Karl May
Orangen und Datteln
Karl May

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Nûr es Semâ

Die Anezeh sind einer der ältesten arabischen Nomadenstämme. Man sagt, sie seien Nachkommen des großen Stammes der Rebija, der schon vor Mohammed im südlichen Nedschd wohnte. Einige Zweige sind im nördlichen Nedschd verblieben; andere wohnen im Hedschaz, und außerdem haben mehrere Abteilungen ihre Weiden in der Nähe des Dschebel Schammar. Diese letzteren sind sehr raubsüchtig und dehnen ihre Beutezüge oft bis weit hinein nach Mesopotamien aus. Ihnen war Wikrama, der Vater unsers Parsi Alam, in die Hände gefallen.

Ich war der Überzeugung, daß es dem Sohne nicht gelungen wäre, seinen Vater zu befreien, selbst wenn er das ganze verlangte Lösegeld und nicht nur einen Teil desselben besessen hätte. Diese habsüchtigen Leute pflegen zwar das Lösegeld zu nehmen, aber, anstatt dann den Betreffenden frei zu geben, eine neue Forderung zu stellen. Alam war überhaupt nicht der Mann dazu, mit diesen Beduinen in der Weise zu verkehren, wie es nötig gewesen wäre, wenn er seinen Zweck erreichen wollte.

Von einem Einsiedler auf dem Wahsijafelsen hatte ich bei meinem früheren Hiersein nichts gehört. Dieser einsame Felsen liegt südwärts von den Sindscharbergen. In den Ortschaften der letzteren giebt es auch Christen. War es vielleicht ein christlicher Einsiedler? Kaum möglich, denn ein solcher wäre doch nicht, noch dazu in so wenigen Jahren, bei der mohammedanischen Bevölkerung bis hinab nach Bagdad so berühmt geworden. Und da er eine solche Macht selbst über die diebischen Anezeh, die doch Moslimin sind, ausüben sollte, so war er jedenfalls Moslem, wahrscheinlich einer jener frommen Asceten, welche im nordwestlichen Afrika Marabus genannt werden.

Nach unserem Zusammentreffen mit den Abu Hammed waren einige Tage vergangen. Wir befanden uns im Gebiete von Mossul, freilich in der Steppe, dem Aufenthalte der Beduinen, wohin die Macht des Mutessarif von Mossul kaum zu dringen vermag. Wir hatten gestern zwei Obeide-Araber getroffen, welche jetzt mit den Haddedihn befreundet waren, und von diesen erfahren, wo die letzteren zu suchen seien. Heute nun näherten wir uns den Weiden derer, welche wir besuchen wollten.

Schon gegen Mittag sahen wir die Steppe wie abgemäht, ein Zeichen, daß die Haddedihn mit ihren Herden erst vor ganz kurzem hier gewesen und, wie die Spuren zeigten, langsam nach Norden gezogen waren. Dann, kurz nach Mittag, bemerkten wir die ersten Personen, zwei Reiter, welche am nördlichen Horizonte ihre jungen Pferde tummelten. Sie sahen uns und kamen auf uns zugesprengt.

Ja, das waren Haddedihn; das sah man schon von weitem, die besten Reiter weit und breit! Ventre à terre kamen sie mit eingelegten Lanzen auf uns zugeflogen und parierten mitten im Galoppe ihre Pferde so nahe vor uns, daß die Spitzen ihrer Lanzen fast meine und Halefs Brust berührten. Das ist ein höchst gefährliches Experiment; aber man darf dabei kein Augenlid bewegen, wenn man nicht für einen Feigling gelten will.

Es waren zwei alte Krieger; ich kannte sie genau, denn ich hatte manchen Abend mit ihnen am Lagerfeuer gesessen. Welche Überraschung, als sie mich und Halef erkannten! Sie warfen sich sofort von den Pferden, ergriffen meine Steigbügel und küßten mir die Stiefelspitzen, bei dem ausgeprägten Stolze dieser Leute ein unerhörter Beweis, wie sehr sie uns ins Herz geschlossen hatten. Dann stiegen sie wieder auf und jagten wie der Wind davon, um uns anzumelden.

