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VII. Das moderne Drama

Buchschmuck

Buchschmuck Wenn ich vom modernen Drama spreche, so habe ich selbstverständlich nur das Drama im Auge, das in den wahrhaft neuen und noch wenig betretenen Gebieten der dramatischen Literatur zu finden ist. Zwar macht sich der Einfluss dieses neuen Dramas auch weiter unterhalb im gewöhnlichen Theater auf das gewöhnliche und traditionelle Bühnenstück geltend, wenn auch freilich nur sehr langsam; aber wozu soll man sich bei diesen Nachzüglern aufhalten, wenn man Gelegenheit hat, die Spitzen der Vorhut zu befragen?

Eines fällt bei dem heutigen Drama auf den ersten Blick auf: die fortschreitende Abschwächung und Lähmung der äusseren Handlung zu Gunsten der unverkennbaren Tendenz, das menschliche Seelenleben tiefer zu erfassen und den moralischen Problemen einen weiteren Spielraum zu geben; Hand in Hand damit geht ein noch tastendes Suchen nach einer neuen Poesie, die geistiger und abstrakter ist, als die alte.

Es ist unmöglich zu verkennen, dass es auf der gegenwärtigen Bühne viel weniger gewaltsam und aussergewöhnlich zugeht, als auf der der Vergangenheit. Es wird seltener Blut vergossen, die Leidenschaften sind weniger auf die Spitze getrieben, das Heldentum nicht so rauh, der Mut nicht so wild und körperlich. Man stirbt zwar noch auf der modernen Bühne, denn auch in der Wirklichkeit wird man immer sterben; aber der Tod ist doch nicht mehr der unerlässliche Rahmen, das unumgängliche Ziel, die ultima ratio aller dramatischen Gedichte, – oder wird es doch hoffentlich bald nicht mehr sein. Denn auch in unserem Leben, – das vielleicht grausam ist, aber doch nur auf eine verborgene und schweigsame Weise, – kommt es immer seltener vor, dass die Krisen, die wir durchmachen, und seien sie noch so gewaltsam, mit dem Tode endigen. Und das Theater, das sich freilich mehr Zeit nimmt, als alle anderen Künste, den Wandlungen des menschlichen Bewusstseins zu folgen, sollte dieser Entwicklung doch schliesslich in gewissem Masse Rechnung tragen.

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Es steht ausser Zweifel, dass die Fabeln der antiken Schicksalstragödie, auf der das ganze klassische Theater beruht, dass ferner die italienischen, spanischen, skandinavischen oder rein sagenhaften Fabeln, die allen Stücken der Shakespeareschen Epoche sowie denen der französischen und deutschen Romantik zu Grunde liegen – um doch auch diese unendlich weniger wurzelhafte Kunst mit ein paar Worten zu berühren, – es steht ausser Zweifel, sage ich, dass diese Fabeln für uns nicht mehr das unmittelbare Interesse haben, das sie damals boten, als sie täglich vorkamen, ungekünstelt möglich waren, oder doch zum mindesten von Umständen, Empfindungen und Sitten abhingen, die aus dem Geiste derer, denen sie vorgeführt wurden, noch nicht gänzlich verschwunden waren.

Aber heutzutage entsprechen diese Geschichten keiner tiefen, lebendigen und zeitgemässen Wirklichkeit mehr. Wenn heute ein Jüngling liebt, und es treten seiner Liebe Hindernisse entgegen, die – mutatis mutandis – denen entsprechen, mit denen Romeo zu kämpfen hatte, so lässt sich mit Bestimmtheit voraussagen, dass nichts von dem, was die Poesie und Grösse der Liebe Romeos und Julias ausmacht, seine Erlebnisse verschönern wird. Er lebt nicht mehr in jener berauschenden und leidenschaftdurchtränkten Atmosphäre der vornehmen Welt; es wird zu keinen Kämpfen in malerischen Strassen mehr kommen; keine prunkvollen fürstlichen Eingriffe oder blutigen Zwischenfälle werden geschehen, keine geheimnisvollen Gifte wirken, keine feierlichen Grabkapellen sich gefällig auftun. Keine heroische Sommernacht wird sich über den Liebenden spannen; denn sie war nur deshalb so heroisch, so duftig und eindrucksvoll, weil der Schatten eines unvermeidlichen heroischen Todes auf ihr lag. Man nehme der Geschichte von Romeo und Julia diesen ganzen schönen Schmuck, und es bleibt nichts, als die höchst alltägliche und simple Liebesgeschichte eines unglücklichen, edelmütigen Jünglings, der ein Mädchen liebt, aber von den starrköpfigen Eltern abgewiesen wird. All die Poesie, all der Glanz, all das individuelle Leben dieser Leidenschaft ist nichts ohne die Pracht, die Vornehmheit und die Tragik des Milieus, in dem sie sich entwickelt, und kein Kuss wird gegeben, kein Liebesgeflüster ausgetauscht, kein Wut-, Schmerzens- oder Verzweiflungsschrei laut, der nicht all seine Grösse, Anmut und Lieblichkeit, seinen Heroismus und die Bilderpracht seines Ausdrucks von den ihn umgebenden Gegenständen und Wesen erborgte. Denn die Schönheit und Süsse eines Kusses u. s. w. liegt nicht so sehr in dem Kusse selbst, als in dem Orte, der Stunde und den Umständen, unter denen er gegeben wird. Und wenn man einen Menschen unserer Tage mit der Eifersucht Othellos, dem Ehrgeiz Macbeths, dem Unglück Lears, der Unentschlossenheit und Unruhe Hamlets begabte, der einer quälenden und unerfüllbaren Pflicht erliegt, so würde man auch hier dieselbe Erfahrung machen.

