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Wie der Mensch von dem Boden abhängig ist, auf dem er lebt, so ist auch der Charakter des echten Mexikaners dem seines Landes ähnlich. Der Boden des Landes ist zum großen Teil vulkanisch, und so glüht auch im Innern des Bewohners ein Feuer, das oft mächtig und verzehrend emporflammt. An den Küstenstrichen herrschen tödliche Fieber und so sind auch die politischen Verhältnisse des Landes krankhaft und höchst unzuverlässig. Das ganze Leben und Treiben der Nation ist reich phantastisch und wechselvoll, und man kann in einer Woche dort mehr Abenteuer erleben als bei unsern geordneten Verhältnissen in zehn Jahren.
Die Hauptstadt des alten Aztekenreichs, einstmals der Sitz des unglücklichen Herrschers Montezuma, heißt ebenso wie das Land selbst: Mexiko. Dort erhob sich in der Nähe des schönsten Paseo (Baumgang) einer der reichsten Paläste, der dem Grafen Fernando de Rodriganda y Sevilla, einem der bedeutendsten Großgrundbesitzer des Landes, gehörte.
Dieser saß in seinem Arbeitszimmer und ging die Rechnungen durch, die ihm sein Sekretär Pablo Cortejo vorgelegt hatte. Der Sekretär schien sich gegenwärtig in keiner rosigen Laune zu befinden. Seine lange, hagere Gestalt war demütig zusammengeknickt. Seine bleichen, schmalen Lippen preßten sich unmutig nach innen, und aus seinen kleinen Augen funkelte zuweilen unbemerkbar, aber desto giftiger ein Blick zum Grafen hinüber, der mit gerunzelten Brauen auf die Papiere schaute.
»Wahrlich, das ist nicht gut,« sagte Don Fernando, »das kann ich nicht billigen!«
»Junges Blut hat keine Tugend!« entgegnete Cortejo entschuldigend.
Der Graf sah ihn ernst an und antwortete: »Oh, ich denke, daß junges Blut zwar rauscht und schäumt, aber doch auch Tugend besitzen muß. Und ist das Tugend, was ich hier sehe?«
»Es ist eine kleine Schwäche!«
»So, Ihr nennt es also eine kleine Schwäche, wenn mein Neffe an einem einzigen Abend zwölftausend Pesos im Spiel verliert?«
»Er hat auch oft ähnliche Summen gewonnen, Don Fernando.«
»Ah, also spielt er oft? Er ist ein Gewohnheitsspieler?« fragte der Graf in zorniger Verwunderung. »Ich werde ihm die Zügel kurzen lassen.«
Er blätterte weiter.
»Was ist das?« fragte er. »Ist diese Angelegenheit nicht geordnet worden?«
»Don Alfonso hat die Summe, die Ihr ihm dazu gewährtet, anderweit verwenden müssen. Wozu, hat er mir nicht mitgeteilt; er ist mir ja keine Rechenschaft schuldig.«
»Rechenschaft allerdings nicht,« sagte der Graf, »aber ich glaubte, er könnte es Euch so im Vertrauen mitgeteilt haben. Es will mir überhaupt scheinen, als ob mein Neffe Euch mehr Vertrauen schenkte als mir.«
»Oh, Don Fernando, das scheint nur so! Ich erfreue mich allerdings einigen Vertrauens von seiten Don Alfonsos, aber –«
»Und als ob Ihr«, fuhr der Graf mit scharfer Stimme fort, »von diesem Vertrauen nicht den rechten Gebrauch machtet!«
»Erlaucht!«
»Schon gut. Wenn mein Neffe in so vielen Stücken nicht mein Wohlgefallen besitzt, so seid Ihr es, auf den ich einen Teil der Schuld zu schieben habe. Wollt Ihr etwa nach so langjähriger Dienstzeit entlassen werden?«
Die Brauen des Sekretärs zogen sich drohend zusammen, nahmen aber im nächsten Augenblick wieder ihren gewöhnlichen Ausdruck an. Und auch die Antwort erklang im untertänigsten Ton:
»Darf ich mir vielleicht die Ansicht erlauben, daß Erlaucht sich irren?«
»Ich irre mich nicht«, sagte der Graf streng. »Warum liegt mein Neffe während des ganzen Tags bei Euch? Warum seid Ihr bei ihm, sobald ich Euer bedarf? Ihr wißt, daß ich nicht gern und nicht viel spreche. Wenn ich aber einmal rede, so weiß ich auch, was ich sage. Warum entschuldigt Ihr seine Leidenschaft für das Spiel?«
»Andre junge Herren tun auch so.«
»Das ist für ihn kein Grund, mein Geld zu vergeuden. Und warum gibt er Wechsel mit meiner Unterschrift?«
»Ein kleiner Zufall, Erlaucht!«
»Was!« brauste der Graf auf. »Das nennt Ihr einen Zufall? Ist der Ruf meines Neffen so gefallen, daß man seine Wechsel nicht mehr bezahlt, sondern meinen Namen verlangt? Wer hat meinen Namen auf das Papier gesetzt, er oder Ihr?«
»Er.«
»Er soll es zum letztenmal getan haben! Und auch Ihr werdet niemals wieder ein Blanko von mir in die Hand bekommen. Hier die letztere Angelegenheit« – der Graf deutete auf einen der Briefe – »war meinerseits mit fünftausend Piaster beigelegt. Wem habe ich diese Summe gegeben?«
»Mir«, erwiderte der Sekretär in kleinlautem Ton, aber mit kochendem Blut.
»Jetzt sagt Ihr, daß mein Neffe sie anderweit verwenden mußte: so habt Ihr also ihm das Geld gegeben?«
»Er bat mich darum.«
»Ach so! Der Wunsch des leichtsinnigen Neffen galt mehr als der Befehl des Oheims, in dessen Dienst Ihr steht! Ich werde meine Maßregeln ergreifen müssen, um mir Gehorsam zu verschaffen. Verstanden?«
Der Graf nahm die andern Schriftstücke, eins nach dem andern auf, um sie durchzulesen. Da plötzlich schoß ihm ein dunkler Blutstrom in das aristokratisch bleiche Angesicht; es war die Röte der Scham und der Entrüstung. Er sprang empor und trat dem Sekretär mit blitzendem Auge entgegen. »Wißt Ihr, wo Alfonso sich jetzt befindet?« fragte er.