»Sihdi,« fragte der Parsi, »wirst du lange bei diesen Leuten bleiben?«

»Gewiß, einige Wochen.«

»Ich denke, du willst mich zu den Anezeh begleiten, weil du denkst, daß ich allein meinen Vater nicht befreien kann?«

»Ich habe es dir versprochen und halte mein Wort.«

»Aber dann kannst du dich kaum einen Tag bei den Haddedihn verweilen. Ich habe dir gesagt, daß am fünften des Monates Ssafar die Frist zu Ende ist.«

»Ich reite mit und kehre dann zu ihnen zurück.«

»Der fünfte Tag im Ssafar nach Mondsmonaten, ist das heuer nicht der fünfundzwanzigste Tag im Kanun el Auwal (Dezember) nach Sonnenmonaten, Sihdi?« fragte Halef.

»Ja.«

»Auf diesen Tag fällt doch das Id el Milad (Weihnachtsfest) der Christen!«

»Allerdings.«

»Und du willst dieses dein großes Fest dadurch feiern, daß du zu den feindseligen Anezeh gehst und bei ihnen dein Leben wagst?«

»Es gilt die Erlösung eines Unglücklichen und die Verhinderung eines Mordes. Das ist die beste Feier eines christlichen Festes.«

»Wohlan, Sihdi, darf ich mit?«

»Ja, du wirst sehen, daß wir ganz heil zurückkehren werden.«

Da erschien vor uns im Norden eine große, dichte Wolke von Reitern, welche schreiend, jauchzend und ihre Gewehre abschießend auf uns losstürmten. Die Wolke teilte sich, als sie in unsere Nähe kam; die Reiter umritten uns und bildeten, als sie hielten, einen Kreis, in welchem nur einer von ihnen auf uns zusprengte – Amad el Ghandur, der heldenhafte Scheik, welcher sich ebenso wie ich vom Pferde warf. Wir umarmten und küßten uns, wobei alle andern unaufhörlich ›Marhababak‹, Gruß, Heil! riefen.

Er war das jüngere Ebenbild meines einstigen Freundes, seines Vaters Mohammed Emin, grad so hoch und breit von Gestalt, mit denselben ernsten, edeln Zügen und, bei einem Beduinen eine große Seltenheit, einem schönen, dunklen Barte, welcher ihm bis über die Brust herunterging. Der Bart seines Vaters war ebenso dicht und lang, aber silberweiß gewesen.

Was soll ich die rührenden Scenen schildern, welche nun folgten! Jeder wollte einen Händedruck, ein Wort von mir, und es dauerte lange, ehe sie umwendeten, um uns im Triumphe in ihr Lager zu führen. Man schildere diese Leute immerhin als halbwild, roh, unzuverlässig, treulos und so weiter! Wer sie genau kennt, der weiß, daß sie es nicht sind. Sie sind Freund dem Freunde, Feind dem Feinde und zwar dann auch in jeder Beziehung und mit dem ganzen Herzen. Freilich, wer zu ihnen kommt, ohne die Berechtigung ihrer Eigenart gelten lassen zu wollen, wer da glaubt, von der hohen Plattform seiner Bildung aus auf sie herabblicken, sie als pfiffiger Händler aussaugen oder ihnen beweisen zu können, daß Mohammed kein Prophet, sondern ein sich selbst betrügender Phantast gewesen ist, der hat sich in ihnen geirrt und wird ihre guten Seiten niemals kennen lernen.

Und welche Aufregung erst im Duar, im Zeitdorfe, als wir in dasselbe gelangten! Die Männer waren uns entgegen gekommen; nun kamen die Frauen alt und jung, die Knaben und die Mädchen! Der Scheik wollte, um mich von ihnen zu befreien, mich in sein Zelt drängen; aber das ging nicht an; ich wurde von zehn, von zwanzig Händen in den Schwarm hineingezogen und nicht eher freigegeben, bis auch der kleinste Nacktfrosch wenigstens einen freundlichen Klaps von meiner Hand bekommen hatte. Erst dann konnte Amad el Ghandur mich als seinen Gast betrachten. Und nun ging das Schlachten los. Es gab einen Festtag, und gar mancher arme, fette Hammel mußte meine Ankunft mit seinem edlen Leben bezahlen. Aber so ist der Lauf der Welt: die Freude des einen ist des andern Schmerz! Dann saßen wir mit dem Scheik beim leckern Mahle, wobei nach alt ehrwürdiger Vätersitte die fünf Finger als Löffel und Gabel benutzt wurden; sie rosten nicht, obgleich sie meist ungeputzt bleiben.

