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Der Mensch in seinem Durst nach Gerechtigkeit versucht auf tausend verschiedene, oft empirische, bisweilen kluge, in anderen Fällen wunderliche und abergläubische Weise den Schatten der grossen Göttin zu beschwören, die er zu seinem Dasein nötig hat. Eine seltsame, unfassliche, und doch so lebendige Göttin! Eine unstoffliche Gottheit, die nur im Geheimnis unseres Herzens erstehen und sich behaupten kann, und von der man sagen kann, dass sie um so weniger wirkliche Macht besitzt, je mehr sichtbare Tempel sie hat. – Vielleicht kommt noch ein Tag, wo sie keine anderen Gebäude mehr bewohnen wird, als unser menschliches Gewissen; und von diesem Tage wird sie wahrhaft herrschen, in dem Schweigen, welches das geheiligte Element ihres Lebens ist. Inzwischen vermehren wir die Organe, durch die wir hoffen, dass sie sich vernehmlich machen wird. Wir leihen ihr feierliche, menschliche Stimmen, und wenn sie in den Anderen, ja selbst in uns selbst schweigt, so befragen wir sie jenseits unseres eigenen Gewissens, an den ungewissen Grenzen unseres Wesens, dort, wo wir einen Teil des Zufalls erraten und wo wir glauben, dass die Gerechtigkeit mit Gott und unserm eigenen Schicksal verschmilzt.
Dies unersättliche Bedürfnis liess einst in Fällen, wo die Gerechtigkeit stumm blieb und sich für ohnmächtig erklärte, das Gottesurteil entscheiden. Heute hat die Vorstellung, die wir uns von der Gottheit machten, sich nach Form wie Inhalt geändert, aber der Instinkt ist der gleiche geblieben, so allgemein und so tief, dass er vielleicht nur der halbdurchsichtige Schleier einer nahenden Wahrheit ist. Wenn wir uns nicht mehr zu Gott flüchten, damit er das billige oder verdamme, was die Menschen nicht richten können, so vertrauen wir diese Aufgabe dem Unbewussten, Unerkennbaren und gleichsam Zukünftigen in uns selbst an. Der Zweikampf ruft nicht mehr Gottes Urteil an, sondern das unserer Zukunft, unseres Glücks oder Schicksals, das sich aus allem Unbestimmten in uns zusammensetzt. Es wird im Namen unserer guten oder schlechten Möglichkeiten aufgefordert, zu erklären, ob wir vom Standpunkte des unerklärlichen Lebens Recht oder Unrecht haben.
Das ist das unauslöschlich Menschliche, was allen Absurditäten und Kindereien unserer gegenwärtigen Duelle zu grunde liegt. So unvernünftig uns diese Art von Berufung an die höchste Instanz des Lebens auch erscheinen mag, diese Frage an die Nacht, in der keine menschliche Gerechtigkeit mehr leuchtet, man wird doch nicht ganz darauf verzichten können, solange sich nicht eine weniger zweischneidige Art und Weise findet, das Recht und Unrecht, die wesentlichsten Hoffnungen und Ungleichheiten zweier sich messender Menschenlose abzuwägen.
Übrigens steht es fest – um in diese Gebiete hinabzusteigen, die von mehr oder minder gefährlichen Truggestalten bevölkert sind – es steht vom praktischen Gesichtspunkt fest, dass der Zweikampf, d. h. die Möglichkeit, sich ausserrechtlich und doch in aller Form Gerechtigkeit zu verschaffen, einem unleugbaren Bedürfnis entspricht. Wir leben nicht im Schosse einer Gesellschaft, die uns genug Schutz bietet, um uns dieses Recht, das dem menschlichen Instinkt das teuerste ist, unter allen Umständen zu nehmen.
Ich brauche die Fälle, wo der Rechtsschutz unzureichend ist, wohl nicht erst aufzuzählen. Die, wo er hinreicht, wären schneller aufgezählt. Ohne Zweifel wäre es für solche, die schwach und wehrlos sind, zu wünschen, dass es anders wäre, aber für die, welche sich zu verteidigen vermögen, ist es sehr heilsam, dass es so ist, wie es ist, denn nichts schläfert die Initiative und den Charakter mehr ein, als ein übereifriger und allzu beständiger Rechtsschutz. Vergessen wir nicht, dass wir vor allem kampf- und beutelustige Wesen sind und dass man sich hüten muss, diese Eigenschaften des Urmenschen vollständig in uns zu ersticken, denn die Natur hat sie nicht ohne Grund in uns gelegt. Wenn es auch klug ist, ihre Exzesse zu beschränken, so ist es ebenso weise, ihr Prinzip nicht zu unterdrücken. Wir wissen nicht, welche Rückfälle in kriegerische Zeiten uns die Elemente oder andere Kräfte des Weltalls noch vorbehalten haben, und wehe uns wahrscheinlich, wenn sie uns eines Tages finden werden, ganz bar des Geistes der Rache, des Misstrauens und Zornes, der Brutalität und Streitbarkeit, und vieler anderer Untugenden, die vom Standpunkte der Humanität gewiss sehr tadelnswert sind, die uns aber weit mehr als die vielgerühmtesten Tugenden der Enthaltung zum Sieg über die grossen Feinde unserer Gattung verholfen haben.