»Auf der Hazienda del Erina.«
»Weshalb?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Oh, ich wußte es auch nicht, weshalb er auf einmal eine so plötzliche Sehnsucht nach der fernen Hazienda verspürte, und warum Ihr die Erfüllung dieser Sehnsucht befürwortetet; jetzt aber sehe ich klar!«
Der Sekretär war doch bleich geworden. Der Graf aber schritt in höchster Erregung im Zimmer auf und ab; dann wandte er sich plötzlich um und fragte:
»Was ists mit dem Duell?«
»Mit welchem Duell?« fragte der Sekretär mit dem unschuldigsten Ausdruck.
»Cortejo!« donnerte ihn der Graf an.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Gut! Aber Ihr täuscht mich nicht. Wenn Ihr nicht redet, seid Ihr augenblicklich entlassen. Entschließt Euch kurz!«
Cortejo sah sich in die Enge getrieben. Er konnte nicht ausweichen und entgegnete also in bittendem Ton:
»Verzeihung, Don Fernando! Don Alfonso hat mir das strengste Schweigen anbefohlen.«
»Wer hat Euch zu befehlen, ich oder mein Neffe? Heraus mit der Sprache!«
»Don Alfonso ging nach der Hazienda, um einem Streit auszuweichen.«
»Erklärt Euch deutlicher! Graf Embarez schreibt mir hier folgendes:
›Don Fernando!
Ich ersuche Euch, Euren Neffen zu veranlassen, heute über drei Tage auf dem Stelldichein zu erscheinen. Die Zeit ist bereits seit drei Wochen um. Eine solche Angelegenheit erlaubt keine Minute Aufschub. Ist Don Alfonso nicht zur angegebnen Zeit zur Stelle, so werde ich den Fall ohne alle weitere Rücksicht im › Diario oficial‹ und in › La Sociedad‹ veröffentlichen. Ich hoffe, daß Euch mehr an der Ehre Eures Hauses als an einem Fetzen der Haut Eures Neffen gelegen ist.
Almanzo Graf Embarez.‹
Nun sagt, wie es steht! Liegt etwa eine Forderung zum Duell vor, wie ich nach dem Wortlaut dieser ehrenrührigen Zuschrift schließen muß?«
»Der Graf hat Don Alfonso beleidigt.«
»Ah, und mein Neffe hat ihn gefordert?«
»Nein. Der Graf hat Don Alfonso gefordert.«
»So ist es umgekehrt, mein Neffe hat ihn beleidigt. Gebt Euch um Gottes willen keine Mühe, auch diese Sache zu bemänteln! Hat mein Neffe die Forderung angenommen?«
»Er mußte.«
»Ah! Er mußte! Das heißt, eigentlich wäre er feig genug gewesen, sie nicht anzunehmen! Welch eine Schande! Wo ist das Stelldichein?«
»Am Ufer des Sees von Tescuco.«
»Und Alfonso ist nicht erschienen?«
»Graf Embarez ist als der gewandteste Fechter und Schütze bekannt und gefürchtet«, entgegnete der Sekretär mit sichtbarer Verlegenheit.
Da fuhr der Graf mit der Hand schmerzbewegt nach dem Herzen »Barmherziger Gott!« stöhnte er. »Mein Neffe ein solcher Feigling! Er hat eine Forderung angenommen und ist aus Angst entflohn! Der Name Rodriganda ist befleckt und geschändet, wenn nichts geschieht, um ihn zu retten.«
Er wanderte abermals im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehn und sagte: »Hört, was ich Euch befehle! Es gehn sofort zwei Eilboten nach der Hazienda ab!«
»Zwei?«
»Ja, damit die Botschaft sichrer läuft. Sie haben meinem Neffen zu sagen, daß er sogleich nach Mexiko komme. Hört Ihr? Sogleich!«
»Erlaucht wollen bemerken, daß er höchstens in drei bis vier Wochen eintreffen kann!«
»Ich weiß das. Ich werde nachher zu dem Grafen fahren und ihm mitteilen, daß ich die Angelegenheit im Namen meines Neffen ausfechten werde. Nach dem Wortlaut des Briefs hat Alfonso sich für Degen entschieden?«
Über das Gesicht des Sekretärs zuckte ein freudiger Blitz. »Ja«, antwortete er.
»So feig und doch so unvorsichtig. Hätte er Pistolen auf weite Entfernung genommen, so brauchte er nicht auszureißen. Geht jetzt und sendet mir die alte Maria Hermoyes!«
Der Sekretär ging.
Nach einiger Zeit trat eine alte Frau von würdigem Äußern bei dem Grafen ein. Sie verneigte sich ehrerbietig und blieb an der Tür stehn.
»Tritt näher, Maria, und setze dich!« empfing sie Don Fernando im leutseligsten Ton, denn die alte Maria Hermoyes war als die treuste Dienerin des Hauses bekannt und wurde als solche vom Grafen behandelt.
Er schritt noch immer im Zimmer auf und ab. Es kostete ihm Mühe, seinen Zorn zu besänftigen oder zu verbergen. Endlich sagte er:
»Maria, du bist mir treu. Nicht wahr?«
»Don Fernando,« beteuerte sie, »Ihr wißt, daß mein Leben Euch gehört.«
»Ich weiß es. Wirst du mir die Wahrheit sagen?«
»Ich habe Euch noch nie belogen.«
»Ich glaube es, aber es gibt Dinge, bei denen selbst der treuste Diener meint, es sei für seinen Herrn das beste, das Richtige und Wahre nicht zu erfahren. Du jedoch wirst mir die Wahrheit sagen?«
»So, als ob ich vor dem Beichtvater oder vor Gott stände.«
»Nun gut! Du hast mir damals vor langen Jahren meinen Neffen von Spanien herübergebracht. Sag mir aufrichtig, ist er wirklich mein Neffe?«
Die Dienerin erschrak sichtlich.
