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Es gibt in der Liebe kein dauerhaftes und vollkommenes Glück, ausser in dem durchsichtigen Dunstkreise vollständiger Aufrichtigkeit. Bis zu ihr ist die Liebe nur eine Prüfung. Man lebt in der Erwartung, und die Küsse und Worte sind nur vorläufig. Aber diese Aufrichtigkeit ist nur durchführbar zwischen Menschen von hohem und ausgebildetem Bewusstsein. Doch genügt auch dies allein nicht. Damit die Aufrichtigkeit eine natürliche und notwendige wird, muss das beiderseitige Bewusstsein fast gleichartig, gleichumfassend und gleichwertig sein. Deshalb fliesst auch das Leben der meisten Menschen dahin, ohne dass sie einer Seele begegnen, mit der sie hätten aufrichtig sein können.
Aber es ist unmöglich, gegen einen Nebenmenschen aufrichtig zu sein, ohne vorher gelernt zu haben, es gegen sich selbst zu sein. Diese Aufrichtigkeit ist nichts als die Erkenntnis und die Analyse der Triebfedern aller Bewegungen des Lebens. Den Ausdruck dieser Erkenntnis kann man alsdann unter die Augen des Wesens führen, mit dem man das Glück der Aufrichtigkeit sucht.
So aufgefasst, hat die Aufrichtigkeit nicht den Zweck, zu moralischer Vollkommenheit zu führen. Sie führt wo anders hin, viel höher, wenn man will, aber auf jeden Fall in viel menschlichere und fruchtbarere Gebiete. Die Vollkommenheit eines Charakters, so wie man sie im gewöhnlichen Leben versteht, ist oft nichts als unfruchtbare Enthaltsamkeit, eine Art Seelenschlaf, eine Verminderung des Instinktlebens, das im Grunde die einzige Quelle jenes anderen Lebens ist, das wir in uns selbst gestalten. Diese Vollkommenheit strebt danach, die allzu glühenden Wünsche, den Stolz und Ehrgeiz, die Eitelkeit, Selbstsucht und Genusssucht zu unterdrücken, mit einem Wort, alle menschlichen Leidenschaften, d. h. alles, was unsere ursprüngliche Lebenskraft bildet, den Mutterboden unserer Lebensenergie, die nichts zu ersetzen vermag. Wenn wir aber alle Kundgebungen des Lebens in uns ersticken, um sie durch die Betrachtung ihrer Niederlagen und Trümmer zu ersetzen, so werden wir bald nichts mehr zu betrachten haben.
Es kommt somit nicht darauf an, keine Leidenschaften, Laster und Fehler mehr zu besitzen; das ist auch ganz unmöglich, so lange ein Mensch unter Menschen lebt, weil man ja sehr zu Unrecht den Namen Leidenschaften, Laster und Fehler auf das anwendet, was just die Grundlage der menschlichen Natur bildet. Es kommt vielmehr darauf an, die Leidenschaften, die man besitzt, in ihren Einzelheiten und Geheimnissen zu kennen und ihrem Spiel von genügender Höhe zuschauen zu können, ohne zu befürchten, dass sie uns zu Boden ziehen oder unserer Aufsicht entschlüpfen, um uns selbst oder unserer Umgebung unbedacht zu schaden.
Von dem Augenblick an, wo man seine Instinkte, selbst die niedrigsten und schlechtesten, aus dieser Höhe handeln sieht, – vorausgesetzt, dass man nicht absichtlich schlecht ist, was übrigens sehr schwer ist, sobald der Verstand jene Klarheit und Kraft erlangt hat, die zu solcher Beobachtungsfähigkeit nötig ist, – von dem Augenblick an, wo man sie so handeln sieht, werden sie harmlos wie Kinder unter dem Auge der Eltern. Man kann sie sogar aus dem Auge verlieren und eine Weile ihre Überwachung vergessen: sie werden doch nur unbedeutende Missetaten begehen. Denn der Zwang, der sie nötigt, das begangene Übel wieder gut zu machen, macht sie vorsichtig und nimmt ihnen bald die Gewohnheit, Schaden zu stiften.
