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VI. Das allgemeine Stimmrecht

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Buchschmuck Mehr und mehr scheint alles darauf hinzuweisen, dass die letzten Wahrheiten sich an den Endpunkten des Denkens finden, die der Mensch bisher absichtlich unerforscht liess. Man kann dies für die Moralwissenschaften wie für die positiven Wissenschaften behaupten; und es ist kein Grund vorhanden, die Politik, die doch nur eine Erweiterung der Moral ist, hiervon auszuschliessen.

Jahrhundertelang hat die Menschheit sozusagen auf halbem Wege zu sich selbst gelebt. Tausend Vorurteile, allen voran die riesenhaften religiösen Vorurteile, verhüllten ihr die Gipfel ihrer eigenen Vernunft und ihrer Gefühle. Heute, nach dem Verschwinden der Mehrzahl dieser künstlichen Berge, die sich zwischen ihren Augen und ihrem wahren Geisteshorizont erhoben, wird sie sich gleichzeitig ihrer selbst und ihrer Stellung im Weltall wie auch des Zieles bewusst, nach dem sie trachtet. Sie beginnt zu begreifen, dass alles, was nicht ebenso weit geht wie die logischen Schlussfolgerungen ihres Verstandes, nur ein eitles Spiel auf dem Wege ist. Sie sagt sich, dass sie den Weg, den sie heute nicht zurücklegt, morgen zurücklegen muss, und dass sie ihre Zeit auf den einzelnen Abschnitten verliert, ohne etwas anderes zu gewinnen als ein wenig trügerischen Frieden.

Es ist in unser Wesen eingeschrieben, dass wir Endpunkte und Gipfel sind; darin liegt unsere Kraft und der Grund unserer Fortschritte. Wir drängen mit Notwendigkeit und ganz instinktiv nach den letzten Grenzen unseres Wesens. Wir fühlen uns nur dann wirklich lebendig und können uns das Leben nur dann zu unserer Befriedigung gestalten, wenn wir bis an die äussersten Grenzen unserer Möglichkeiten gehen. Aus diesem immer klarer werdenden Instinkt entspringt ein immer einmütigeres Streben, nicht mehr bei den Lösungen halber Art stehen zu bleiben und die Versuche auf halber Höhe künftig zu unterlassen, oder vielmehr so schnell wie möglich über sie hinauszugehen.

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Damit ist nicht gesagt, dass dieses Streben nach dem Äussersten hinreicht, um uns zu endgültigen Gewissheiten zu führen. Es gibt stets zweierlei Extreme, zwischen denen wir zu wählen haben, und oft ist es schwer zu bestimmen, welches von beiden sich im Augenblick des Aufbruchs oder der Ankunft befindet. So haben wir uns in der Moral zwischen dem absoluten Altruismus oder Egoismus zu entscheiden, und in der Politik zwischen der besten Regierung, die man sich vorstellen kann, die die geringsten Handlungen unseres Lebens leitet und schützt, und der absoluten Regierungslosigkeit. Diese beiden Fragen sind noch unlösbar, obwohl die Annahme erlaubt ist, dass der absolute Altruismus extremer ist und dem Ziel unserer Gattung näher steht als der absolute Egoismus, ebenso wie die Regierungslosigkeit extremer ist und der Vollkommenheit unserer Gattung näher steht als die bis ins kleinste noch so tadellos durchgeführte Regierungsform, so wie man sie sich etwa am letzten Ziel des unentwegten Sozialismus denken mag. Es ist erlaubt, dies zu glauben, weil der absolute Altruismus und die Regierungslosigkeit diejenigen Extreme sind, die den vollkommeneren Menschen erheischen. Und nach dem vollkommenen Menschen haben wir unsere Blicke zu richten, denn in dieser Richtung müssen wir hoffen, dass die Menschheit sich bewegt. Die Erfahrung spricht noch nicht dagegen, dass man weniger Gefahr läuft, sich zu täuschen, wenn man den Blick vorwärts anstatt rückwärts richtet, wenn man zu hoch anstatt zu tief blickt. Alles, was wir bisher errangen, ist von denen angekündigt und sozusagen herbeigerufen worden, die man im Anfang beschuldigte, zu hoch zu blicken. Wenn also Zweifel bestehen, so tut man klug, sich an dasjenige Extrem zu halten, das die vollkommenste, edelste und hochherzigste Menschheit voraussetzt. Derart konnte man auf die Frage, ob es gut sei, den Menschen trotz ihrer gegenwärtigen Unzulänglichkeit eine möglichst vollständige Freiheit zu geben, die Antwort erteilen: »Jawohl, alle, deren Gedanken der bewusstlosen Masse vorauseilen, haben die Pflicht, alles zu zerstören, was die menschliche Freiheit behindert, gleich als ob alle Menschen die Freiheit verdienten; wiewohl man doch weiss, dass sie erst lange nach ihrer Befreiung der Freiheit würdig sein werden. Der harmonische Gebrauch der Freiheit lässt sich nur durch langen Missbrauch ihrer Segnungen erwerben. Nur indem man von Anfang an nach dem fernsten und höchsten Ideal strebt, hat man grosse Wahrscheinlichkeit, im Laufe der Zeit das beste Ideal zu entdecken.« Und was von der Freiheit wahr ist, das gilt in gleicher Weise von den anderen Menschenrechten.