»Mein Gott, welche Frage!« stammelte sie. »Warum sollte er es nicht sein, Don Fernando?«
»Du sollst mir nur mit einem einzigen Wort antworten«, gebot er. »Ja oder nein!«
»Das kann ich nicht! Gnädiger Herr, das ist ein Punkt, der mir erst wenig Sorge machte, mit der Zeit sich mir aber immer mehr aufs Herz gelegt hat!«
»Ah! was meinst du?«
»Es fiel mir auf, daß Don Alfonso dem Señor Pablo Cortejo so ähnlich sieht –«
»Bei Gott, das ist mir auch aufgefallen. Das eben hat mich auf Gedanken gebracht, die ich nicht wieder loswerden kann.«
»Ferner fiel es mir auf, daß er und Cortejo stets beisammen sind und immer Heimlichkeiten haben.«
»Das weiß ich. Es wird aber anders werden.«
»Und sodann –« Sie stockte, trotz ihres Alters errötend.
»Nun?« fragte der Graf.
»Sodann fiel mir noch ein drittes auf«, fuhr sie fort. »Ich muß nämlich sagen, daß der Bruder des Señor Pablo –«
Wieder stockte sie.
»Sprich nur weiter! Was du sagst, ist nur für mich. Du meinst den Sachwalter meines Bruders, den Advokaten Gasparino Cortejo zu Manresa in Spanien?«
»Ja. Er ging mir in frühern Jahren ein wenig nach, obgleich ich älter war als er, und da schenkte er mir sein Bild, das ich noch besitze.«
»Und dieses Bild?«
»Es ist das leibhaftige Ebenbild des Grafen Alfonso.«
»Ah, darf ich es einmal sehn?«
»Ja, Erlaucht. Ich hole es.«
Die Dienerin eilte fort und brachte darauf ein Bildnis in Kreidezeichnung. Kaum hatte der Graf einen Blick darauf geworfen, so rief er erschüttert:
»Mein Gott, es stimmt! Das ist Alfonso, wie er leibt und lebt!«
»Ja, das sah ich auch, Don Fernando, und das drückte mir fast das Herz ab!«
»Du warst die Amme des kleinen Alfonso?«
»Ja, sechs Monate, dann entwöhnte ich ihn. Ich sollte auf dem Schloß bleiben, aber es gab da einen Tischler, der mich heiraten wollte, und so wurde ich seine Frau und zog zu ihm. Mein Mann kränkelte und starb. Nun stand ich wieder allein. Das war zu der Zeit, in der Ihr um den kleinen Alfonso gebeten hattet. Euer Wunsch wurde erfüllt, da damals noch ein älterer Knabe lebte. Man fragte mich, ob ich Lust habe, das Kind nach Mexiko zu begleiten. Ich sagte zu, denn ich hatte niemand mehr, der mir lieb war.«
»Du kamst von da an bis zur Abreise nicht wieder auf das Schloß?«
»Nein, denn viel Zeit gab es nicht, da das Schiff segelfertig war. Ich wurde erst am Morgen der Abreise auf das Schloß verlangt und saß dann mit dem Grafen, der Gräfin und Alfonso im Wagen, der uns nach Barcelona brachte. Dort fanden wir Señor Pedro Arbellez, der jetzt Haziendero ist, damals aber noch Euer Inspektor war. Ihm wurde ich mit dem Kind übergeben.«
»Wurdet ihr von dem Grafen und der Gräfin aufs Schiff begleitet?«
»Nein. Beide fuhren gegen Abend wieder ab, da der Abschied die liebe, gnädige Frau so sehr anzugreifen schien. Dann bin ich von dem Kind nicht wieder fortgekommen. Aber am Morgen schien es mir, als ob der Kleine ein andres Gesicht habe.«
»Ah! Weiter nichts?«
»Oh, doch noch etwas, aber nur eine Kleinigkeit. Wenn man arm ist, so ist man neugierig auf die Sachen, die reiche Leute besitzen. Als ich den Knaben zur Ruhe legte und entkleidete, sah ich mir alles, was er trug, genau an. Und am andern Morgen war es mir, als ob das Hemdchen eine andre Nummer habe, als am Abend vorher.«
Der Graf horchte auf.
»Es schien dir nur so?« fragte er gespannt. »Oder war es dir gewiß?«
»Nicht ganz. Ich hatte die Nummer zwar nicht eigens daraufhin angesehn, dennoch aber möchte ich behaupten, daß sie eine andre geworden war.«
»Das wäre nun freilich von der allerhöchsten Wichtigkeit. War deine Tür verschlossen?«
»Nein.«
»In welchem Gasthof war es? Ich habe den Namen wieder vergessen.«
»Im Gasthaus › El Hombre grande‹ in Barcelona.«
»Weißt du nicht, wer an diesem Abend noch dort übernachtete?«
»Ich erkundigte mich am Morgen, aber ganz zufällig und nicht etwa, weil ich an eine Verwechslung des Kindes gedacht hätte. Aber was ich erfuhr, erschien mir in späterer Zeit doch auffällig. Es hatte nicht weit von uns ein Mann gewohnt, zu dem später zwei andre Männer kamen; sie alle drei waren unbekannt und hatten bereits am frühsten Morgen das Haus wieder verlassen. Der eine hatte dabei ein Bündel unter dem Arm getragen.«
»Wer hat dies gesehn?«
»Eine Magd, die Zahnschmerzen hatte und nicht schlafen konnte.«
»Danach könnte also der Knabe samt der Wäsche, wenigstens samt dem Hemd verwechselt worden sein. Gibt es noch etwas, was du über diese Angelegenheit zu sagen hättest?«
»Sicheres nicht, aber Kleinigkeiten, die man erst nicht beachtet, die später jedoch dennoch auffällig erscheinen.«
»Nenne sie mir getrost! In solchen Fällen sind Kleinigkeiten oft von hohem Wert.«
»Nun, der kleine Knabe sprach nie von seinen Eltern, während er doch der Trennung wegen grade nach ihnen hätte weinen sollen.«
»Ah!«
»Ja, es war, als sei er gar nicht bei Eltern gewesen, und wenn ich einmal vom Grafen und der Gräfin begann, so sagte er selten Papa und Mama, sondern meist nur Vater und Mutter. Er redete überhaupt nicht gern von der Heimat, gleichwie wenn es ihm verboten sei, von ihr zu sprechen. Ferner hörte er sehr oft nicht auf den Namen Alfonso, und es war, als sei er bisher mit einem andern gerufen worden.«
»Mein Gott, das alles sagst du mir erst jetzt?«
»Oh, das fiel mir alles zuerst gar nicht auf. Ich war ein einfaches, dummes Ding und hatte gar keinen Verdacht. Hier in Euerm Haus wurde ich ein klein wenig klüger, und erst als ich dann später die wunderbare Ähnlichkeit bemerkte, von der wir vorhin gesprochen haben, stellte sich der Verdacht ein. Ich begann nachzudenken, aber zu spät.«
»Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Gottes Wege sind oft sehr wunderbar und unerforschlich.«
»Außerdem fiel mir auf, daß der Knabe während der Reise mehr nach Señor Pablo Cortejo als nach Euch fragte, und endlich habe ich hier bemerkt, daß beide sich du nennen, wenn sie denken, daß sie allein sind.«
»Wirklich?« fragte der Graf hastig.
