen Augen nicht zu sehn vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um, las weiter und sagte, als er geendet hatte:
»Der Vertrag ist ganz nach meinem Wunsch. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zum Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift gibt!«
Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespanntem Auge den Bewegungen des Grafen. In seinem Blick lag kein Erbarmen, keine milde Regung und keine Reue, sondern nur die kalte, gefühllose Gier des Raubtiers. Jetzt hob der Graf die Tasse zum Mund, setzte sie an, trank und leerte sie bis zum letzten Tropfen, um sie dann wieder abzusetzen. Ein Seufzer der Erleichterung, der Befriedigung klang leise durchs Zimmer; er kam aus dem Mund des Advokaten, der nun mit dem demütigen Ton eines Dieners den Grafen fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe. Dieser antwortete:
»Ich habe allerdings eine kleine Arbeit für Euch, Señor Cortejo. Ich beabsichtige nämlich, den Doktor Sternau länger an mein Haus zu fesseln. Setzt doch einmal eine Bestallung auf, ähnlich wie sie dem Doktor Cielli vorgelegt wurde, mit freier Wohnung und Beköstigung, aber bemerkt dabei ein jährliches Gehalt von dreitausend Duros! Ich werde sie dem Doktor Sternau vorlegen, um zu sehn, ob er sie annimmt.«
»Ich werde mich noch heut an die Arbeit machen, Erlaucht.«
»So sind wir für jetzt fertig. Lebt wohl!«
Der Notar entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung. In seinem Zimmer angekommen, warf er den wieder mit zurückgebrachten Vertrag mit einem höhnischen Lachen auf den Tisch und sagte grollend:
»Dreitausend Duros! Da könnte dieser Kerl leben wie ein Baron. Aber es soll ihm nicht so wohl werden. Die Bestallung wird nicht ausgearbeitet. Ich werde ihm jetzt sofort nach Barcelona folgen. Während meiner Abwesenheit wirkt die Medizin, und auf mich wird kein Verdacht fallen, da ich ja nicht hier gewesen bin.«
Kaum eine halbe Stunde später ritt er auf der Straße dahin, die vor ihm Sternau eingeschlagen hatte. – – –
Abermals eine halbe Stunde später kam Alimpo aus seiner hochgelegenen Wohnung herab, um sich für heut die Befehle des Grafen zu erbitten. Er gehörte zu denjenigen, die sich nicht anmelden zu lassen brauchten, und trat daher wie gewöhnlich, ohne den Diener voranzusenden, ins Zimmer. Entsetzt prallte er zurück: der Graf kauerte wie ein Tier in der äußersten Ecke und stieß ein klägliches Wimmern aus.
»Oh, tut mir nichts!« bat er jammernd. »Ich weiß ja nicht, wer – wer ich bin!«
Der Verwalter war kein Held, aber die Liebe zu seinem Herrn gab ihm Mut, zu bleiben.
»Erlaucht! Don Manuel!« rief er. »Ich komme, um zu fragen –«
»Oh, fragt doch nicht!« bat der Graf, ihn unterbrechend. »Ich weiß – weiß – weiß es ja nicht mehr!«
»Mein Gott!« rief Alimpo. »Was ist hier geschehn! Mein lieber, teurer Don Manuel, steht doch auf! Erlaubt, daß ich Euch aufrichte!«
Damit näherte er sich dem Grafen; dieser drückte sich jedoch noch tiefer in die Ecke hinein, streckte seine Hände abwehrend aus und schrie:
»Bleibt fort von mir! Ich weiß es ja nicht – nicht!«
»Aber Erlaucht, kennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin ja Euer treuer Alimpo!«
»Alimpo? A–lim–po?« fragte der Graf sinnend, richtete sich dann langsam empor, trat einen Schritt vor und fügte hinzu: »Alimpo, ja richtig! Ich bin der treue Alimpo. O ja, jetzt weiß – weiß ich es. Ich bin Alimpo!«
Seine starren Augen erhielten einen belebteren Ausdruck. Er schritt leise im Zimmer auf und ab, ohne den Verwalter weiter zu beachten, und murmelte bald mit freudigem, bald aber auch mit schmerzlichem Ausdruck:
»Ja, ja, ich bin der treue Alimpo, jetzt weiß ich es. Mein Name ist Alimpo!«
Nun geriet der Verwalter in solche Angst, daß er schleunigst zu seiner Elvira fortlief, die er beim Plätten eines Wäschestücks fand.
»Elvira!« rief er, vom schnellen Laufen außer Atem.