Im allgemeinen gebührt denen, die sich nicht ungestraft verletzen lassen, alles Lob. Sie unterhalten in uns ein ausserrechtliches Gerechtigkeitsideal, aus dem wir alle Nutzen ziehen, und das sich bald verflüchtigen würde, wenn sie es nicht hielten. Beklagen wir vielmehr, dass sie nicht zahlreicher sind. Wenn es etwas weniger gute Seelen gäbe, die sich zu rächen vermögen, aber allzurasch verzeihen, so würden weit weniger schlechte Menschen vorhanden sein, die allzurasch Böses tun; denn drei Viertel alles Bösen, das geschieht, entspringt aus dem sicheren Gefühl der Straflosigkeit. Zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Respekts und der Furcht, die den Unglücklichen und Wehrlosen gestattet, in einer Gesellschaft, in der die Schurken und Feiglinge gedeihen, einigermassen sicher zu leben und frei zu atmen, ist es die strikte Pflicht aller derer, die imstande sind, der straflosen Ungerechtigkeit Widerstand zu leisten, dies niemals zu versäumen. Sie erheben dadurch das Niveau der immanenten Gerechtigkeit um ein beträchtliches. Indem sie sich selbst zu verteidigen wähnen, verteidigen sie im ganzen genommen das Kostbarste des menschlichen Erbteils. Ich will nicht sagen, dass es in der Mehrzahl der Fälle nicht besser wäre, wenn die Gerichte eingriffen, aber bis unsere Gesetze einfacher, praktischer, weniger kostspielig und mehr volkstümlich werden, haben wir gegen eine gewisse Zahl von sehr greifbaren Ungerechtigkeiten, die im Gesetzbuche nicht vorgesehen sind, kein anderes Mittel als die Faust und die Waffe.
Die Faust ist rasch und wirkt unmittelbar, aber abgesehen davon, dass sie nichts beweist, zeigt sie mit dem Augenblick, wo die Rechtsverletzung etwas ernster ist, sich wirklich als zu harmlos und von zu kurzer Wirkung; schon ihre Bewegungen sind etwas vulgär und ihre Folgen ziemlich widerlich. Sie bringt nur eine brutale Fähigkeit zu Ehren. Sie ist die blindeste und ungleichste Waffe, und wie sie allen Bedingungen Hohn spricht, welche die Chancen zweier ungleicher Gegner ausgleichen könnten, hat sie von Seiten des Unterlegenen eine übertriebene Gegenrache zur Folge und lässt ihn zu Stock, Messer und Revolver greifen.
In manchen Ländern, wie in England, ist das Faustrecht etwas Zulässiges. Das Boxen gehört zur elementaren Erziehung, und seine allgemeine Pflege gleicht die natürlichen Ungleichheiten merkwürdig aus; zudem bestärkt eine ganze Organisation von Klubs, von wohlwollenden Schwurgerichten und nachsichtigen Richtern seine Ausübung oder leistet ihr Vorschub. In Frankreich wäre es schade, wenn man darauf zurückkäme. Der Degen, der seit unvordenklichen Zeiten an Stelle des Faustkampfes trat, ist als Instrument der Gerechtigkeit ungleich feiner, ernster, anmutiger und anständiger. Man wirft ihm vor, dass es weder gerecht noch beweiskräftig ist. Aber er beweist zunächst einmal unsere Haltung gegenüber der Gefahr, und das ist schon ein Beweis, der seinen Wert hat. Denn unsere Haltung gegenüber der Gefahr ist genau dieselbe wie die gegenüber den Vorwürfen oder den Anfeuerungen der verschiedenen Gewissen, die sich in uns verbergen; derer, die über, und derer, die unter unserem intelligiblen Gewissen liegen und mit den grundlegenden Elementen unseres Wesens verschmelzen, die sozusagen mit dem Weltall verknüpft sind. Zweitens liegt es nur an uns, dass er ebenso gerecht werden kann, wie nur irgend ein menschliches Instrument, das Zufällen, Irrtümern und Mängeln ausgesetzt ist. Es ist klar, dass seine Handhabung von jedem gesunden Manne erlernt werden kann. Er erfordert weder übertriebene Muskelkraft noch aussergewöhnliche Behendigkeit. Es genügt auch für die Ungewandtesten, sich wöchentlich zwei bis drei Stunden mit ihm zu beschäftigen, um die erforderliche Geschmeidigkeit und Sicherheit zu erlangen und schnell genug seine »persönliche Gleichung« zu entdecken, wie die Astronomen sagen würden, d. h. seinen individuellen Durchschnitt, der zugleich der allgemeine Durchschnitt ist und nur von einigen Raufbolden und Müssiggängern infolge langer, mühseliger und sehr undankbarer Anstrengungen übertroffen werden würde.