»Ja. Ich habe sogar einmal gehört, daß der junge Graf den Sekretär Onkel nannte. Es war im Garten, und die beiden hatten keine Ahnung davon, daß ich sie beobachtete.«
»Weiter!«
»Das ist alles, Don Fernando. Ich weiß nichts weiter.«
»Oh, es ist genug. Ich habe jetzt die Überzeugung, daß hier ein Schurkenstreich begangen ist. Aber wehe ihnen!«
»Ich soll doch schweigen über das, was wir soeben gesprochen haben, nicht wahr, gnädiger Herr?«
»Natürlich! Sie dürfen nicht erfahren, daß wir eine Ahnung haben, sonst würden sie den Faden zerreißen, der uns durch das Geheimnis leiten soll. Aber, wenn es so ist, wie wir denken, wo ist dann der richtige Knabe Alfonso?«
»Den haben jene drei Männer mit fortgenommen.«
»Und wohl gar getötet?«
»O mein Gott!«
»Ich werde es erfahren, ich muß es erfahren!« sagte der Graf zornig. »Also darum ist dieser Alfonso so aus der Art geschlagen, und darum konnte in mir kein verwandtschaftliches Gefühl für ihn aufkommen. Aber er ist mein Neffe vor den Augen der Welt; ich muß also auch heute wieder für ihn eintreten. Geh, meine gute Maria, und sage dem Kutscher, daß er anspannen soll! Wenn ich dich in dieser Angelegenheit wieder brauche, werde ich dich rufen lassen.«
Die Alte entfernte sich.
Der Graf aber schloß die Papiere, die ihm so viel Ärger bereitet hatten, in seinen Schreibtisch ein und ging hinab in den Torweg, um in seinen Wagen zu steigen.
»Zum Grafen Embarez!« gebot er dem Kutscher.
Das Fuhrwerk hielt bald vor dem Haus des Grafen Embarez. Don Fernando ließ sich melden und wurde angenommen. Embarez, ein noch junger Mann, empfing ihn mit ausgesuchter, aber kalter Höflichkeit und bot ihm einen Sessel an, während er selbst stehnblieb.
Dies gab dem Grafen de Rodriganda Veranlassung, den Sessel auszuschlagen und auch stehnzubleiben.
»Ich erhielt heut eine Zuschrift von Euch«, begann er.
Embarez verbeugte sich zustimmend.
»Und hatte Veranlassung, mich über den Ton, in dem sie verfaßt ist, zu wundern.«
»Oh, dieser Ton ist sehr natürlich.«
»Euch vielleicht, mir aber nicht. Ich pflege höflich zu sein gegen jedermann.«
»Ich ebenso, wenn er es wert ist.«
Rodriganda trat einen Schritt zurück. »Ihr wollt sagen, daß ich den Wert, den Ihr meint, nicht besitze?« fragte er scharf.
»Von Euch war keine Rede.«
»Aber der Brief war an mich gerichtet.«
»Und handelte von Euerm Neffen.«
»Ich bitte um Aufklärung. Was habt Ihr mit ihm?«
»Eine Ehrensache, denn er beleidigte meine Schwester. Darauf forderte ich ihn auf Degen, und er nahm die Forderung an.«
»Wann sollte das Duell stattfinden?«
»Drei Tage später. Leider erschien er aber nicht, und ich vermute, daß es ihm scheint, als ob seine Ehre nicht einen Degenstoß wert sei. Oder vielleicht ist er auch feig. Ich muß es wenigstens glauben.«
Rodriganda war in die tiefste Seele getroffen, dennoch behauptete er seine Ruhe und erwiderte:
»Ihr irrt, Graf, und ich muß Euch bemerken, daß es mir wenig edel erscheint, einen Unschuldigen, wie ich doch in dieser Sache bin, zu kränken. Ich teile Euch mit, daß mein Neffe gezwungen war, einen Ausflug in einen verrufenen Teil des Landes zu machen. Unter solchen Umständen kann man die ganz feste Absicht haben, sich zur rechten Zeit zu stellen, und doch daran verhindert sein. Ich an Euerm Platz hätte höflich bei dem Oheim angefragt, eh ich gewagt hätte, einen Ehrenmann zu kränken, der Euch niemals beleidigt hat und an dessen Namen nicht der geringste Makel haftet.«
Diese Worte machten Eindruck auf den Gegner. Er erwiderte: »Was ich schrieb, galt dem Neffen!«
»Das ist keine Ausrede. Ihr haltet mich für den Vertreter des Neffen. Nun wohl, wenn Ihr die Worte an mich richtet, die ihm gelten, so ersuche ich Euch, auch die Degenstöße gegen mich zu richten, die Ihr ihm zugedenkt.«
»Ah! Ihr meint –?«
»Daß ich an Stelle meines Neffen Eure Forderung annehme.«
»Graf, das war nicht meine Absicht«, sagte Embarez schnell. »Ich bitte Euch, zurückzutreten!«
»Und ich ersuche Euch, anzunehmen!« versetzte Rodriganda ernst, fast drohend.