»Was gibts?« fragte sie.
»Oh, meine Elvira!«
Sie erhob die Augen von ihrer Arbeit und ließ bei dem Besorgnis erregenden Anblick ihres Mannes die glühend heiße Plättglocke mit einem lauten Krach zu Boden fallen.
»Heilige Madonna!« jammerte sie. »Was ist geschehn? Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Alimpo!«
»Ja, ja, ganz verzweifelt!« ächzte er, nach Luft schnappend. »Über den Grafen. Er ist – oh, ach! Er ist – er ist verrückt geworden!«
Elvira trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um etwas zu sagen; aber das Wort kam nicht heraus, und der Mund blieb offen stehn.
»Ja, ja, verrückt geworden, völlig verrückt!« ergänzte der Verwalter.
Erst jetzt, bei der Wiederholung des Schrecklichen fand Elvira die Sprache wieder. Aber es war kein Klagelaut, den sie ausstieß, sondern sie sagte in einem strengen, entrüsteten Ton:
»Mein teurer Alimpo, du selber bist verrückt!«
»Ich?!« fragte er beinahe zornig. »Höre, liebe Elvira, solche Anzüglichkeiten muß ich mir verbitten! Der Graf ist in der Tat wahnsinnig!«
»So! Und wer hat dir dies weisgemacht?«
»Niemand. Ich habe es selber gesehn.«
»Unmöglich! Wer weiß, was du gesehn hast, mein teurer Alimpo!«
Ein solcher Zweifel war zuviel für ihn. Er faßte seine dicke Gattin beim Arm, um sie aus dem Zimmer zu ziehn, und sagte:
»Komm mit, Elvira, du sollst sehn, daß ich recht habe!«
»Ja, gleich!« antwortete sie. »Laß mich nur erst den Plättstahl aufheben!«
Dann nahm sie die Plättglocke vom Boden auf, in den diese bereits einen schwarzen Fleck gesengt hatte, brachte sie in Sicherheit und folgte ihrem Mann nach dem Zimmer des Grafen. Dort fanden sie diesen noch immer mit leisen, heimlichen Schritten im Raum auf und ab gehend und dabei vor sich hinsagend:
»Ja, ja, tut mir nichts, denn jetzt weiß – weiß ich es; ich bin der treue Alimpo!«
Der Graf sah so verstört aus, daß kein Zweifel möglich war: plötzlicher Wahnsinn sprach aus ihm.
Die Verwalterin hatte kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, so schlug sie die Hände zusammen und schrie:
»O heilige Madonna, es ist wahr; er ist wahnsinnig!«
Darauf sank sie, keiner Bewegung fähig, in einen Stuhl. Der Graf hatte ihre Stimme gehört; er wandte sich mit einem unheimlichen, gläsernen Blick um.
»Wahnsinnig?« fragte er. »Wer? Ich bin Alimpo – der treue Alimpo!«
Dann setzte er sein Hinundhergehn wieder fort.
»Laufe, laufe, Alimpo!« stöhnte Elvira. »Hole schnell die gnädige Condesa herbei!«
Alimpo folgte diesem Gebot und fand nach einigem Suchen Roseta im Zimmer der Engländerin. Auch sie sah es ihm sogleich an, daß etwas Böses geschehn sein müsse, und fragte ihn:
»Welche Eile, Alimpo! Was gibts?«
»Oh, meine gnädige Condesa, erschreckt ja nicht!« bat er, beinahe zitternd.
»Mein Gott, das klingt ja höchst beunruhigend! Rede schnell, Alimpo; was ist geschehn?«
»Etwas Fürchterliches, etwas ganz Fürchterliches!«
Roseta war von ihrem Sitz aufgesprungen und faßte den Verwalter bei der Schulter.
»Es ist – es ist jemand – verrückt geworden!« stammelte er.
»Verrückt? Um Gottes willen, wer denn?«
»Oh, meine teure Condesa, verzeiht mir, daß ich es Euch sagen muß! Es wird Euch großen Schmerz bereiten. Ich spreche von Don Manuel.«
»Mein Vater?« fragte Roseta, starr vor Erstaunen.
»Ja.«
Da lächelte sie und entgegnete: »Mein guter Alimpo, da liegt jedenfalls ein gewaltiger Irrtum vor.«
»Nein, nein«, beteuerte er. »Don Manuel ist wirklich wahnsinnig. Meine Elvira hat ihn auch gesehn. Sie ist sogar noch jetzt bei ihm.«
»Wie zeigt sich denn sein Wahnsinn?« fragte Roseta, noch immer lächelnd.