Ist dieser Durchschnitt erreicht, so können wir unser Leben getrost der Spitze der schwachen, aber furchtbaren Klinge überlassen. Sie ist die Zauberin, die alsbald neue Beziehungen zwischen zwei Kräften schafft, die miteinander zu vergleichen keinem eingefallen wäre. Sie gestattet dem Zwerg, der recht hat, dem Koloss, der unrecht hat, die Stirn zu bieten. Sie führt die stierhörnige, rohe Gewalt anmutig auf klarere Höhen, auf denen die primitive Bestie gezwungen wird, vor einer Macht innezuhalten, die nichts mehr gemein hat mit den niedrigen ungeschlachten, tyrannischen Gewalten der Erde, der Schwerkraft, der Masse, der Quantität und der stupiden Kohäsion der Materie. Zwischen ihr und der Faust liegt eine ganze Welt, ein Meer von Jahrhunderten und fast der Abstand zwischen Tier und Mensch. Sie ist Stahl und Geist, Verstand und Eisen. Sie unterwirft die Muskel dem Gedanken und zwingt das Denken, die ihm dienende Muskel zu achten. Sie ist ideal und positiv, phantastisch und mit gesundem Menschenverstand begabt. Sie ist klar und blendend wie der Blitz, sie ist schmeichelnd, unfassbar und vielgestaltig wie ein Sonnen- oder Mondstrahl. Sie ist treu und launisch, edel und verschlagen, rechtschaffen und treulos. Mit einem Lächeln streift sie Hass und Rache und verklärt die Brutalität. Dank ihr zieht, wie durch eine märchenhafte Hängebrücke über den Abgrund der Finsternisse, der Mut, das Gefühl des guten Rechtes, die Geduld, die Verachtung der Gefahr, die Hingebung an die Liebe, an den Gedanken, kurz, eine ganze Moralwelt in das ursprüngliche Chaos ein, um es zu bezwingen und zu organisieren. Sie ist die menschliche Waffe vor allen; ja wenn alle anderen erprobt wären und sie selbst noch nicht vorhanden wäre, so müsste sie erst erfunden werden, weil sie den mannigfachsten und rein menschlichsten Fähigkeiten des Menschen am besten dient und das unmittelbarste, handlichste und redlichste Instrument seines Verstandes, seiner Kraft und seiner abwehrenden Gerechtigkeit ist.
Aber was das Schönste ist: ihre Entscheidungen sind nicht mechanisch noch mathematisch vorherbestimmt. Sie ähnelt dadurch dem wunderbaren Gemisch von Zufall und Wissenschaft, das im Glücksspiel herrscht, dieser fast mystischen und stets leidenschaftlichen Frage an das Schicksal, die der Mensch an den Grenzen seines Wesens zu stellen liebt, um sein persönliches Glück zu erproben.
Stellt man zwei Gegner mit offenbar ungleichen Kräften gegenüber, so ist es weder unvermeidlich noch auch gewiss, dass der Stärkste und Geschickteste den Sieg davon trägt. Sobald wir unsere persönliche Meisterschaft erworben haben, wird unser Degen zu einem Stück von uns selbst mit unseren Mängeln und Eigenschaften. Er ist unsere Festigkeit, unsere Hingebung, unser Wille, unsere Kühnheit, unsere Überzeugung, unsere Gerechtigkeit, unser Zaudern, unsere Ungeduld und unsere Furcht. Wir haben ihn sorgfältig führen gelernt. Wir haben uns zur Höhe aller Möglichkeiten aufgeschwungen, die er uns zu bieten hatte. Wir haben ihm alles gegeben, dessen wir Herr waren, und er gibt uns ohne Abzug wieder, was wir ihm anvertraut hatten. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wir sind mit dem Instinkt und der Pflicht der Selbsterhaltung im reinen. Aber er vertritt noch etwas anderes und gerade den Teil unseres Wesens, den wir für die schweren Stunden des Daseins aufgespart haben. Er personifiziert einen unbekannten Teil unseres Lebens, und zwar unter den günstigsten und feierlichsten Umständen, die der Mensch sich ausdenken kann, um sein Geschick zu befragen, nämlich in dem Augenblick, wo die geheimnisvolle Wesenheit, die in ihm lebt, von allen dem Bewusstsein unterworfenen Fähigkeiten unmittelbar unterstützt wird.
Er stellt also nicht nur zwei Kräfte, zwei Intelligenzen, zwei Freiheiten gegenüber, sondern auch zwei Zufälle, zwei Arten von Glück, zwei Mysterien und zwei Geschicke, die über den Rest hinweg, wie die homerischen Götter, dem Kampfe vorsitzen, an der Klinge entlang laufen, funkeln und sich kreuzen. Wenn diese vor uns ins Leere zu schlagen scheint, so schlägt sie tatsächlich an die Tore unseres Schicksals, und während der Tod um sie losgebunden ist, fühlt der, welcher sie führt, dass sie sich ihrer früheren Knechtschaft entzieht und plötzlich anderen Gesetzen gehorcht, als auf dem Fechtboden. Sie vollzieht einen geheimnisvollen Beruf, und bevor sie ihren Spruch fällt, richtet sie uns, oder besser, dadurch, dass wir sie vor dem grossen und furchtbaren Rätsel auf Tod und Leben führen, zwingt sie unser Schicksal, uns zu richten.