Und nun konnte die Rede auch auf das Woher, Wohin und Warum kommen. Ich erzählte Amad von dem Parsi und seinem Vater. Als er den Fall angehört hatte, sagte er:

»Es ist gut, daß du, Freund meiner Seele, nicht sofort zu den Anezeh gegangen, sondern vorher zu mir gekommen bist. Es wäre dein Tod gewesen, denn sie sind ergrimmt auf alles, was nicht Beduine heißt. Der Mutessarif hat seine Soldaten zu ihnen gesandt, um die Kopfsteuer mit Gewalt einzutreiben; er hat ihnen die schönsten und besten Tiere ihrer Herden fortführen lassen; nun drohen sie jedem Fremden mit dem Tode, denn jeder Fremde gilt bei ihnen als Türke. Dieser Wikrama, den ihr loskaufen wollt, wird nicht frei gegeben, selbst wenn ihr das ganze und sogar das doppelte Lösegeld bezahlt. Wenn sie ihn noch nicht getötet haben, werden sie das Geld nehmen und ihn dennoch ermorden und euch dazu. Aber, Kara Ben Nemsi, du bist mein Bruder, und so werde ich euch beistehen. Weißt du schon, daß wir mit ihnen in Fehde leben?«

»Nein.«

»Sie ist angesagt, aber noch nicht ausgebrochen. Die Anezeh haben, weil man ihnen so viele Tiere genommen hat, sich an den unsern vergriffen und wollen sie nicht herausgeben. Wir sind viel stärker und mächtiger als sie und werden sie uns wiederholen. Wann ist die Frist des Gefangenen abgelaufen?«

»Am fünften Tage des Ssafar.«

»So bald? Da müssen wir uns beeilen! Ich werde noch heute Boten aussenden, um die Krieger aller Haddedihn-Abteilungen schnell zusammenrufen zu lassen. Dann brechen wir nach dem Felsen Wahsij a auf.«

»Lagern die Anezeh an diesem Orte?«

»Ja.«

»Ich hörte von einem berühmten Einsiedler, den es dort geben soll. Kennst du ihn?«

»Ich war noch nie bei ihm, ich habe ihn noch nie gesehen. Es hat ihn überhaupt noch niemand gesehen außer den beiden Knaben, deren Mutter am Fuß des Felsens wohnt. Diese steigen täglich zweimal, des Morgens und kurz vor Abend, zu ihm hinauf, um die heiligen Worte zu vernehmen, welche sie den Gläubigen, die unten darauf warten, bringen sollen. Es kommen Pilger aus allen Gegenden, welche ihm ihre Anliegen durch die Knaben anvertrauen und dann seine Antwort erhalten. Niemand, selbst kein Räuber und kein Bösewicht wagt es, gegen die Weisungen zu handeln, welche er von dem Einsiedler erhält. Du wirst seine Zelle von weitem sehen, aber hinauf zu ihm steigen und ihn sehen darfst du nicht. Wir hätten mit der Bestrafung der Anezeh noch einige Zeit gewartet; da aber du gekommen bist, so werden wir gleich zwei Gazellen mit einem Schusse erlegen, nämlich diese Räuber züchtigen und diesen Wikrama befreien. Meinst du, daß wir Kundschafter aussenden?«

»Ja, wir müssen erfahren, ob sie sich auch wirklich am Felsen Wahsija befinden, und sie, wenn es möglich ist, einschließen. Auch müssen diese Kundschafter dafür sorgen, daß ihnen unser Zug verborgen bleibt.«

»Sobald wir jetzt das Mahl beendet haben, werde ich Männer aussuchen, welche sich am besten dazu eignen, und ihnen unsere schnellsten Pferde geben.«

Schon nach einer Stunde ritten diese Kundschafter davon und mit ihnen die Boten, welche die Krieger der andern Abteilungen herbeiholen sollten. Niemand war froher über diese Eile als Alam, dem die Worte des Scheiks große Angst um das Leben seines Vaters eingeflößt hatten.