»Er knurrte wie ein Hund in der hintersten Ecke, als ich zu ihm kam. Er hatte starre, angstvolle Augen; er wimmerte und bat mich, ihm ja nichts zu tun. Er hatte vergessen, wer er ist, jetzt aber hält er sich für mich, für den Verwalter Alimpo.«
Roseta blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Lauf mit sich fort. Der Verwalter folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß Elvira noch immer händeringend auf dem Stuhl; der Graf aber schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte fortwährend dieselben Worte.
Roseta hatte noch immer an irgendeinen drolligen Irrtum geglaubt. Desto größer aber war der Schlag, der sie beim Anblick ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Drydens. Eine Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.
»Vater, um Gottes willen, was hast du, was ist mit dir?« rief sie.
Der Graf blieb stehn und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an. »Was mit dir ist?« fragte er. »Ich weiß es nicht. Du brauchst mir nichts zu tun, denn ich bin ja der treue Alimpo!«
Er sprach diese Worte langsam und tonlos.
»Vater, Vater!« jammerte sie, die Arme um ihn schlingend. »Was ist geschehn? Du bist krank. Kennst du mich nicht?«
»Kennen?« fragte er, leise mit dem Kopf schüttelnd. »Ich kenne niemand. Ich bin Alimpo.«
»Nein, du bist nicht Alimpo«, rief sie. »Du bist mein Vater, mein lieber Vater. Komm und besinne dich!«
Mit lautem, herzzerbrechendem Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichele ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die magere Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerz an ihn. Er aber blieb teilnahmlos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:
»Du brauchst mich nicht zu erdrücken, du brauchst mir nichts zu tun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja, der treue Alimpo!«
Das war zuviel. Schluchzend sank Roseta auf den Diwan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Verwalter nebst seiner Frau weinten trostlos. Der Graf aber stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen Augen an und sagte:
»Weint nicht! Ich habe euch ja nichts getan. Ich bin der treue Alimpo.«
»Oh, mein Gott, was sollen wir tun?« jammerte Roseta.
»Ist Señor Sternau denn nicht da?« fragte Amy unter Tränen.
Da sprang Condesa Roseta auf.
»Sternau!« rief sie. »Oh, wie konnte ich den vergessen! Ja, nur er allein kann helfen, er allein wird helfen. Aber er ist nach Barcelona. Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.«
»Nach Barcelona?« fragte der Verwalter, bereits auf dem Sprung. »Wo ist er da zu finden?«
»Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde totreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.«
Roseta dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte jetzt an niemand, als nur an den Geliebten. Der Verwalter eilte nach den Ställen, und nach wenigen Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort. – –
Graf Alfonso stand im Zimmer der Señora Clarissa am Fenster. Als er die Reiter sah, wandte er sich an seine Mutter mit der Bemerkung:
»Es muß etwas Ungewöhnliches geschehn sein. Der Graf sendet soeben drei Eilboten ab.«
»Ah! Wohin?«
»Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.«
»Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst du dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unsrer Lage ist alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereignis wie die Absendung von drei Boten zugleich. Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Alfonso öffnete ein Fenster und winkte Alimpo herauf, der in diesem Augenblick aus den Ställen zurückkehrte.
»Wer hat die drei Reiter abgesandt?« fragte er, als der Verwalter eingetreten war.
»Ich, gnädiger Herr«, antwortete Alimpo.
»Wohin?«
»Nach Barcelona.«
»In welchem Auftrag?«
»Die gnädige Condesa hat es befohlen.«
»Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!«
»Sie sollen Señor Sternau suchen.«
Der Verwalter hatte nicht die geringste Achtung für Alfonso; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm förmlich abkaufen.
»Warum soll der Arzt gesucht werden?« fragte der junge Graf weiter.