Ein derartiges Milieu ist heute nicht mehr möglich. Die Tragödie eines modernen Romeo würde – wenn man nur das rein Stoffliche in Betracht zieht, das ihr zu Grunde liegt – kaum zwei Akte füllen. Nun wird man freilich einwenden, dass ein moderner Dichter, der die Absicht hat, ein derartiges Gedicht der Jugendliebe auf die Szene zu bringen, das unbestreitbare Recht hat, sich in der Vergangenheit nach einem dekorativer wirkenden und an heroisch-tragischen Möglichkeiten reicheren Milieu umzusehen, als die Gegenwart es bieten kann. Dies steht ihm gewiss frei; aber was ist das Ergebnis seines Verfahrens? Dass Gefühle und Leidenschaften, die, um sich zu entwickeln und auszuleben, der heutigen Atmosphäre bedürfen – denn die Gefühle und Leidenschaften eines modernen Dichters, mag er wollen oder nicht, sind völlig und ausschliesslich modern – plötzlich in eine Welt verpflanzt werden, wo ihnen jeder Lebensfaden abgeschnitten ist. Sie sind nicht mehr vom Glauben erfüllt, – und man legt ihnen die Hoffnung auf Lohn und die Furcht vor ewigen Strafen bei. Sie verlassen sich in ihrer Trübsal auf eine Menge von neuen, rein menschlichen Kraftquellen, die gerecht und gewiss sind, – und sie sehen sich plötzlich in ein Jahrhundert versetzt, wo sich alles durch Gebet oder Degen entscheidet. Sie haben sich – vielleicht unbewusst – alle unsere moralischen Errungenschaften zu eigen gemacht, – und plötzlich stösst man sie wieder in Zeiten zurück, wo die geringste Gebärde durch Vorurteile bestimmt wird, die sie zum Zittern oder Lachen bringen müssen. Was soll daraus werden, und wie kann man hoffen, dass sie dort wirklich leben können?

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Aber halten wir uns nicht länger bei diesen notwendigerweise gekünstelten Dichtungen auf, die aus jener unmöglichen Verkuppelung von Vergangenheit und Gegenwart entstehen. Nehmen wir das Drama, das wirklich unserer Wirklichkeit entspricht, wie die griechische Tragödie der griechischen Realität und das Drama der Renaissance den Wirklichkeiten der Renaissance entsprach. Es spielt sich in einem modernen Hause unter Männern und Frauen von heute ab. Die Namen der unsichtbaren Handelnden, welches die Gefühle und Leidenschaften sind, haben sich kaum verändert. Man sieht nach wie vor Liebe, Hass, Ehrgeiz, Neid, Habsucht, Eifersucht, Gerechtigkeitsgefühl, Pflichttreue, Mitleid, Frömmigkeit, Güte, Hingebung, Gleichgültigkeit, Selbstsucht, Hochmut, Eitelkeit u. s. w. Aber wenn die Namen auch fast die gleichen geblieben sind, wie sehr haben sich doch die Eigenschaften, das Aussehen, der Umfang, der Einfluss und die inneren Gewohnheiten dieser Gewalten gewandelt! Sie haben nicht mehr eine einzige ihrer Waffen, nichts mehr von ihrem wunderbaren Schmuck von ehedem! Es gibt fast nie mehr einen Schrei, fast nie mehr Blut und sichtbare Tränen. Glück und Unglück der Menschen entscheiden sich im engen Zimmer, an einem Tische, am Kamin. Man liebt, leidet, macht leiden und stirbt auf einem Flecke, in seinem Winkel, und es ist ein grosser Zufall, wenn unter dem Druck einer ausserordentlichen Verzweiflung oder eines seltenen Glückes eine Tür oder ein Fenster sich einen Augenblick öffnet. Es gibt keine Schönheit des Zufalls und des Milieus, es gibt keine äussere Poesie mehr, – und welche Poesie, wenn man den Dingen auf den Grund geht, verdankt nicht allen ihren Zauber und all ihre Trunkenheit den äusseren Ursachen? – Endlich gibt es keinen Gott mehr, der die Handlung nach Willkür verlängert oder lenkt; es gibt kein unerbittliches Schicksal mehr, das selbst den unbezeichnendsten Gebärden des Menschen einen geheimnisvoll-tragischen und feierlichen Hintergrund verleiht und sie mit einem furchtbaren Dunkel umgibt, das imstande wäre, die entschuldbaren Menschen bis in ihre Verbrechen, ihre elendesten Schwächen hinein zu adeln.