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Will man dieses Prinzip auf das allgemeine Stimmrecht anwenden, so muss man sich zuvor die politische Entwicklung der modernen Völker vergegenwärtigen. Die Linie dieser Entwicklung ist überall gleichmässig und unbeugsam. Eines nach dem anderen dieser Völker entrinnt der Tyrannis. Eine mehr oder minder aristokratische oder plutokratische Regierung, mit beschränktem Stimmrecht erwählt, tritt an die Stelle des absoluten Herrschers, und diese Regierungsform wird ihrerseits wieder fast überall überwunden von der Herrschaft aller durch das allgemeine Stimmrecht. Wohin wird uns dieses führen? Zur Tyrannis zurück? Oder wird es sich in ein Klassenwahlsystem umwandeln? In eine Art von Mandarinentum, in die Herrschaft einer Elite oder in den organisierten Anarchismus? Wir wissen es noch nicht, denn bis heute ist kein Volk über die Phase des allgemeinen Stimmrechtes hinausgekommen.

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Unter dem Zwange des mächtigen Zeitgesetzes, das uns zum Äussersten drängt, zerstört man fast überall die Zwischenstufen, um sobald wie möglich das anscheinend höchste politische Ideal der Völker zu erreichen: das allgemeine Stimmrecht. Dieses Ideal verdeckt noch völlig das bessere Ideal, das sich wahrscheinlich hinter ihm verbirgt, und erscheint noch nicht als das, was es vielleicht ist, nämlich als eine provisorische Lösung. Es wird solange, bis alle in ihm enthaltenen Illusionen erschöpft sind, die Blicke und Wünsche der Menschheit auf sich lenken. Es ist das notwendige, gute oder böse Ziel, dem die Völker entgegengehen. Es ist unerlässlich für den Gerechtigkeitsinstinkt der Masse, dass diese Entwicklung sich vollzieht. Alles, was ihm im Wege steht, ist nur ein vorübergehendes Hindernis. Alles, womit man dieses Ideal zu verbessern vorgibt, bevor es erreicht ist, bringt uns zurück in die Irrtümer der Vergangenheit. Wie jedes allgemeine und gebieterische Ideal, das sich in den namenlosen Tiefen des Lebens bildet, hat es zuerst das Recht, sich zu verwirklichen. Wenn man nach geschehener Verwirklichung gewahr wird, dass es nicht hält, was es versprach, so ist es recht und billig, an seine Verbesserung oder seine Ersetzung zu denken. Inzwischen aber ist es in den Instinkt der Masse eingeschrieben, so unzerstörbar wie in Bronze, dass alle ein natürliches Recht darauf haben, diese Entwicklungsphase des menschlichen Polypenstocks durchzumachen, und dass ein jeder für sich, in seiner Sprache, mit seinen besonderen Tugenden und Fehlern die Glücksmöglichkeiten, die sie bringt, erproben darf.

Darum auch ist dieses Ideal, von der Pflicht zu leben erfüllt, mit gutem Grund eifersüchtig, unduldsam und übertrieben. Wie jeder noch junge Organismus stösst es heftig alles ab, was die Reinheit seines Blutes gefährden kann. Es ist möglich, dass die der Monarchie oder Aristokratie entlehnten Elemente, die man seinen jungen Adern einzuflössen sucht, an sich vortrefflich sind; sie sind ihm trotzdem schädlich, weil sie ihm das Übel einimpfen, von dem es sich erst zu heilen hat. Ehe die Herrschaft Aller verständiger, klarer und harmonischer wird durch Beimischung anderer Regierungsformen, muss sie sich durch ihre eigene Gärung geläutert haben. Erst wenn sie alle Spuren und Erinnerungen der Vergangenheit ausgeschieden hat, erst wenn sie in der Sicherheit und Lauterkeit ihrer Kraft geherrscht hat, ist es angezeigt, sie in dieser Vergangenheit auswählen zu lassen, was ihrer eigenen Zukunft erspriesslich ist. Sie wird es mit ihrem natürlichen Hunger auswählen, denn dieser hat, wie der natürliche Hunger jedes Wesens eine sichere Kenntnis dessen, was dem Mysterium des Lebens frommt.