»Wohl! Wenn Ihr darauf beharrt, so bin ich ja gezwungen.«
»Wann beliebt es Euch?«
»Wann Ihr Zeit habt.«
»Morgen?«
»Habt Ihr es so eilig, zu sterben, Don Fernando?« fragte Embarez spöttisch.
»Mein Leben steht in Gottes Hand«, antwortete der Gefragte ruhig.
»Welche Waffen wählt Ihr?«
»Als Stellvertreter meines Neffen muß ich an seiner Wahl festhalten: also Degen. Auch bestimme ich den gleichen Ort, den mein Neffe gewählt hat.«
»Der Sekundant?«
»Welcher Herr diente meinem Neffen?«
»Vicomte de Lorrière.«
»Ich werde Euch diesen Herrn sofort senden.«
»Und ich werde ihn erwarten.«
»So sind wir zu Ende, und ich bitte Euch, mich zu entlassen.«
Don Fernando fuhr nach der Wohnung des Vicomte de Lorrière. Dieser war fürchterlich darüber aufgebracht, daß Alfonso nicht erschienen war. Doch nahm er Rücksicht auf die Ehrenhaftigkeit Don Fernandos und erklärte sich bereit, worauf Graf Rodriganda nach Haus zurückkehrte.
Er schrieb noch während des ganzen Nachmittags und ließ am Abend die treue Maria zu sich rufen. Sie glaubte, daß er sie wieder wegen des Kindestausches sprechen wolle, fand sich aber enttäuscht.
»Maria,« sagte er, »ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen, und du wirst es nicht verraten.«
»Oh, Herr, ich werde gewiß schweigen«, erwiderte sie.
»Du weißt doch, was ein Duell ist? Ich werde mich morgen früh schlagen.«
»Ists wahr?« fragte sie erschrocken. »O mein lieber Don Fernando, das werdet Ihr nicht tun.«
»Ich muß«, antwortete er. »Dieser Alfonso hat eine Forderung erhalten und ist feig entflohn. Um nun die Ehre meines Namens zu retten, muß ich für ihn eintreten.«
»O mein Gott, er wird der Mörder seines Oheims sein.«
»Nein. Ich verstehe den Degen gut zu führen, wenn ich auch kein Raufbold bin. Ich hoffe, daß ich unverletzt bleibe. Aus Vorsicht aber habe ich mein Testament gemacht –«
»Ich denke, das ist längst fertig?« fragte sie unbefangen.
»Ja, das, worin ich Alfonso zum Universalerben einsetzte. Das wird jedoch jetzt anders. Ich habe Mißtrauen gefaßt und andre Bestimmungen getroffen. Hier ist das neue Schriftstück. Du sollst es mir aufbewahren.«
»Ich? Ach, gnädiger Herr, ich armes Weib –!« sagte sie weinend.
»Du bist treu und die einzige, auf die ich mich verlassen kann. Kehre ich morgen zurück, so gibst du es mir wieder. Bleibe ich aber, so übergibst du es dem Gouverneur, der dann die nötigen Schritte tun wird. Gute Nacht!«
Die Alte wollte Widerspruch erheben, er aber schob sie hinaus, um nicht in eine weiche Stimmung zu geraten, die ihm nichts nützen konnte.– – –
Als Pablo Cortejo vorher den Grafen verließ, fertigte er zunächst die beiden Boten ab, dann begab er sich nach seiner Wohnung.
Er war verheiratet gewesen, und sein längst verstorbenes Weib hatte ihm ein einziges Kind, eine Tochter, hinterlassen. Diese war sein Abgott, obgleich sie gar nichts Göttliches an sich hatte.
Sie war lang und hager wie ihr Vater, starkknochig, mit scharfen Gesichtszügen und eckigen Bewegungen. Ihre Gesichtsfarbe war wachsgelb, die Zähne fehlten ihr bereits zur Hälfte, und ihre Augen glichen denen der Eule, wenn sie im Sonnenlicht sitzt und gezwungen ist, sie zu öffnen.
Pablo Cortejo ging nicht in seine Arbeitsstube, sondern suchte seine Tochter auf, die auf dem Hofgang des Hauses, wo eine erquickende Kühle herrschte, in einer Hängematte lag und Zigaretten rauchte.
»Ah, Papa, was wollte der Graf zu so ungewöhnlicher Stunde?«
»Mir die Faust ins Auge schlagen«, antwortete er grimmig.
»Worum handelte es sich?«
»Um was anders, als um Alfonso?«
»Hm! Er ist doch sein Neffe!«
»Wie es scheint. Oh, wüßte der Alte, wie es steht! Ich möchte ihn sehn. Zunächst kam die Spielschuld zur Sprache, dann diese Duellgeschichte, an der nur du allein die Schuld trägst.«
»Ich?« fragte das Mädchen verwundert. »Habe ich etwa zu der Forderung Veranlassung gegeben?«
»Nein, aber du gabst nicht zu, daß Alfonso sich stellte. Dir war um sein teures Leben bang und ihm selber wohl noch mehr.«
»Was hat dies mit der heutigen Angelegenheit zu tun?«
»Graf Embarez hat an Don Fernando geschrieben. Dieser sprach von Absetzen, Fortjagen und allem möglichen.«
»Das wagt er nicht!« sagte sie geringschätzig. »Alfonso würde es nicht zugeben.«
»Pah! Der Graf will ihm die Zügel kürzer ziehn. Er behauptet gradezu, daß ich ihm seinen Neffen verderbe.«
»Du nicht, aber ich«, meinte die Dame mit Selbstbewußtsein.
»Da hast du vollständig recht. Übrigens hat der Brief des Grafen Embarez eine Wirkung gehabt, an die ich nie gedacht hätte. Es kann zu unserm Glück sein: Don Fernando wird sich an Alfonsos Stelle duellieren.«
Das Mädchen war mit einem Sprung aus der Hängematte heraus. »Wann?«
»Ich weiß es nicht, jedenfalls aber baldigst, denn der Graf ist nicht gewöhnt, solche Sachen aufzuschieben.«
»Wie nun, wenn er erschossen würde, Vater?«
»Erstochen.«
»Ah, es ist eine Forderung auf Degen? Das ist unter Umständen noch gefährlicher.«
»Wir hätten dann sofort gewonnen. Das Testament ist ja gemacht, und Alfonso ist der Erbe.«
»Und ich mit!« lachte das Mädchen.