Freilich bleibt uns ein furchtbares Unbekanntes, aber dieses ist so wechselnd, so launisch, so ungewiss, so willkürlich und so anfechtbar, sobald man es näher zu bestimmen sucht, dass es ebenso gefährlich ist, es zu beschwören, wie schwierig, sich seiner in ehrlicher Weise zu bedienen, um die Gebärden, Worte und Handlungen der Menschen, mit denen wir jeden Tag in Berührung kommen, ins Geheimnisvolle zu erheben. So hat man versucht, das ungeheure Rätsel der Vorsehung oder des Schicksals von ehedem bald durch das problematische und furchtbare Rätsel der Erblichkeit, bald durch das grandiose, aber unbeweisbare Rätsel der immanenten Gerechtigkeit und noch manche andere zu ersetzen. Aber kann man nicht beobachten, wie diese jungen, neugeborenen Rätsel uns bereits älter, willkürlicher und unwahrscheinlicher vorkommen, als die, deren Platz sie in einer Anwandlung von Hochmut eingenommen haben?

Wo aber soll man von jetzt ab die Grösse und Schönheit suchen, wenn man sie ja weder mehr in der sichtbaren Handlung, noch in den Worten findet, denen die fesselnde Bildlichkeit abhanden gekommen ist; – vorausgesetzt, dass man die Worte als eine Art von Spiegeln ansieht, welche die Schönheit ihrer Umgebung widerspiegeln; – und die Schönheit der neuen Welt, in der wir leben, scheint ihre Strahlen noch nicht bis zu diesen etwas trägen Spiegeln gesandt zu haben. Wo endlich soll man eine Poesie und einen Horizont finden, wenn es schier unmöglich ist, sie noch in einem Mysterium zu entdecken, das zwar stets vorhanden ist, aber sich sogleich verflüchtigt, wenn man ihm einen Namen zu geben versucht?

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Das moderne Drama ist sich, wie es scheint aller dieser Fragen dunkel bewusst geworden. Unfähig, wie es war, sich nach Aussen zu entladen, und jedes äusseren Schmuckes beraubt, zudem auch vor der Annahme eines bestimmten Gottes oder Schicksals zurückschreckend, hat es den Weg der Verinnerlichung gewählt und versucht, sich für seine Verluste auf dem Gebiete des dekorativen und nach aussen gerichteten Lebens durch Beschäftigung mit psychologischen und moralischen Problemen schadlos zu halten. Es ist tiefer in das menschliche Bewusstsein eingedrungen; hier aber ist es auf eigentümliche und unerwartete Hindernisse gestossen.

Dem Denker, dem Moralisten, dem Romanschriftsteller, dem Historiker und selbst dem lyrischen Dichter ist es gestattet, ja es ist sogar seine Pflicht, in das menschliche Bewusstsein tiefer einzudringen, aber der Dramatiker darf so gut wie gar nichts mit dem kontemplativen Philosophen oder dem untätigen Betrachter aller Dinge gemein haben. Was auch der Dinge Lauf sei, und welches Wunder man sich eines Tages noch versinnbildlichen wird: das oberste Gesetz, die unverbrüchlichste Forderung des Theaters wird doch immer die Handlung sein. Sobald der Vorhang aufgeht, scheint der grosse Wissensdurst, den wir mitgebracht haben, sich plötzlich zu verwandeln, und der Denker, der Moralist, der Mystiker oder Psychologe, der in uns lebt, macht alsbald dem instinktiven Zuschauer Platz, dem von der Masse elektrisierten Einzelmenschen, der nur den Wunsch hat: »Vor allem lasst genug geschehen.« So seltsam diese innere Wandlung oder Verschiebung auch sein mag: sie ist doch unbestreitbar und rührt augenscheinlich von dem Zusammenhang des menschlichen »Polypenstocks« her; denn die menschliche Seele besitzt unleugbar ein besonderes – freilich primitives und kaum zu vervollkommnendes – Organ zu »herdenmässigem« Denken, Geniessen und Sich-aufregen. Es darf alsdann kein noch so bewundernswertes, tiefes und edles Wort fallen, das uns nicht sogleich lästig fiele, wenn es nichts an der Situation ändert, nicht mit einer Tat endigt, zu einem entscheidenden Konflikte führt, oder die Lösung des Knotens beschleunigt.