Schon am nächsten Abende brannten draußen vor dem Lager viele Feuer, um welche sich über sechshundert wohlbewaffnete Haddedihn versammelt hatten, und am darauffolgenden Morgen wurde der Zug angetreten. Am Mittag kam einer der Kundschafter zurück und meldete, daß die Anezeh ungefähr dreihundert erwachsene Männer stark mit ihren Frauen und Kindern, Zelten und Herden am Felsen lagerten und wahrscheinlich keine Ahnung davon hätten, daß die Haddedihn so schnell zur Rache aufgebrochen seien. Sie wurden von den andern Kundschaftern, natürlich ohne daß sich dieselben sehen ließen, von weitem beobachtet.

Aus dieser Mitteilung ging hervor, daß wir ihnen doppelt überlegen waren. Dazu kam, daß es bei uns nur Kombattanten, bei ihnen aber Frauen und Kinder gab, welche, wenn sie eingeschlossen wurden, eine außerordentlich störende Berücksichtigung erforderten.

Am nächsten Morgen waren wir so weit gelangt, daß wir anhalten mußten, denn der Parsi mußte vorangesandt werden, wenn sein Vater gerettet werden sollte. Thaten wir das nicht, so stand mit Sicherheit zu erwarten, daß sein Vater bei unserm Angriffe ermordet wurde. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich mit ihm ging, denn ich hatte es ihm versprochen. Allein hätte er sich wohl kaum zu ihnen getraut. Mein wackerer, kleiner Halef ließ sich auch nicht zurückhalten; er begleitete uns. Den Führer des Parsi aber nahmen wir nicht mit; er konnte uns nichts nützen.

Amad el Ghandur sah es gar nicht gern, daß ich fortging; er mußte sich aber in meinen Willen fügen. Ich schloß mich übrigens dem Parsi nicht bloß wegen des Versprechens an, welches ich ihm gegeben hatte, sondern ich verfolgte noch eine andere Absicht dabei. Die Haddedihn wollten sich unbedingt rächen; sie waren zum Überfalle, zum Kampfe fest entschlossen; ich aber glaubte, wenn ich mich bei den Anezeh befand, auf irgend eine Weise das Vergießen von Menschenblut verhindern zu können.

Wir verließen also zu dreien den Ort, an welchem die Freunde lagerten, natürlich nicht, ohne daß ich mit Amad el Ghandur zuvor den Plan, welcher nach meiner Ansicht auszuführen war, genau besprochen hatte. Ich kannte die Gegend, in welcher der Felsen lag; wir konnten uns also nicht verirren.

Da wir beide uns bei ihm befanden, zeigte der Parsi ein getrostes Gesicht; ja, er äußerte sich sogar wieder einmal:

»Du hast doch keine Sorge, Sihdi? Ihr habt nichts zu fürchten, denn ich habe meine beiden Amuletts bei mir, wir befinden uns im Nur esch Schems und im Nur el Hilal; das Licht der Sonne und des Halbmondes wird uns beschützen.«

Ich hatte mich noch nicht danach erkundigt; jetzt aber sprach ich die Frage aus:

»Wo hast du denn die beiden Talismane her?«

»Du weißt,« antwortete er, »daß zwischen Bagdad und Basra sieben türkische und zwei englische Dampfer hin- und herfahren. Auf dem einen englischen dient ein Nauti, den ich sehr gut kenne. Er hat immer wunderthätige Amulettschriften bei sich, aus denen er Talismane macht, um sie zu verkaufen. Ich nahm zwei von ihm, um ganz sicher zu gehen, einen Talisman für Parsen und einen für Mohammedaner. Du hast erfahren, daß beide uns schon errettet haben.«

»Das glaubst du, aber ich nicht. Es giebt keinen Talisman. Kann ich sie nicht einmal sehen?«

»Ich weiß nicht, ob ich sie dir zeigen darf; aber beschreiben will ich sie dir. Auf dem Parsitalisman ist Zerduscht, der Stifter unserer Religion, abgebildet, als neugeborenes Kind, wie schon da die frommen Nachbarn kommen, um ihn anzubeten. Dabei ist eine Schrift, welche niemand lesen kann. Und auf dem moslemischen Talisman ist das kleine Kind Mohammed abgebildet, wie es von seiner Mutter Amina angebetet wird. Auch dabei ist eine Schrift, welche kein Mensch versteht. Ist dir das genug?«

»Nein, nun nicht, denn ich glaube, du bist von einem Schwindler betrogen worden.«