»Seine Erlaucht, Don Manuel, sind plötzlich erkrankt. Ich glaube, daß er wahnsinnig geworden ist.«
»Wahnsinnig? Donnerwetter!« Diesen Fluch stieß Alfonso im Ton des Schrecks aus; ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehr leicht bemerken können, daß sein Auge wie unter einer unerwarteten Freude aufleuchtete. Dann sagte er zum Verwalter: »Es ist gut. Ich werde sofort erscheinen.«
Kaum hatte der sich entfernende Alimpo die Tür hinter sich geschlossen, so sprang Clarissa auf, faßte den jungen Grafen bei der Hand und jauchzte:
»Gewonnen, Alfonso, gewonnen! Weißt du, wer diesen Wahnsinn hervorgebracht hat? Dein Vater!«
»Ah! Nicht möglich! Kann man Menschen wahnsinnig machen, die vor einer Stunde noch gesund waren?«
»Jawohl. Dein Vater hat mir die Einzelheiten nicht mitgeteilt, aber er sagte mir noch gestern abend, daß heute mit dem Grafen etwas geschehn werde.«
»Alle Teufel, das ist klug! Es ist kein Mord, und doch bin ich der Erbe!« –
Während dies in Rodriganda geschah, ritt der Advokat auf der Straße nach Barcelona. Aber nicht lange, so bog er auf einen Fußweg ein. Dieser führte über Dörfer und Meierhöfe. Sternau war hier unbekannt, er hatte, grade wie der Wagen, dessen Spur er folgte, die Straße einhalten müssen. Schlug nun der Advokat diesen Richtweg ein, so kam er dem Arzt um eine geraume Zeit zuvor und konnte sorgen, daß es diesem nicht gelang, etwas zu erfahren.
Der Wagen war von dem Wirt des Gasthauses » L'Hombre grande« geborgt worden. Zu diesem ritt der Advokat, als er in Barcelona angekommen war, und sagte ihm, daß er keine Auskunft geben solle, wenn er gefragt werde, an wen er den Wagen verliehn habe. Dann begab er sich nach dem Hafen, um Kapitän Landola aufzusuchen, den er an Bord anwesend fand.
»Ah, Señor Cortejo«, begrüßte ihn dieser. »Ich habe Euch nicht so bald erwartet, aber doch ist es mir lieb, daß Ihr kommt, Ich bin nämlich fertig und habe auch meine Papiere alle in Ordnung gebracht. Ich kann also absegeln.«
»Das ist gut, sehr gut.«
»Sehr gut? Ich hoffe nicht, daß etwas Unangenehmes geschehn ist.«
»Nein. Ich habe Euch nur zu sagen, daß man Euern Wagen bemerkt hat und auch vermutet, wen Ihr aufgeladen habt. Es kommt in vielleicht einer Stunde jemand nach Barcelona, der Eurer Fährte folgt.«
»Schön. Er mag ins Wasser springen und mir nachschwimmen. Habt Ihr Zeit zum endgültigen Abschluß?«
»Nun, der ist in einer Viertelstunde beendet, und dann stechen wir sofort in See. Die Flut ist bereits eingetreten.«
»Und Euer Gefangner?«
»Befindet sich sehr wohl. Er liegt unten im Kielraum und hat bis jetzt weder sprechen, noch essen oder trinken dürfen.«
»Er muß sterben! Denkt an unsre Abmachung!«
»Seid unbesorgt! Kommt herab zur Kajüte, Señor!«
Eine halbe Stunde später befand sich Cortejo wieder an Land, und das Schiff »La Péndola« lichtete den Anker, um seine Reise anzutreten.– – –
Als Doktor Sternau Rodriganda verlassen hatte, führte ihn die Spur des Wagens, der er folgte, nach der großen Heerstraße, die Lerida mit Barcelona verbindet. Hier verlor sich diese Spur unter den vielen Gleisen der Straßen, so daß ein Verfolgen nicht denkbar war.
Es gab für Sternau nur einen Anhaltspunkt, er kannte aus den Fußtapfen, die er im Park beobachtet hatte, die ungefähre Anzahl der Leute, die auf dem Wagen Platz genommen hatten. Doch war dies auch sehr unsicher.
Glücklicherweise hielt da, wo der Weg von Rodriganda her in die Heerstraße einbog, ein Schäfer, der seine Merinoschafe auf dem abgebauten Acker weidete. Er hatte eine Karrenhütte bei sich, und so ließ sich vermuten, daß er auch während der Nacht auf dem Feld gewesen sei. Sternau ritt zu ihm hin und fragte nach einem kurzen Gruß:
»Hast du in vergangner Nacht hier geschlafen?«
»Ja, Señor«, lautete die Antwort.