»Ja, du mit. Oh, es ist ein schlauer Plan, den sich mein guter Bruder Gasparino da drüben in Rodriganda ausgedacht hat. Er will für sich und seinen Sohn alles haben, und für uns soll nur ein Gnadenteilchen abfallen. Aber wir sind ihm an Schlauheit gewachsen. Du erbst mit, dabei bleibt es!«
»Ich bin neugierig, was Alfonso zu unserm Vorschlag sagen wird.«
»›Ja‹ sagt er sicherlich nicht.«
»Warum nicht? Meinst du vielleicht, daß ich nicht schön genug bin?« fragte sie gereizt.
»Das meine ich nicht«, erwiderte er. »Aber wer ein Graf wird, der heiratet eine Gräfin!«
»Will ich denn etwas andres? Wenn er mich nimmt, so bin ich ja eine Gräfin.«
»Hm, deine Schlüsse sind nicht ganz dumm, dennoch aber wird es Kampf geben, eh er einwilligt.«
»Er muß sich ergeben, entweder der Liebe oder dem Zwang.«
»Aber wenn nun Don Fernando im Duell nicht fällt?«
Cortejos Tochter schaute lang zu Boden und erwiderte: »Oh, ihr Männer, was seid ihr doch für Schwächlinge!«
Das Auge des Vaters blickte eine Zeitlang forschend in ihr Gesicht, dann sagte er: »Du meinst, er muß fallen?«
»Ja.«
»Wenn nicht durch den Degen –«
»– dann durch etwas andres. Wie lang soll man warten?«
Es zuckte ein Zug teuflischer Habgier über ihr häßliches Gesicht.
»Ja, warten«, meinte ihr Vater. »Wer länger wartet, der wird vielleicht gar fortgejagt.«
»So handle! Soll ich dir helfen?«
»Vielleicht«, antwortete er geheimnisvoll.
»Ah! Du hast bereits einen Entschluß gefaßt?« fragte sie. »Welchen?«
»Ich wollte schon, eh ich zum Grafen gerufen wurde, mit dir darüber sprechen. Du hast doch den Brief meines Bruders Gasparino gelesen?«
»Ja. Der Graf soll verschwinden?!«
»Der Plan hat deinen Beifall?«
»Nicht ganz; mir gefällt nicht, daß Don Fernando sterben soll. Wenn wir ihn leben lassen, haben wir stets eine Waffe gegenüber Alfonso und Deinem Bruder. Man weiß nicht, ob die Liebe des Neffen und des Bruders für alle Fälle ausreicht.«
»Du hast nicht unrecht. Wir könnten ihn dem Seeräuberkapitän Henrico Landola übergeben, der in diesen Tagen hier eintreffen wird. Auch scheue ich mich, gradezu zum Mörder an einem Mann zu werden, dem wir doch so viel zu verdanken haben.«
»Zu verdanken?« spöttelte Josefa. »Wo denkst du hin? Du arbeitest doch für ihn! Ich will jedoch nichts weiter dagegen sagen, da ich es selbst für richtiger halte, wenn er leben bleibt. Sollte er nicht im Duell fallen, müßten wir ihn also scheintot machen. Aber wer gibt uns hierzu ein brauchbares Gift?«
»Ich kenne einen, dem alle Gifte bekannt sind, und der einen geheimen, einträglichen Handel damit treibt. Ein alter Indianer ist es draußen in San Anita. Er heißt Basilio. Ich werde mit ihm sprechen.«
»Aber erst nachdem das Duell entschieden ist! Wie steht es mit Alfonso?«
»Ich habe ihn schon vor drei Wochen durch einen Boten von dem Nötigen benachrichtigt. Heute befahl der Graf, gleich zwei Leute nach ihm zu senden; diese werden ihn bereits unterwegs treffen. Er kommt also zurück, und zwar in einigen Tagen.«
»Gott sei Dank, so habe ich ihn wieder!«
Ihre Augen glühten freudig auf. Man sah, dieses Mädchen hatte Alfonso wirklich lieb, aber in ihrer Seele steckte ein Vulkan von Leidenschaften verborgen. Wehe ihm, wenn er diese Liebe von sich stieß! – – –
Am andern Morgen hatte die Sonne den Tau noch nicht von der Erde geküßt, als Graf Fernando de Rodriganda mit seinem Sekundanten, dem Vicomte, die Stadt Mexiko verließ, um nach dem See von Tescuco zu reiten. Die beiden Señores trugen ihre mexikanische Nationaltracht, den großen, lichten Sombrero, den Hut mit steifer, breiter Krempe, der, mit Goldschnüren verziert, die Schultern überragte, die dunkle Jacke mit den vielen kleinen Silberknöpfen, die reich in Gold und Silber gestickten Zapateros, die über das gewöhnliche Beinkleid von unten her über das Knie gezogen und mit einem Gurt um den Leib befestigt werden.
Auch der Sattel war mit Gold und Silber verziert, der große Sattelknopf aber und die Rücklehne mit Silber beschlagen, und Mundstück und Kopfzeug ebenso geschmückt. Die Zügel bestanden aus einer bunten, seidnen Schnur und die großen Radsporen aus Silber. Hinter der Sattellehne war die bunte Serape Decke festgeschnallt, und hinter ihr fiel zu beiden Seiten des Pferdes ein weiches Fell tief herab, das den Pistolen zum Schutz diente. Auch der Lasso hing am Sattel.
Die beiden Señores sprachen kein Wort miteinander. Was zu sprechen gewesen war, das war erledigt; und der Vicomte ahnte nur zu wohl, was in der Seele des Grafen vorgehn müsse, als daß er ihm durch eine seichte Unterhaltung hätte beschwerlich fallen mögen.