»Warum?«

»Weißt du nicht, daß Mohammed verboten hat, Bilder zu machen? Und nun soll auf einem moslemischen Talisman gar das seinige und dasjenige seiner Mutter sein? Das ist Betrug! Ziehe die Amulette einmal heraus!«

Ich mußte ihn wiederholt auffordern, ehe er mir den Willen that. Er zog unter seiner Kleidung an zwei Schnüren zwei weiße Papierpäckchen hervor. Auf das eine war eine Sonne und auf das andere ein Halbmond wie von Kinderhand mit Tinte gezeichnet. Ich öffnete sie. Was enthielten sie? Zu meinem Erstaunen zwei Illustrationen zu Gedichten aus einer englischen Zeitschrift! Auf dem ›mohammedanischen‹ Talisman befand sich die Abbildung der Gottesmutter mit dem Jesuskinde. Der parsische Talisman bestand aus einem Vollbilde, Christmas, zur Seite ein Weihnachtsgedicht. Diese Bilder stammten zweifelsohne aus der Heimat des englischen Matrosen, der sie entweder zum Scherz oder aus Gewinnlust als Amuletts verwertet hatte.

»Nicht wahr, Sihdi, es ist kein Betrug?« erkundigte sich der Parsi.

»Es ist einer, und doch ist der Inhalt dieser fremden Schrift ein Talisman im Leben und im Sterben. Hier ist von keinem Nur esch Schems und von keinem Nur el Hilal, von keinem Sonnen- oder Halbmondlichte die Rede, sondern von dem wahren Nur es Sema, von dem Himmelslichte, welches einst über Bethlehem aufgegangen ist und noch heut die ganze Welt erleuchtet. Hier nimm die Bilder und betrachte sie genau! Ich werde sie dir erklären und zu dir von diesem Nur es Sema, diesem Himmelslichte, sprechen. Morgen feiern wir ja Weihnacht, den Tag, an welchem es aufgegangen ist.«

Und nun endlich begann ich mit ihm über meinen Glauben zu sprechen, stundenlang, indem wir immer weiter ritten. Er hörte mir andächtig zu und unterbrach mich mit hundert Fragen, welche bewiesen, daß meine Worte Wurzel in seinem Herzen faßten. Da wurde es Abend, und wir mußten lagern.

Der Himmel stand voller Sterne, und im Innern meiner beiden Zuhörer gingen auch Sterne auf, echte Himmelslichter. Wir wachten und sprachen bis um Mitternacht. Als ich mich dann zum Schlafe niederlegte, sagte der Parsi:

»Sihdi, dein Glaube ist voller Liebe, so einfach und doch so wunderbar! ja, wer ihn im Herzen trägt, der braucht kein Amulett und keinen Talisman, denn die ewige Güte und Liebe wacht stets über ihm. Ich bin betrogen worden, dennoch aber werde ich mir diese Blätter bis ans Ende meines Lebens aufbewahren, denn sie haben mich durch dich zum wirklichen Nur es Sema, zum wahren Himmelslichte geführt!«

Halef sagte nichts; er drückte mir still die Hand; ich verstand ihn gar wohl. Dann schliefen wir ein. Am andern Morgen ging es weiter. Da erhob sich dann bald der Felsen Wahsija aus der Ebene; an seinem Fuße lagen die Zelte der Anezeh, und um dieselben weideten ihre Herden, zur Hälfte zusammengeraubt.

Der Wahsija (Einsame) war eigentlich kein Berg, sondern nur ein Fels zu nennen; aber er hatte unten einen Umfang von sicher einer Viertelstunde und eine Höhe von wenigstens achtzig Ellen. In der Zeit von Jahrhunderten hatten sich Sträucher und sogar Bäume angesetzt, welche jetzt grünten; zwischen ihnen führte, von Absatz zu Absatz, ein spiralförmig sich rundum drehender Pfad hinauf. Oben, nicht ganz auf der Höhe, öffnete sich eine Art Höhle, vor der ein Nadelbaum stand, von welcher Art, das war von unten nicht zu erkennen. Da, wo der Weg auf die Ebene mündete, stand unten eine kleine Hütte, in welcher die schon erwähnte Witwe mit den beiden Knaben wohnte. Sie ernährte sich von den Gaben der Pilger, welche zu dem Einsiedler kamen.