Der Arzt hielt ihm ein Silberstück entgegen und fragte weiter: »War es hier während der Nacht sehr belebt?«
»Nein. Nur ein einziger Wagen kam vorbei. Da von der Straße her nach Rodriganda zu.«
»Wieviel Uhr?«
»Eine Stunde vor Mitternacht, vielleicht auch bereits früher.«
»Kehrte er zurück oder nicht?«
»Ja. Etwa zwei Stunden später.«
»Wer saß darin?«
»Es waren mehrere.«
»Kanntest du einen?«
»Nein.«
»Was waren für Tiere angespannt? Maultiere?«
»Nein, Pferde, ein Brauner und ein Schimmel.«
»Hast du nicht gesehn, wie die Männer gekleidet waren?«
»Ich glaube, sie hatten Jacken an und Mützen auf, wie man sie bei den Seeleuten sieht.«
»Gut, ich danke dir. Mit Gott!«
Sternau ritt weiter. Was er gehört hatte, gab ihm doch einigen Anhalt. Er hielt nun bei allen an der Straße liegenden Einkehrhäusern an und erkundigte sich, ob der Wagen hier vorübergefahren sei, konnte aber nichts Genaues erfahren. Auf diese Weise kam er sehr langsam vorwärts. Endlich, als er vielleicht drei Stunden weit geritten war, gelangte er an eine einsam liegende Venta, vor der mehrere Krippen standen, zum Zeichen, daß man hier mit Pferd und Geschirr Obdach erhalten könne. Er stieg ab, band sein Tier an und trat in die niedrige Stube, in der er sich ein Glas Wein geben ließ.
Der Wirt war ein alter freundlicher und sehr gesprächiger Mann; er begann sofort mit Sternau eine Unterhaltung über das Wetter und tausend Dinge, die dem Arzt höchst gleichgültig waren. Endlich fragte der Alte:
»Wohin will der Señor reiten?«
»Nach Barcelona vielleicht.«
»Aha! Geschäfte unterwegs?«
»Ich suche einen Wagen, der hier vorübergefahren sein muß.«
»Einen Wagen? Hm! Vielleicht habe ich ihn gesehn. Ich bin alt, kann nicht mehr viel verrichten und sitze daher stets hier am Fenster. Was war es für ein Wagen?«
»Es waren ein Brauner und ein Schimmel vorgespannt, und mehrere Männer saßen drauf, die wie Seeleute gekleidet gewesen sind.«
»Aha!« nickte der Alte. »Wann ist dies geschehn?«
»Vielleicht drei Stunden vor Mitternacht sind sie hier aufwärts und ungefähr vier Stunden später wieder abwärts vorübergekommen.«
»Stimmt!« nickte der Wirt.
»Habt Ihr sie vorbeifahren sehn?«
»Nein, Señor, es war beidemal finster, als sie vorüberkamen. Aber das erstemal, als sie aufwärts fuhren, sind sie bei mir eingekehrt.«
»Ah! Ich würde Euch dieses Goldstück geben, wenn Ihr mir sagen könntet, wem der Wagen gehört.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten vor Freude auf. Seine Venta war ein kleines, armseliges Häuschen, er schien nicht wohlhabend zu sein, und das Goldstück mußte ihm daher wohl recht willkommen sein.
»Gebt her, Señor!« sagte er schmunzelnd. »Für dieses Goldstück werdet Ihr wohl noch mehr erfahren, als Ihr verlangt habt. Der Wagen gehört einem Wirt in Barcelona. Ich kann es beschwören.«
»War er selber mit dabei?«
»Wird sich hüten. Mit dem Landola ist nicht gut Kirschen essen.«
»Wer ist Landola?«
»Ein Seekapitän, dessen Schiff ›La Péndola‹ heißt.«
»Was hat dieser Mann mit dem Wagen zu tun, den ich meine?«
»Heilige Madonna! Er saß ja drauf, er machte den Kutscher. Er wird wohl nach Rodriganda zu Señor Gasparino Cortejo gefahren sein.«
»Alle Wetter! Kennen diese beiden einander?«
»Das versteht sich. Sie machen sogar zusammen Geschäfte, wie sich die Leute so in die Ohren flüstern. Dieser Henrico, der übrigens ein Amerikaner sein soll, ist ein ganz verzweifelter Mensch. Ein Menschenleben gilt ihm nichts. Er soll ein halber Pirat sein, vielleicht ein ganzer; auch sagt man sich, daß er zuweilen eine Ladung Ebenholz Neger mit verhandelt.«
»Und dabei soll Cortejo beteiligt sein?«
»Ja«, nickte der Alte. »Ich werde es Euch erklären, Señor. Kennt Ihr den Grafen von Rodriganda?«
»Ein wenig.«