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Woher aber, wird man fragen, stammt der Begriff der Handlung im menschlichen Bewusstsein? In seiner ursprünglichen Form entsteht er aus dem Konflikt der verschiedenen, sich widersprechenden Leidenschaften. Aber sobald man sich auf einen etwas höheren Standpunkt stellt und genauer zusieht, wird man gewahr, dass er auch schon auf der ersten Stufe lediglich aus dem Kampfe zwischen einer Leidenschaft und einem Moralgesetz, zwischen einer Pflicht und einer Lust entsteht. Aus diesem Grunde hat sich denn auch das moderne Drama mit Wonne auf alle zeitgemässen Moralprobleme geworfen, und es ist erlaubt zu sagen, dass es sich augenblicklich fast ausschliesslich von ihrer Erörterung nährt.

Es fing dies mit dem Drama des jüngeren Dumas an, der die einfachsten Moralkonflikte auf die Bühne brachte und seine Stücke ganz und gar auf Fragestellungen basierte, die der ideale Moralist, den man unter den Zuschauern immer annehmen muss, sich im Laufe seines Denkerdaseins nie vorgelegt hätte: so springt die Antwort in die Augen. Es waren dies Fragen wie: Verdient die treulose Gattin oder des treulose Gatte Verzeihung? – Ist es gut, sich für Untreue durch Untreue zu rächen? – Hat ein natürlicher Sohn Rechte? – Ist die Neigungsheirat der Geldheirat vorzuziehen? – Können sich die Eltern der Liebesheirat ihrer Kinder widersetzen? – Ist die Ehescheidung erlaubt, wenn der Ehe ein Kind entsprossen ist? – Ist der Ehebruch des Weibes schlimmer als der des Mannes? u. s. w.

Übrigens sei nebenbei gesagt, dass das ganze französische Theater von heute und ein guter Teil des ausländischen Theaters, das ja nur sein Reflex ist, einzig und allein von Fragen dieser Art – und von den mehr als überflüssigen Antworten, die man sich darauf gibt – sein Leben fristet.

Andererseits hebt sich diese Tendenz in den letzten Ausläufern und Spitzen des menschlichen Bewusstseins von heute, in den Dramen von Björnson, Hauptmann und vor allem Ibsen, von selbst auf; hier haben die Hilfsquellen der modernen Dramaturgie ein Ende. In der Tat findet man im menschlichen Bewusstsein um so weniger Konflikte, je tiefer man darin eindringt. Und man kann in ein Bewusstsein nur unter der Bedingung sehr tief hineingelangen, dass dieses Bewusstsein sehr geklärt ist; denn es ist gleichgültig, ob man in eine in Finsternis gehüllte Seele zehn oder tausend Schritt weit dringt: man wird doch nichts Unerwartetes und Neues dort antreffen, da das Dunkel sich überall gleich bleibt. Nun aber sind die Leidenschaften und Gelüste eines sehr geklärten Bewusstseins unendlich anspruchsloser, friedfertiger und geduldiger, unendlich heilsamer, unpersönlicher und edler, als die eines gewöhnlichen Bewusstseins. Daher gibt es auch weniger Kämpfe und jedenfalls weniger heftige Kämpfe zwischen diesen Leidenschaften, die sich um so viel vergrössert und besänftigt haben, als sie höher und weiter geworden sind. Denn es ist nichts wilder, lärmender und zerstörerischer, als ein eingezwängter Giessbach, und nichts ruhiger, stiller und wohltätiger, als ein sich erweiternder Strom.