Wir wurden von einigen Beduinen angeredet, welche uns in barschem Tone nach unserm Begehr fragten. Ich verlangte, zu dem Scheik geführt zu werden, und sie thaten es. Er saß in seinem Zelte, erwiderte unsern Gruß kaum und hieß uns auch nicht setzen. Ich aber nahm neben ihm Platz, winkte Halef und Alam, sich auch zu setzen und fragte:

»Du hast einen Mann bei dir, welcher Wikrama heißt?«

»Was wollt ihr von ihm?« fragte er.

»Wir wollen das Lösegeld zahlen.«

»Das ist sein Glück, denn morgen ist der letzte Tag! Gebt es her!«

»Er befindet sich hier?« »Ja. Gebt es her!« »Wir sprechen ebenso kurz wie du: Gieb ihn her!« »Erst das Geld, und dann den Mann!«

»Erst den Mann, und dann das Geld! Man bezahlt nie eher, als bis man gesehen hat, was man kauft.«

»Ich bin kein Händler und kein Verkäufer, sondern der Scheik der Anezeh. Wer aber bist du, und wie ist dein Name?«

»Man nennt mich Kara Ben Nemsi und ich habe –«

Er sprang rasch auf und unterbrach mich:

»Kara Ben Nemsi? Bist du jener Christ, welcher für die Haddedihn die Schlacht im Thale der Stufen gewonnen hat?«

»Ja.«

»So verfluche dich Allah tausendmal! Wir waren mit den Abu Hammed verbündet und kamen zu spät, sie zu retten; jetzt aber wirst du dafür büßen müssen. Ihr seid gefangen und werdet nicht entkommen!«

Mit diesen Worten sprang er zum Zelte hinaus. Das war eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte. Der Mensch war ganz des Teufels; ich hatte ihm ja gar nichts gethan! Draußen erscholl seine Stimme; er rief seine Leute zusammen. Halef, der Kleine, aber Tapfere, fragte mutig:

»Sihdi, wir wollen zwanzig oder dreißig von ihnen niederschießen und dann fortreiten?«

»UM Allahs willen, nur das nicht!« rief der Parsi ängstlich. »Wir sind alle verloren!«

»Hier würde dir allerdings kein Amulett helfen,« antwortete ich. »Aber sorge dich nicht. Dir geschieht nichts!«

Ich schlug die Matte zurück und stellte mich mit Halef unter den Eingang des Zeltes. Die Anezeh waren alle beisammen; sie standen Kopf an Kopf, einige Schritte vor dem Scheik. Es war laut zugegangen, aber als sie mich sahen, wurde es -ruhig. Ich hatte den Stutzen in der Rechten und einen von meinen zwei Revolvern in der Linken und fragte mit lauter Stimme:

»Du betrachtest uns also als deine Gefangenen, o Scheik der Anezeh?«

»Ja,« antwortete er. »Wag' einen einzigen Schritt, so bist du eine Leiche!«

»Du scheinst von mir gehört zu haben; hat man dir auch erzählt, daß ich mit dieser Zauberflinte stundenlang fortschießen kann, ohne daß ich zu laden brauche?«

»Wahajati, el Baruda el Dschebennem – bei meinem Leben, die Höllenflinte!« rief er erschrocken aus, indem er zurückfuhr.

»Und hier mit diesen kleinen Pistolen schieße ich ebenso viele Male. Paß auf! Sechs Schüsse in den Knopf des Sattels, der da am Nebenzelte hängt!«

Ich gab die Schüsse, welche allgemeines Erstaunen erregten, ab und fuhr fort:

»Du siehst, ich könnte trotz deines Verbotes gehen, denn ehe einer von euch sein Gewehr gegen mich erhöbe, wäre er tot und zehn andere dazu. Und ich bin nicht allein; meine Gefährten schießen auch. Aber es fällt mir nicht ein, vor euch zu fliehen. Ich bin gekommen, Wikrama zu holen, und ich werde mich nicht ohne ihn entfernen. Wir bleiben hier in deinem Zelte, bis du dich besonnen hast. Doch merkt euch dabei folgendes: Ich zähle langsam bis zwanzig. Wer dann noch sich weniger als fünfzig Schritte von diesem Zelte befindet, bekommt meine nie fehlende Kugel in den Kopf. Ich schwöre es beim Barte eures Propheten!«