»Dieser Graf Manuel von Rodriganda litt seit langen Zeiten an den Augen, wurde schließlich blind und mußte sich ganz auf seinen Sachwalter verlassen.«
»Das läßt sich leicht erklären.«
»Der Graf ist unermeßlich reich. Und der Sachwalter, nämlich dieser Cortejo, ist ein Schurke. Nun aber passen dieser Reichtum und dieser Schurke so gut zusammen, wie das Lamm zum Geier, von dem es zerrissen und gefressen wird. Verstanden?«
»Sehr gut!«
»Damit nun niemand merken soll, wie reich Cortejo mit dem Reichtum des Grafen geworden ist, hat er seinen Raub auf dem Seehandel angelegt. Er und Kapitän Landola besitzen das Schiff gemeinsam und teilen den Gewinn.«
»Wißt Ihr das genau?«
»Man sagt es. Aber ich habe auch gestern davon pfeifen hören, als die Matrosen hier bei uns einkehrten. Sie flüsterten so einiges, was ich recht gut verstanden habe, obgleich es nicht für mein Ohr bestimmt war.«
»Habt Ihr nicht gehört, wem die gestrige Fahrt gegolten hat?«
»Nein. Aber zu wem sollte Landola gefahren sein, wenn nicht zu Cortejo?«
»Gut. Hier ist das Goldstück, mein Lieber. Ihr habt es ehrlich verdient.«
Der Wirt steckte das Geld mit freudig glänzender Miene ein. Sternau bezahlte außerdem die kleine Zeche und stand eben im Begriff aufzubrechen, als sich draußen eiliger Hufschlag vernehmen ließ. Sternau schaute hinaus und erkannte einen Reitknecht aus Rodriganda, der auf schweißbedecktem Pferd dahergesprengt kam und sofort anhielt, als er das Pferd erblickte, das Sternau draußen angebunden hatte. Dann sprang er ab und kam herein.
»O welch ein Glück, daß ich Euch finde, Señor Doktor!« rief er, als er den Arzt sah. »Die gnädige Condesa sendet mich. Wir sind zu dreien ausgeritten und haben uns getrennt, um Euch ja nicht zu verfehlen.«
»Dann muß die Angelegenheit höchst wichtig sein. Was ist es?«
»Don Manuel ist plötzlich sehr erkrankt.«
»Nicht möglich! Auf den Augen?« fragte Sternau erschrocken.
»Nein. Hier!«
Der Knecht deutete nach dem Kopf, so daß der Wirt es nicht bemerkte.
»Da? Nicht möglich! Das muß ein Irrtum sein!«
»Es ist so, Señor!«
»Trinkt schnell ein Glas Wein, dann gehts nach Rodriganda zurück!«
Als sie aufgestiegen waren, fragte Sternau den Reitknecht nach den Einzelheiten und erfuhr da auch, daß der Advokat das Schloß zu Pferd verlassen habe. Da hielt er sein Tier an und fragte:
»Könnt Ihr auf Rodriganda entbehrt werden?«
»Jetzt? Ja.«
»Wollt Ihr für mich einmal nach Barcelona reiten?«
»Sehr gern, Señor.«
»So reitet! Ihr sollt Euch nämlich im Hafen erkundigen, an welchem Tag das Kauffahrteischiff ›La Péndola‹, Kapitän Henrico Landola, in See geht. Werdet Ihr dies ermitteln können?«
»Oh, sicher!«
»Aber Gasparino Cortejo kann auch in Barcelona sein, und er darf keineswegs erfahren, wonach Ihr Euch erkundigen sollt. Ich werde Euch gut belohnen, wenn Ihr mir eine sichre Nachricht bringt.«
Der Reitknecht drehte sein Pferd um und ritt davon; der Arzt aber sprengte in gestrecktem Galopp auf Rodriganda zu.
Er legte die drei Wegstunden in kaum einer zurück. Als er an der Rampe vor seinem Tier stand, kam der Verwalter in eigner Person herbei, um das Pferd in Empfang zu nehmen.
»Oh, Señor, wie so etwas geschehn kann!« klagte er. »Verrückt, vollständig verrückt!«
»Es ist nicht glaublich! Wo befindet er sich?«
»In seinem Schlafzimmer. Die gnädige Condesa hat sich da eingeschlossen und läßt keinen Unberufenen eintreten. Graf Alfonso erklärte sich bereits zum Herrn von Rodriganda und wollte einen Irrenarzt kommen lassen: sie aber hat es nicht zugegeben.«
Sternau nickte nur und eilte die Treppe empor. An der Vorzimmertür standen zwei Diener Wache, die ihn sofort einließen. Als er leise ins Krankenzimmer trat, sah er den Grafen mit verbundenem Kopf im Bett liegen. Bei ihm saß Roseta in Tränen, und in ihrer Nähe die Engländerin, die liebevoll an ihrem Schmerz teilnahm.