Wenn man einmal die hinreichende Aufrichtigkeit gegen sich selbst erlangt hat, so folgt daraus noch keineswegs, dass man diese Aufrichtigkeit dem ersten Besten ausliefern muss. Der aufrichtigste und ehrlichste Mensch hat das Recht, anderen den grössten Teil dessen zu verbergen, was er denkt und empfindet. Wenn du nicht sicher bist, dass die Wahrheit, die du sagen willst, auch verstanden wird, so schweige lieber. Sie wird jedem anderen anders erscheinen, als sie in dir selber ist. Und wenn sie in einem anderen das Aussehen einer Lüge annimmt, so würde sie dort ebensoviel Unheil anrichten, wie eine wirkliche Lüge. Was auch immer die absoluten Moralisten darüber sagen mögen, so ist doch eines gewiss: sobald man nicht mehr auf der gleichen Bewusstseinsstufe lebt, erfordert jede Wahrheit, um den Eindruck der Wahrheit hervorzurufen, dass man sie mundgerecht mache. Selbst Jesus Christus war genötigt, die Mehrzahl der Wahrheiten, die er seinen Jüngern offenbarte, entsprechend umzugestalten. Denn wenn er zu Plato und Seneca zu sprechen gehabt hätte, statt zu den galiläischen Fischern, so hätte er ihnen wahrscheinlich Dinge gesagt, die von dem, was er gesprochen hat, recht verschieden gewesen wären. Man soll also einem jeden nur die Wahrheit sagen, die er in der Hütte oder in dem Palast, die er sich für die Wahrheiten seines Lebens erbaut hat, aufnehmen kann. Aber geben wir anderen immer zehn oder zwanzig mal mehr Wahrheiten, als sie uns in Tausch geben, denn hier wie unter allen Umständen gebührt es dem Erkennenden, der erste zu sein.
Die Herrschaft der Aufrichtigkeit beginnt erst dann, wenn diese Anpassung nicht mehr nötig ist. Erst dann tritt man in das privilegierte Reich des Vertrauens und der Liebe ein. Es ist wie eine entzückende Meeresküste, an der man sich hüllenlos zusammenfindet und unter den Strahlen einer wohltätigen Sonne badet. Bis zu jener Stunde hat man wie ein Schuldiger auf seiner Hut gelebt. Man wusste bis dahin noch nicht, dass jeder Mensch das Recht hat, so zu sein, wie er ist, dass man in seinem Geiste und Herzen und ebenso an seinem Leibe keinen Teil hat, dessen man sich schämen müsste. Man lernt bald, mit dem erleichterten Gefühl des Verbrechers, der für unschuldig erklärt wird, dass diese Teile, die er bisher glaubte verbergen zu müssen, eben die tiefsten Teile der Lebenskraft sind. Man steht nicht mehr allein mit dem Geheimnis seines Gewissens, und selbst die erbärmlichsten Geheimnisse, die man in ihm entdeckt, trüben nicht mehr, wie einst, sondern erhöhen die Liebe in dem holden und beständigen Licht, das der Bund zweier Seelen in ihm verbreitet.
Alle Gebrechen, alles Kleine, alle Schwächen, die man sich derart enthüllt, wechseln ihren Charakter mit ihrer Enthüllung, »und die grösste Sünde«, wie die Heldin eines Dramas sagte, »in einem aufrichtigen Kuss gebeichtet, wird zu einer schöneren Wahrheit, als die Unschuld selbst«. »Schöner?« – Ich weiss es nicht. Aber jünger, lebendiger, sichtbarer, tätiger und liebevoller.
In diesem Zustand kommen wir nicht mehr auf den Einfall, einen Hintergedanken, ein gewöhnliches oder verächtliches Hintergefühl zu verbergen. Diese können uns nicht mehr erröten lassen, denn indem wir sie eingestehen, strafen wir sie Lügen, trennen wir sie von uns ab und beweisen, dass sie uns nicht mehr angehören, dass sie an unserem Leben keinen Teil mehr haben, dass sie nicht mehr aus dem tätigen, gewollten, persönlichen Teil unserer Kraft entstehen, sondern aus dem ursprünglichen, gestaltlosen, unterjochten Wesen, das uns jetzt einen erheiternden Anblick gewährt, wie stets, wenn man das Spiel der instinktiven Naturkräfte beobachtet. Eine Bewegung des Hasses, der Selbstsucht und der einfältigen Eitelkeit, des Neides oder der Falschheit, am Lichte vollkommener Aufrichtigkeit geprüft, ist nur noch eine anziehende, eigenartige Blume. Wie das Feuer läutert diese Aufrichtigkeit alles, was sie umfasst. Sie ertötet die gefährlichen Keime, und aus der schlimmsten Ungerechtigkeit macht sie einen Gegenstand der Wissbegier, so harmlos wie das tödliche Gift in dem Glaskasten eines Museums. Man denke sich Shylock fähig, seinen Geiz zu erkennen und zu beichten, und er wird nicht mehr geizig sein, oder sein Geiz würde eine andere Gestalt annehmen und aufhören, abstossend und schädlich zu wirken.