Als sie die bestimmte Stelle des Sees erreichten, war der Gegner bereits da. Er hatte den Arzt, seinen Sekundanten und einen Unparteiischen mitgebracht. Beide Gegner verbaten sich jeden Versuch der Aussöhnung und standen sich bald mit den blanken Waffen gegenüber. Das Zeichen wurde gegeben, und der Kampf begann.
Wenn Graf Embarez geglaubt hatte, mit Rodriganda schnell fertig zu werden, so hatte er sich geirrt. Don Fernando war ein geschickter Fechter. Es gelang ihm bereits im ersten Gang, den Gegner zu verwunden, was diesen aber nur mutiger machte, so daß er im zweiten Gang alle Geschicklichkeit und Kraft anwandte, um Vergeltung zu erlangen. Er war geübter als Rodriganda, es glückte ihm eine Finte, und sein Degen fuhr Don Fernando in die Brust.
»Ich bin getroffen!« rief dieser und sank zur Erde.
Der Arzt, der rasch hinzusprang und die Wunde untersuchte, erachtete sie für nicht lebensgefährlich, aber doch bedeutend genug, um den Kampf zu beenden. Graf Embarez erklärte sich nun mit dieser Genugtuung zufrieden und ritt davon. Don Fernando wurde darauf sorgfältig verbunden und in den Wagen des Unparteiischen gesetzt, worin man ihn nach Haus fuhr.
Als er dort ankam, wollte Cortejo mit seiner Tochter ein Klagegeschrei anstimmen, doch wurden sie auf einen Wink des Grafen vom Arzt hinausgewiesen. Der Graf wünschte nur die alte Marie bei sich zu sehn. Diese erschien und wurde mit seiner Pflege betraut. Als der Arzt ihr die nötigen Anweisungen gegeben und sich entfernt hatte, sagte sie:
»Ich habe das Testament mit, gnädiger Herr.«
»Es war unnötig«, lächelte er. »Hier hast du den Schlüssel. Schließe es ein! Dort im mittlern Fach des Schreibtisches!«
Marie tat es mit einer Sorgfalt und Umständlichkeit, die ebenso groß war, wie das Vertrauen, das sie genoß. –
Anders war es in der Wohnung des Sekretärs. Vater und Tochter saßen in düsterm Groll beisammen.
»Was haben wir ihm getan!« zürnte Josefa, die Tochter.
»Nichts, gar nichts!« antwortete der Vater. »Diese alte Amme hat es verstanden, sich einzuschmeicheln, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte.«
»Und dieser Graf Embarez, der ein so guter Fechter sein soll, ist ein ausgezeichneter Tölpel. Konnte er seinen Stich nicht etwas tiefer richten?«
»Ich werde jetzt gleich hinaus nach San Anita reiten.«
»Ja, man braucht uns ja nicht.«
»Und die Wunde gibt uns die beste Sicherheit gegen Entdeckung.«
»Ja, reite hinaus! Es ist jede Stunde für uns verloren.«
»Ich wollte eigentlich erst die Rückkehr Alfonsos abwarten.«
»Das Gift kannst du doch bestellen!«
»Das ist richtig. Also fort, hinaus!«
Pablo Cortejo ließ satteln und ritt die lange Straße des Paseo de Bucareli hinab und immer weiter, bis er im Süden der Stadt den Paseo de la Viga erreichte, auf dem man zu den beiden Dörfern San Anita und Ixtacalco gelangt, die ausschließlich von Indianern bevölkert sind.
Diese roten Leute führen auf flachen Kähnen, mit denen sie den Kanal von Chalco befahren, Früchte und Blumen, Mais und Heu nach der Stadt. Frauen in grellroten Röcken liegen nebst Kindern und Hunden neben der reichen Ladung. Eine Decke, an zwei Stöcke befestigt, schützt sie gegen die glühenden Strahlen der Sonne.
Links davon dehnen sich die berühmten Chinampas, die schwimmenden Gärten der Indianer aus. Der Spiegel des Sees von Chalco war ursprünglich hell und klar; die Indianer aber bedeckten ihn mit Flößen und Strohmatten, auf die sie Erde legten, um sie mit Gemüse und Blumen zu bepflanzen. Diese Pflanzen haben vermöge ihrer Wurzeln festen Fuß gefaßt, so daß die Flöße nicht mehr von den Wellen getrieben werden können und nun kleine, von Rosenhecken umgebene Inseln bilden, auf denen die schönsten Gemüse und Früchte erbaut werden.
Diese Indianer sind nicht wild, sondern Katholiken, und werden Indios fideles genannt, im Gegensatz zu den Indios bravos, den freien, wilden Indianern. Sie haben aus ihrem frühern Glauben manche Anschauung und manchen Brauch mit herüber in ihr Christentum gebracht; es gibt Leute unter ihnen, die mehr zu fürchten sind als ein freier Komantsche oder Apatsche.
Ein solcher war Basilio, der Giftdoktor. Er hatte die Kenntnis aller inländischen Gifte, ihrer Zubereitung, Anwendung und Wirkung von seinen Vätern ererbt. Er war gewissenlos genug, einen ausgedehnten Handel damit zu treiben, und hatte vielleicht mehr Menschen gemordet als unter den Waffen Büffelstirns und Bärenherzens im ehrlichen Kampf gefallen waren.
Seine Hütte war jedermann bekannt; auch Cortejo kannte sie. Er lenkte jetzt sein Pferd in den kleinen Hof, der neben ihr lag, damit die Besucher hier unbeachtet absteigen konnten, und klopfte an.
Es wurde ihm erst nach wiederholtem Klopfen geöffnet. Das häßliche Gesicht eines alten Weibes grinste ihm entgegen und fragte:
»Was wollt Ihr?«
»Ist Basilio, der Arzt, zu Haus?«
»Nein. Ich weiß auch nicht, wo er ist und wann er zurückkommt.«
Da griff Cortejo in die Tasche, zog einen blanken Peso hervor, zeigte ihn der Alten und fragte zum zweitenmal:
»Ist Basilio zu Haus?«
»Vielleicht. Ich will einmal nachsehn. Gebt das Geld her!«
»Das bekommst du nur dann, wenn er zu Haus ist.«
»Er ist da«, sagte sie rasch. »Her damit!«
»Kann ich zu ihm?«
»Ja. Kommt!«
Cortejo reichte der Alten das Silberstück und trat ein. Sie schloß hinter ihm wieder zu und führte ihn in einen kleinen Raum, der einem Ziegenstall ähnlicher sah als einer menschlichen Wohnung.