Auch beugt sich ein so geläutertes Bewusstsein vor weit weniger Gesetzen und erkennt viel weniger Pflichten an, die schädlich oder zweifelhaft sind. Denn es gibt sozusagen keine Lüge, keinen Irrtum, kein Vorurteil, keine Konvention, keine Halbwahrheit, die in einem unvollständigen Bewusstsein nicht die Gestalt einer Pflicht annehmen könnte, oder, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, wirklich annimmt. So z. B. sind die Ehre im ritterlichen oder ehelichen Sinne (ich verstehe unter letzterem die Ehre des Mannes, die durch das Vergehen der Frau geschmälert wird), die Rache, ein gewisses krankhaftes Scham- und Keuschheitsgefühl, der Stolz, die Eitelkeit, die Frömmigkeit gegen Gott und tausend andere Illusionen für eine grosse Zahl von untergeordneten Geistern die unversiegliche Quelle einer Menge von absolut geheiligten, absolut unumstösslichen Pflichten gewesen und sind es noch heute. Und eben diese sogenannten Pflichten bilden die Angelpunkte fast aller Dramen der Romantik und der meisten von heute. Aber es dürfte schwer halten, einem Bewusstsein, in dem ein gesundes und lebendiges Licht herrscht, eine jener düstern, erbarmungslosen und blinden Pflichten aufzuzwingen, die den Menschen mit Notwendigkeit in Unglück oder Tod treiben. Hier gibt es keine Ehre, keine Rache, keine Konvention mehr, die Blut heischt. Hier findet man keine Vorurteile mehr, die Tränen fordern, und sieht keine Gerechtigkeit mehr, die das Unglück will. Es regieren hier keine Götter, welche Todesstrafen verhängen, oder Liebe, welche den Tod fordert. Und wenn im Bewusstsein des Weisen die Sonne aufgeht, wie sie hoffentlich eines Tages im Bewusstsein aller Menschen aufgehen wird, so wird nur noch eine Pflicht sichtbar sein, und diese Pflicht ist die so wenig Böses und so viel Gutes zu tun, wie man vermag und seinen Nächsten zu lieben, wie man sich selbst liebt; und aus dieser Pflicht entstehen keine Tragödien mehr.

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Man sehe sich unter diesem Gesichtspunkte einmal an, was in den Dramen Ibsens vorgeht. Man dringt in ihnen bisweilen sehr tief in die Abgründe des menschlichen Bewusstseins hinab, aber das Drama bleibt nur deshalb möglich, weil zugleich ein sehr eigentümliches Licht mit hinabfällt, eine Art von rotem, düsteren, launischen und ich möchte sagen trostlosem Lichte, das nur seltsame Phantome erleuchtet. Und in der Tat liegen fast alle Pflichten, welche die Triebfedern der Ibsenschen Tragödien bilden, nicht mehr diesseits, sondern jenseits des gesund erleuchteten Bewusstseins; – und die Pflichten, die man jenseits dieses Bewusstseins zu entdecken meint, kommen bisweilen einer Art von ungerechter Überhebung, einer Art von grämlichem und krankhaften Wahnsinn sehr nahe.

Freilich tut diese Tatsache – um mich hier ganz auszusprechen – meiner Bewunderung für den grossen skandinavischen Dichter keinen Abbruch; denn wenn es auch feststeht, dass Ibsen die gegenwärtige Moral nur um sehr wenige heilsame Grundlagen bereichert hat, so ist er doch vielleicht der einzige, der eine neue, wenn auch noch peinigende Poesie erschaut und auf dem Theater zur Darstellung gebracht hat, der einzige, dem es gelungen ist, seine Stücke mit einer Schönheit und Grösse zu umgeben, die gewiss zu düster und wild ist, um allgemein und endgültig zu sein, die aber an Poesie, Schönheit und Grösse den gewaltsamer ausgestatteten Dramen des Altertums und der Renaissance nicht nachsteht.

Inzwischen liegt allen, die das Gute wollen, allen, die der Hoffnung leben, dass das menschliche Bewusstsein mehr nützliche Leidenschaften als verhängnisvolle Pflichten birgt – und dass es folglich auf der grossen Weltbühne mehr Glück und weniger Tragödien geben möge, – die grosse Pflicht der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit am Herzen, eine Pflicht, die alle anderen verdrängen wird. Und vielleicht wird aus dem Kampfe dieser Pflicht gegen unsere Selbstsucht und Unwissenheit das wirkliche Drama unseres Jahrhunderts entstehen. Ist dieser Schritt aber – im wirklichen Leben wie auf der Bühne – einmal getan, so wird es vielleicht erlaubt sein, von einem neuen Theater zu sprechen, einem Theater des Friedens, des Glückes und der Schönheit ohne Tränen.

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