Sternau schritt zu dem Kranken. Er nahm den Umschlag von der Stirn des Grafen, befühlte dessen Puls und ließ sich dann von den beiden Damen den Hergang erzählen, soweit sie ihn kannten. Dies geschah mit leiser Stimme, unterdessen aber bat der Graf immerfort:
»Tut mir nichts! Ich bin – ich bin der treue Alimpo!«
Nun untersuchte Sternau das Atmen und die Augen des Kranken. Schließlich trat er an das untere Ende des Bettes, so daß der Kranke ihn vollständig erkennen konnte, und fragte:
»Wer seid Ihr?»
»Ich bin – bin Alimpo«, entgegnete der Graf nachdenklich.
»Das ist nicht wahr!« sagte Sternau streng. »Besinnt Euch! Ihr seid – Ihr seid – nun?«
»Ich bin – bin Alimpo!« lautete in kläglichem Ton die Antwort.
»Schweig, Schurke! Du lügst!« donnerte da der Arzt den Kranken mit der ganzen Macht seiner Stimme an. »Du bist nicht Alimpo! Gestehe, wer du bist!«
Dabei schlug Sternau mit der Faust auf die Pfoste des Bettes, so daß dieses krachte. Die beiden Damen waren erschrocken zusammengefahren; der Kranke versuchte, sich mit dem Kopf unter der Decke zu verbergen; Sternau jedoch zog ihm diese hinweg und gebot ihm nunmehr mit fast brüllender Stimme:
»Nun, wirds bald? Ich will wissen, wer du bist!«
Da krümmte sich der Kranke herüber und hinüber und wimmerte endlich die Antwort:
»Tut mir nichts, denn ich bin ja wirklich der treue Alimpo!«
Erst jetzt wandte sich Sternau wieder vom Bett ab und den beiden Damen zu:
»Verzeihung; ich konnte nicht anders! Bitte schnellstens Wasser, Tücher und Gefäße zum Aderlassen und Erbrechen.«
»Ists gefährlich?« fragte Roseta angstvoll.
Sie erhielt gar keine Antwort, sondern er schob sie rasch zur Seite und eilte hinaus.
»O mein Gott, es ist keine Rettung!« hauchte sie. »Carlos würde den Vater nicht so angedonnert und mich nicht so zur Seite geschoben haben! Er will keine Sekunde versäumen; das ist der Beweis, wie schlimm es steht.«
Aber trotz ihrer Verzweiflung gab sie Befehl zum schleunigen Herbeischaffen des Nötigen, und als Sternau nach zwei Minuten wiederkehrte, lag alles bereit. Er hatte eine kleine Hausapotheke, das Verbandzeug und mehreres andre geholt.
»Was hat der Graf heute genossen?« fragte er.
»Eine einzige Tasse Schokolade«, antwortete Roseta.
»Wer hat diese Schokolade bereitet?«
»Ich selber.«
»Wer brachte sie ihm?«
»Ein Diener.«
»Don Manuel ist vergiftet worden!«
Sternau sagte dies mit solcher Bestimmtheit, daß die Gräfin in einen Sessel sank.
»Herr, mein Heiland!« stöhnte sie.
»Und zwar mit dem Pohon Upas, einem fürchterlichen Gift. Ich kenne seine Wirkung. Ich sollte es Euch verschweigen. Daß ich es Euch aufrichtig sage, mag Euch beweisen, daß ich noch Hoffnung habe. Befehlt schnell Diener her, zum Aderlassen!«
Als der Graf die vielen Vorbereitungen um sich her erblickte, wurde er vor Angst still und ließ alles mit sich geschehn. Er erhielt zunächst ein Brechmittel, das sofort wirkte, aber ihn sehr anstrengte, ohne den kleinsten Teil der Schokolade zurückzubringen.
»Ich dachte es«, sagte Sternau. »Es sind fünf Stunden seit dem Genuß des Getränks vergangen.«
Hierauf ließ er den Kranken zur Ader, und zwar nahm er dem Grafen das höchste Maß von Blut, bis zu dem er nach den gegenwärtigen Umständen gehn konnte. Sodann befahl er, einige Fliegen zu fangen. Als dies unter einiger Verwunderung über diese sonderbare Forderung geschehn war, tat er die Fliegen in ein Glasgefäß, auf dessen Boden er von dem Blut des Grafen getröpfelt hatte, und forderte die Damen auf, die kleinen Tiere zu beobachten. Die Fliegen naschten von dem Blut, begannen zu beben und zu zittern, krümmten sich und starben.