»Setzt Euch nieder!« bat sie. »Ich werde ihn holen.«
Als sie verschwunden war, sah er sich nach einem Gegenstand um, auf den er sich der erhaltenen Aufforderung nach setzen konnte, fand aber nichts als einen Haufen getrockneter Pflanzen, auf den er sich nun niederließ.
Er mußte wieder einige Zeit warten, bis der Indianer erschien. Dieser war ein kleiner, hagerer Kerl mit scharfen Zügen und einer fürchterlichen Habichtsnase, auf der eine riesige Brille saß.
»Kann man offen mit Euch sprechen?« antwortete der Sekretär.
»Ja, aber auch heimlich.«
»Ihr verkauft Arzneien?«
»Ja.«
»Gute und böse?«
»Sie sind alle gut.«
»Ich meine giftige und nicht giftige.«
»Ja. Wollt Ihr etwa über die giftigen mit mir reden? Da muß man vorsichtig sein. Wer seid Ihr?«
»Das zu wissen ist nicht nötig; aber, daß ich kein Alguazil Polizist bin, das kann ich Euch beschwören.«
»Gut! Habt Ihr Geld? Wer mit mir über die Gifte reden will, hat zehn Pesos Mark zu geben. Wollt Ihr sie bezahlen?«
»Ja.«
»Her damit!«
Cortejo griff in die Tasche, nahm die Summe aus dem Beutel und gab sie ihm. Der Indianer steckte sie mit einem freundlichen Grinsen in seine weiten Hosen und sagte dann:
»Nun könnt Ihr fragen!«
»Gibt es ein Gift, das nur scheintot macht?« fragte Cortejo.
»Ja, es gibt sogar mehrere. Wer soll es erhalten?«
»Ein Mann, der ungefähr fünfzig Jahre alt und sehr kräftig ist.«
»Er soll wieder erwachen?«
»Ja, nach einer Woche.«
»Wann wollt Ihr es haben?«
»Gleich heute, jetzt; ich gebe, was Ihr verlangt.«
»Es kostet hundert Pesos.«
»Gut; das ist ein kurzer, schöner Handel. Wartet ein wenig, bis ich es hole und bringe!«
Basilio entfernte sich und war diesmal über eine Stunde fort. Als er wiederkam, hatte er ein kleines Tütchen in der Hand, das er dem Sekretär entgegenstreckte.
»Hier ist es!« sagte er.
Cortejo nahm das Tütchen, das kaum den vierten Teil eines Fingerhuts faßte, und fragte: »Das ist es wirklich? Darf ich es öffnen?«
»Meinetwegen!«
Cortejo machte das Papier auf. Es enthielt eine geruch- und farblose Masse, die fast aussah wie zu Mehl zerstoßenes Glas.
»Darf man es ohne Schaden berühren?«
»Es wirkt nur im Magen«, lautete die Antwort.
»Und wie habe ich es zu geben?«
»Ihr löst es in Wasser auf und tut dieses Wasser ins Essen oder ins Getränk; es kann sein, was es wolle. Das Mittel wirkt bereits in einer Nacht.«
»Gibt es ein Gegenmittel?«
»Nein. Auch ist der Genuß andrer Arzneien der Wirkung nicht hinderlich.«
»So werde ich es behalten und bezahlen. Ihr aber haftet mir für die Wirkung. Versteht Ihr?«
»Ich schwöre nicht, aber Ihr werdet sehn, daß dieses Pulver hält, was ich verspreche.«
»Wäre dies nicht der Fall, so würde ich mir mein Geld wiederholen und Euch außerdem noch als Giftmischer anzeigen. Ihr wißt, daß darauf die Todesstrafe steht!«
Der Giftdoktor lächelte überlegen:
»Wer ist schuldig, Señor? Derjenige, der das Gift macht, oder der, der es den Menschen eingibt? Ich denke, der zweite noch mehr als der erste. Gebt mir das Geld und geht!«
Cortejo zog nun hundert Pesos hervor und gab sie ihm; dann steckte er das Gift sorgfältig zu sich und wollte eben gehn, da kam ihm noch ein Gedanke.
»Halt! Bekommt ein Scheintoter Verwesungsflecke?
»Nein!«
»Aber diese müssen doch in meinem Fall vorhanden sein!«
»Hm, das ist schlimm!« entgegnete Basilio mit schlauem Lächeln. »Wollt Ihr nicht lieber den Mann gleich töten? Dann werden die Flecke sicher zu sehn sein.«
»Nein, sterben soll er nicht; aber kann man diese Flecke nicht künstlich hervorbringen?«
»Hm! Das kostet Euch fünfzig Pesos mehr!«
»Basilio, Ihr seid ein Schelm. Ihr wollt nur Geld von mir erpressen. Zwanzig Pesos will ich geben.«
»Gebt fünfzig, oder ich gehe fort! Anders nicht!« Basilio tat, als wollte er sich entfernen.
»Halt, ich gebe Euch dreißig!« entschied sich Cortejo eilig.
»So wartet! Ich werde das Mittel holen.«
Der Indianer ging und kam bereits nach zehn Minuten mit einem Fläschchen zurück, worin sich eine gelbe Flüssigkeit befand.
»Wißt Ihr die Stellen, an denen sich bei einem Verstorbenen die Verwesungsflecke zeigen? Tränkt ein Läppchen mit dieser Flüssigkeit und reibt die Stellen damit ein! Je mehr Ihr davon nehmt, desto dunkler werden sie.«
»So gebt her! Hier habt Ihr das Geld.«
Cortejo gab die dreißig Pesos hin, die der Indianer mit sichtlicher Freude in seine Tasche versenkte. Dann verließ er das Haus und bestieg draußen sein Pferd, um eiligst davonzureiten, denn wen man aus Basilios Wohnung kommen sah, den hatte man sofort im Verdacht, ein unheimliches Geschäft abgeschlossen zu haben. – –