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Die Völker haben also recht, vorläufig alles zurückzuweisen, was vielleicht besser ist, als das allgemeine Stimmrecht. Es ist möglich, dass die Masse mit der Zeit einsieht, dass die Intelligentesten das allgemeine Wohl besser erkennen als die anderen und besser regieren. Sie wird ihnen alsdann ein rechtmässiges Übergewicht verleihen. Augenblicklich denkt sie noch nicht daran. Sie hat noch keine Zeit gehabt, sich selbst zu erkennen und erschöpfende Versuche anzustellen, die absurd erscheinen mögen, aber doch notwendig sind, weil sie die Stätte freilegen, wo sich wahrscheinlich die letzten Wahrheiten verbergen.

Es ist mit den Völkern wie mit den Einzelnen: nur das zählt mit, was sie aus sich selbst und auf eigene Kosten lernen, und die Irrtümer der Gegenwart bilden den Schatz der Zukunft. Es ist vergebens, einem Kind oder Jüngling einzuschärfen: »Lüge nicht, täusche nicht, tue niemand etwas zu leide!« Diese Weisheitslehren, die zugleich Glückslehren sind, durchdringen nur dann den Menschen, nähren nur dann sein Denken und werden nur dann zu wohltätigen Wirklichkeiten, wenn das Leben sie ihm als neue, herrliche Wahrheiten offenbart, die vordem keiner geahnt hat. Genau so ist es vergebens, einem Volke, das sein Schicksal sucht, immerzu vorzupredigen: »Glaubt nicht, dass die Zahl recht hat, dass eine Lüge aus hundert Kehlen keine Lüge mehr ist, dass ein Irrtum einer Schar von Blinden zu einer von der Natur geheiligten Wahrheit wird. Noch minder glaubt, dass Ihr etwas wisst, wenn Ihr Euch zu Zehntausend gegen einen einzigen Wissenden stemmt, oder dass Ihr das bescheidenste Weltgesetz zwingen könnt, Euch zu folgen und ihn, der es erkannte, im Stich zu lassen. Nein, das Gesetz wird seinen Platz an der Seite des Weisen behaupten, der es entdeckte, und es ist Euer eigener Schade, wenn Ihr Euch alle von ihm entfernt, ohne es angenommen zu haben! Ihr werdet es eines Tages auf Eurem Wege wieder antreffen, und das, was Ihr getan habt, um es abzuwenden, wird sich gegen Euch kehren.«

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Was man so zu der Menge spricht, ist sehr wahr; aber ebenso wahr ist es, dass dies alles erst dann eine Wirkung hat, wenn es erlebt und erfahren worden ist. In diesen Problemen, in denen alle Lebensrätsel zusammenmünden, behält die irrende Menge fast immer recht gegen den Weisen, der recht hat. Sie weigert sich, ihm aufs Wort zu glauben. Sie fühlt dunkel heraus, dass hinter den augenscheinlichsten abstrakten Wahrheiten unzählige lebendige Wahrheiten stehen, die kein Hirn vorhersehen kann; denn sie bedürfen der Zeit, der Wirklichkeit und der menschlichen Leidenschaften, um ihre Wirksamkeit zu offenbaren. Und darum mag man sie auch warnen, wie man will, und ihr vorpredigen, was man will, sie verlangt vor allem, dass man es auf die Probe ankommen lasse. Können wir sagen, dass sie dort, wo sie dies erreicht hat, unrecht hatte, es zu verlangen? Es bedürfte einer Spezialuntersuchung, um zu prüfen, welchen Vorteil das allgemeine Stimmrecht der allgemeinen Intelligenz, dem öffentlichen Gewissen, der Volkswürde und dem bürgerlichen Gemeinsinn der Völker gebracht hat, die diese Einrichtung besitzen; aber wenn dadurch auch weiter nichts erreicht ist, als jenes Gefühl wahrer Gleichheit, wie in Frankreich und Amerika, das man dort einatmet wie eine menschlichere und reinere Atmosphäre, und das denen, die von wo anders kommen, neu und fast wunderbar erscheint, so wäre dies bereits eine Wohltat, die seine schlimmsten Irrtümer verzeihlich machte; und jedenfalls ist es die beste Vorbereitung auf das, was da kommen muss.

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