Ich trat mit Halef in das Zelt zurück und ließ den Thürvorhang fallen. Draußen waren Stimmen und die Schritte der sich Entfernenden zu hören. Ich schnitt ein Loch in die rechte, Halef in die linke Zeltwand. Durch diese Löcher blickend, sahen wir, daß die Anezeh sich zwar zurückgezogen hatten, doch nicht so weit, wie es von mir bestimmt worden war. Da steckten wir die Läufe unserer Gewehre hinaus, und sofort begann ein allgemeiner Rückzug; der Scheik retirierte mit. Es war eine Lust für uns. Diese Anezeh hatten die so vielfach übertriebenen Gerüchte von meinem Repetiergewehre gehört und es noch nie mit einem mutigen Europäer zu thun gehabt. Jetzt rissen sie aus. Wir hätten ganz gut fliehen können, denn sich uns gefährlich zu nahen, wagten sie sicher nicht, und ihre sehr langen aber auch sehr schlechten Schießhölzer brauchten wir nicht zu fürchten, aber ich wollte mir als Christ und Nemsi, als Deutscher, nicht nachsagen lassen, daß ich vor diesen Söhnen Mohammeds davongelaufen sei. Wir wußten gewiß, daß um Mittag unsere Haddedihn von allen Seiten kommen würden, das Lager einzuschließen.

Dem Parsi war es himmelangst um seinen Vater, doch beruhigte ich ihn. Wie die Verhältnisse jetzt lagen, that dem Gefangenen sicher niemand etwas zu leide. Wir sahen, daß große Beratung gehalten wurde.

Das war am Tage vor dem heiligen Weihnachtsabende, doch vormittags. Kurz nach mittag gab es draußen plötzlich ein Rennen und lautes Rufen. Wir sahen durch die Löcher; die Haddedihn kamen von allen Seiten. Sie hatten schon weit draußen, wo sie nicht gesehen werden konnten, einen Kreis um das Lager gebildet und zogen denselben enger, indem sie sich näherten. Jetzt war die Zeit gekommen, Blutvergießen zu verhüten. Ich nahm mein Gewehr, schlug den Zeltvorhang zurück und trat hinaus. Der Scheik stand lebhaft gestikulierend bei den Seinen. Ich rief ihn zu mir. Er kam eiligst näher und fragte schon von weitem:

»Kara Ben Nemsi, weißt du, wer diese vielen Reiter sind?«

»Ja. Es sind sechshundert Haddedihn mit ebenso vielen guten Gewehren. Sie kommen, den Raub, welchen ihr an den Herden begangen habt, an euch zu rächen. Ihr seid von ihnen eingeschlossen und könnt nicht fliehen. Und uns, die wir ihre Verbündeten sind, habt ihr mitten unter euch. Wenn du sie nicht um Gnade bittest, schlagen in fünf Minuten vielmal sechshundert Kugeln in die Scharen eurer Weiber und Kinder. Aber ich will mich eurer annehmen, und einen Boten zu Amad el Ghandur senden, daß er den Angriff verschiebt. Dann kannst du mit ihm unterhandeln.«

»Warte noch!« antwortete er knirschend.

Darauf eilte er fort, um seine Ältesten kurz um Rat zu fragen. Der Kreis zog sich aber so schnell und bedrohlich zusammen, und es war so klar, daß ein Widerstand vergeblich sein würde, daß er mir zurief:

»Schick den Boten; mach schnell!«

Halef war bereits instruiert; er nahm sein Gewehr und eilte fort, natürlich von keinem Anezeh angehalten. Ich blieb am Zelte stehen, um den Erfolg abzuwarten. Tiefe Stille herrschte rings umher. Da erklang droben auf dem Felsen der helle Ton eines Glöckchens; gleich darauf sah ich einen Knaben aus der Hütte kommen und den steilen Pfad ersteigen. Er verschwand droben in der Höhe und kam ohne langes Verweilen wieder herab, um zum Scheik zu gehen. Ich winkte beide zu mir und fragte:

»Was will der heilige Mann?«

»Er will wissen, welcher Kampf und warum er hier stattfinden soll,« antwortete der Scheik.