»Ich habe mich nicht getäuscht, es ist Pohon Upas. Es gibt verschiedne Bereitungen und Zusammensetzungen dieses Gifts, und es kommt darauf an, das richtige Mittel zu treffen. In der Zusammensetzung, an die ich jetzt denke und die ich auf Java kennenlernte, macht es, wenn man zwei bis drei Tropfen genießt, wahnsinnig; fünf bis sechs Tropfen geben den Tod. Der Graf hat wohl nur zwei Tropfen erhalten, und ich bin überzeugt, daß man beabsichtigte, ihn wahnsinnig zu machen.«
Diese Worte brachten einen allgemeinen Schreck hervor, und es dauerte lange, ehe sich die Aufregung legte, besonders da niemand wußte, daß außer dem Diener jemand, den man in Verdacht nehmen konnte, beim Grafen gewesen war.
»Und Ihr glaubt, daß der Vater noch zu retten ist?« fragte Roseta ängstlich.
»Ja«, erwiderte Sternau mit Zuversicht. »Dieses Gift hat in kleinen Gaben die Eigenschaft, daß es wahnsinnig macht, indem es das Gedächtnis aufhebt. Als der Verwalter den Grafen getroffen hat, begann grade das Gedächtnis Don Manuels zu schwinden. Er hat nur die letzte, menschliche Erscheinung, die ihm vor Augen kam, festgehalten und glaubt daher, daß er Alimpo sei. Einen andern Namen kennt er nicht. Ich mußte sehn, ob die Erinnerung vollständig und spurlos geschwunden sei; darum sprach ich so streng zu ihm, um auch die Angst wirken zu lassen. Es war jedoch vergeblich. Die zwei unendlich fein zerteilten Tropfen des Gifts sind bereits in sein Blut und Hirn übergegangen. Ich entlaste nun das Hirn durch spanische Fliegen und Senfteige und entgifte das Blut teilweise durch eine möglichst große Blutentziehung. Das nun noch in dem Körper befindliche Gift werde ich durch ein Gegengift bekämpfen, wenn auch nicht durch jenes schreckliche Mittel, das man hierzu auf Java verwenden soll.«
»Wie meint Ihr das, Carlos?«
»Die Zauberer und Medizinmänner der Javaner behaupten, das Gegengift für Pohon Upas werde nur durch den Speichel eines bis zum Schäumen gekitzelten Menschen gewonnen.«
»Und Ihr glaubt dies wirklich?« fiel Miß Amy ein. »Sollte tatsächlich die Qual solcher Unglücklicher einen Giftstoff, oder in diesem Fall ein Gegengift erzeugen?«
»Wer kann das sagen! Solch grausame Versuche sind uns Europäern verschlossen, obwohl gerade der schurkische Giftmischer es verdient hätte, dafür verwendet zu werden. Möglich ist es natürlich, daß sich bei einer derartigen Marter irgendwelche giftige Erzeugnisse bilden. Man braucht dann nur an die Tollwut zu denken, die vom Hunde durch den Biß auf den Menschen und vom Menschen in gleicher Weise auf seine Mitmenschen übertragen wird. Auch das berüchtigte Aqua Tofana der Borgias wird von manchen auf ähnliche Ursprünge zurückgeleitet.«
»Ja, um Gottes willen, Señor, was gedenkt Ihr aber zu tun?«
»Für mich bleibt die Hauptsache, daß ich die Anwendung von Pohon Upas erkannt habe. Dieses ist hauptsächlich aus Alkaloiden zusammengesetzt und enthält die schweren Gifte Strychnin und Brucin. Hiergegen muß ich ankämpfen und infolgedessen vor allem tanninhaltige Gegenstoffe verwenden. Ich gedenke eine sorgsam abgewogene Mischung aus Kaffeepulver, Teeblättern sowie Katechu mit Capsicum, Opium und Jod herzustellen und mit ihr mein Heil zu wagen. Zunächst muß ich jedoch bemerken, daß ich das Gegengift keineswegs schon heute oder morgen anzuwenden brauche. Der Graf muß sich erst von dem Aderlaß erholen. Für jetzt bitte ich deshalb um Schonung des Kranken; er scheint zu schlafen.« –