Es ist überdies nicht unerlässlich, sich von eingestandenen Fehlern zu bessern. Denn es gibt solche, die sozusagen unserem Geist und unserem Charakter notwendig sind. Viele unserer Fehler sind sogar die Wurzeln vieler unserer Vorzüge. Aber die Erkenntnis und das Eingestehen dieser Fehler schlägt ihr Gift chemisch nieder, so dass es fortan auf dem Grunde unseres Herzens ruht, als ein träges Salz, dessen unschuldige Kristalle man mit Müsse studieren kann. …
Die läuternde Kraft des Geständnisses hängt von der Höhe der Seele ab, die es ablegt, aber auch von der Höhe der Seele, die es entgegennimmt. Ist das Gleichgewicht hergestellt, so erhöhen alle Geständnisse das Niveau des Glücks und der Liebe. Sobald sie eingestanden sind, verwandeln sich die alten und neuen Lügen, die schwersten Charakterfehler in unverhoffte Schmuckstücke, und wie schöne Statuen in einem Park werden sie zu lächelnden Zeugen und friedlichen Beweisstücken des hellen Tageslichts.
Wir alle sehnen uns nach dieser beglückenden Aufrichtigkeit. Aber wir fürchten lange, dass die, welche uns lieben, uns weniger lieben würden, wenn wir ihnen gestehen, was wir uns selbst kaum zu enthüllen wagen. Es dünkt uns, dass gewisse Geständnisse das Bild, das jene sich von uns machen, für immerdar entstellen würden. Wenn sie es aber in Wahrheit entstellten, so wäre das ein Beweis, dass wir nicht auf der gleichen Höhe geliebt werden, als wir selbst lieben. Wenn der, welcher das Geständnis entgegennimmt, sich nicht dazu aufschwingen kann, uns just dieses Geständnisses wegen noch mehr zu lieben, dann besteht ein Missverständnis in unserer Liebe. Nicht der, welcher das Geständnis ablegt, braucht zu erröten, sondern der, welcher nicht begreift, dass wir eben durch das Eingestehen eines Fehlers auch darüber hinaus sind. Nicht wir sind es mehr; ein Fremder steht an der Stelle, wo wir einen Fehler begangen haben. Wir haben diesen Fehler bereits aus unserm Dasein getilgt. Er befleckt nur noch den, der nicht zugeben will, dass er uns nicht mehr befleckt. Er hat nichts mehr gemein mit unserem wirklichen Leben. Wir sind nur noch sein zufälliger Zeuge und ebensowenig verantwortlich für ihn, wie ein gutes Erdreich für das Unkraut oder ein Spiegel für einen hässlichen Reflex, der ihn streift.
Ebensowenig dürfen wir fürchten, dass diese vollkommene Aufrichtigkeit, dieses durchsichtige Doppelleben zweier sich liebender Wesen den Hintergrund von Schatten und Mysterien zerstörte, den es auf dem Grunde jeder dauerhaften Zuneigung geben muss, noch dass sie den grossen geheimnisvollen See austrocknen wird, der auf dem Gipfel einer jeden Liebe den Wunsch nach gegenseitiger Erkenntnis nährt, jenen Wunsch, der nichts anderes ist als die leidenschaftliche Form des Wunsches, einander noch mehr zu lieben. Nein, dieser Hintergrund ist nichts als eine Art beweglicher und vorläufiger Zwischenwand, die zwar hinreicht, um jeder gewöhnlichen Liebe die Illusion des unendlichen Raumes zu geben. Wird sie aber entfernt, so erscheint hinter ihr der wirkliche Horizont mit dem wahren Himmel und Meer. Was aber den grossen geheimnisvollen See betrifft, so wird man bald gewahr, dass man bisher nur einige Tropfen Brackwasser aus ihm gewonnen hat. Er öffnet der Liebe seine heilkräftigen Quellen erst im Augenblick der Aufrichtigkeit. Denn die Wahrheit zwischen zwei Wesen ist unvergleichlich fruchtbarer, tiefer und unerschöpflicher als ihre Scheinheiligkeiten, Verheimlichungen und Lügen.
Und so fürchten wir denn nicht, unsere Aufrichtigkeit zu erschöpfen, und bilden wir uns nicht ein, dass es möglich sei, ihre äussersten Grenzen zu erreichen! Da, wo wir sie für absolut halten und als solche wollen, ist sie nur relativ; denn sie kann sich nur innerhalb der Grenzen unseres Bewusstseins kundgeben, und diese Grenzen verschieben sich täglich derart, dass die Handlung oder der Gedanke, die wir in den Farben wiedergeben, in denen wir sie im Augenblick des Geständnisses sehen, morgen eine ganz andere Tragweite haben können, als die wir ihnen heute zulegen. Ebenso kann auch die Handlung, der Gedanke oder die Empfindung, die wir heute nicht eingestehen, weil wir sie noch nicht wahrnehmen, morgen zum Gegenstand eines Geständnisses werden, das viel dringender und ernster sein kann, als alle bisher von uns abgelegten Geständnisse.