»Er soll es von mir erfahren. Kannst du lesen?«

»Ja.«

»So warte!«

Ich setzte mich nieder, riß ein Blatt aus meinem Notizbuche und schrieb die Antwort kurz und doch ausführlich mit Bleistift nieder. Als der Scheik sie gelesen hatte, mußte der Knabe das Blatt und den Bleistift zur Höhe tragen. Jetzt mußte es sich zeigen, ob der berühmte Mann wenigstens schreiben konnte. Ich hatte mit Kara Ben Nemsi unterzeichnet. Die Haddedihn standen fast in Schußweite, waren aber halten geblieben, weil sie das Glöcklein gehört und den Boten des Einsiedlers gesehen hatten. Dieser blieb jetzt länger aus als vorhin; dann brachte er das Blatt herunter. Unter meinen Zeilen stand zu meinem größten Erstaunen, natürlich in arabischer Sprache:

»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen, welche guten Willens sind!«

Die Worte des Lobgesanges der Engel! Am heutigen Tage! Von diesem unter den Mohammedanern berühmten Einsiedler! Er mußte ein Christ sein, unbedingt ein Christ! Ich gab dem Scheik die Worte zu lesen; er ahnte nicht, daß sie aus der Bibel stammten, verstand aber ihren Sinn sogleich, denn er sagte:

»Der heilige Mann befiehlt, daß wir Frieden machen. Meinst du, daß Amad el Ghandur sich billig finden lassen wird?«

»Ja. Und wenn er zu streng sein sollte, so werde ich für euch sprechen.«

»So willst du hin zu ihm?«

»Ich und du.«

»Ich auch? Er wird mich gefangen nehmen!«

»Nein. Du stehst in meinem Schutze. Ich verspreche dir, daß du zurückkehren kannst, sobald du willst.«

Er traute nicht so recht, wagte es aber auf längeres Zureden doch, mir zu folgen.

»Friede auf Erden!« Diesem Gebote wurde Folge geleistet. Die Verhandlungen dauerten zwar bis gegen Abend, doch wurde man schließlich einig. Wikrama wurde ohne Lösegeld freigegeben, und die Haddedihn bekamen die geraubten Tiere wieder, wofür Amad el Ghandur sein Wort gab, auf Rache zu verzichten. Darauf gab es eine Verbrüderung zwischen den bisherigen Feinden, welche sich zwar erst ein wenig gezwungen ausnahm, nach und nach aber freier und herzlicher wurde. Die Haddedihn kamen zum Lager. Es wurden Hämmel geschlachtet und Feuer angezündet, sie daran zu braten.

Vorher aber geschah etwas, was niemand vermutet hatte. Als nämlich die Knaben kurz vor nachts den Felsen erstiegen, hatte der Einsiedler sie ausgefragt. Sie kamen herab. Er ließ durch sie die Anezeh um Lichter bitten, wie die Beduinen sie aus Hammeltalg zu machen pflegen, und ich erhielt die Botschaft, morgen früh zu ihm auf den Felsen zu kommen. Es war, wie bereits erwähnt, außer den beiden Knaben noch niemand bei ihm oben gewesen. Ich war auf diesen Besuch natürlich außerordentlich gespannt. Zu erwähnen wäre noch die Freude der beiden Parsen, als sie einander wieder hatten, ohne daß ein Lösegeld zu bezahlen war. Selbstverständlich mußte Wikrama die Summe, die man ihm abgenommen hatte, wiederbekommen, wenigstens so weit sie noch vorhanden war.

Als wir dann abends bei den Feuern saßen und das Friedensmahl verzehrten, ertönte oben das Glöckchen wieder. Wir blickten hinauf. Da erschien auf der Höhe Licht um Licht an dem Nadelbaume. Der Einsiedler feierte den heiligen Abend mit einem Weihnachtsbaume. Welch ein Wunder hier im Oriente, mitten unter Beduinen! Und welch ein Anblick für mich, den Deutschen, der sich keine Weihnacht ohne Lichterbaum zu denken vermag! Die Araber genossen den ihnen fremden Anblick mit stummem Schweigen; Alam aber sagte mir:

»Sihdi, das ist der Baum, von welchem du gestern erzählt hast. Wie schön ist er! Er spricht zu mir von dem Nur es Sema, welches in meinem Herzen aufgegangen ist!«

Und wen ich am andern Morgen da oben auf dem Felsen fand, und was ich von ihm erfuhr? Vielleicht erzähle ich es dem lieben Leser ein anderes Mal! –-


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