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Alljährlich, wenn die Zeit der Chrysanthemen naht, die Zeit des bunten Spätherbstes und des Totenfestes, statte ich ihnen pietätvoll meinen Besuch ab, wo immer der Zufall sie mich finden lässt. Es ist einerlei, wo wir sie antreffen, daheim oder auf Reisen. Sie sind die verbreitetesten und mannigfaltigsten Blumen, und alle ihre Überraschungen und Verschiedenheiten erhalten doch – ganz wie die der Mode – ihr gemeinsames Gepräge in einem und demselben Himmel. Genau wie für Seidenwaren und Spitzen, für Schmuck und Haarfrisuren, ergeht ein geheimnisvolles Losungswort in Raum und Zeit, und ganz so gehorsam, wie die schönsten Modedamen, fügen sie sich in allen Ländern und Himmelsstrichen zur nämlichen Stunde dem heiligen Befehl ...
Man braucht also nur auf gut Glück in eines jener gläsernen Museen zu treten, wo ihre Grabesschönheit unter dem leisen Silberschleier eines Novembertages prangt, und man wird auch in dieser Welt für sich, in dieser so seltsamen und bevorzugten Blumenwelt sofort den leitenden Gedanken, die anbefohlene Schönheit, den unerwarteten Aufschwung des Jahres erkennen. Und man fragt sich, ob dieser neue Gedanke ein tiefer und wahrhaft notwendiger Gedanke der Sonne, der Erde und des Lebens, des Herbstes oder des Menschen ist.
Auch dieses Jahr habe ich das holde und stolze Gepränge der Chrysanthemen wieder von neuem bewundert. Es ist die letzte Zeremonie der Natur, ehe Dezember und Januar alles Leben unter der Schneedecke des Schlafes und der Ruhe, des Vergessens und Schweigens begraben, bis im Februar das neue Leben mächtig, aber noch kaum sichtbar, zum Lichte drängt und der festliche Reigen der Blumen von neuem beginnt.
Unter riesigen Glaswölbungen stehen sie königlich da, die edlen Blumen der letzten Tage, als wären alle die ernsten, kleinen Feen des Herbstes durch ein Zauberwort gebannt und mitten in den Stellungen ihres Tanzes erstarrt. Wer sie einmal kennen und lieben gelernt hat, überzeugt sich vom ersten Blick an mit Genugtuung, dass sie ihrem ungewissen Ideal tätig und gewissenhaft näher gerückt sind. Man denke nur einen Augenblick zurück an ihren bescheidenen Ursprung, an die ärmliche, goldige Knospe, die schlichte kastanienbraune oder weinfarbene Blume, die in den kärglichen Gärtchen unserer Dörfer, am Rande des Weges zwischen welkem Laub wuchert, und man vergleiche damit die Blütenfülle dieser schneeigen Vliese, dieser rotkupfernen Scheiben und Kugeln, dieser altsilbernen Bälle, dieser alabasternen und amethystenen Zierate, diese wunderbare Orgie von Blumenblättern, welche die Welt des Herbstes anscheinend bis zu ihren letzten Rätseln auskosten will, alle die Formen und Färbungen, die der Winter im Schosse der Wälder begräbt. Lassen wir vor unseren Augen die ungewohnten Arten und überraschenden Gestalten vorüberziehen! Hier ist die Familie der Sterne: flache, sprühende, durchsichtige, fleischige und gedrungene Sterne, Milchstrassen und Sternbilder wie am Firmament. Dort sind die stolzen Reiherbüsche, die auf die Diamanten des Taus zu warten scheinen. Hier schwelgt die wundervolle Poesie der Haare, die unsere kühnsten Träume Lügen straft: wohlgeordnete, sittsame und sorgfältige Frisuren, irres, phantastisches Haargesträhn, Knäuel von Lichtstrahlen, feurige Büsche und Flammenwirbel, Locken schöner lachender Mädchen, verfolgter Nymphen, glühender Bacchantinnen, hingesunkener Sirenen, kaltherziger Jungfrauen und spielender Kinder, von Engeln, Müttern, Satyrn und Liebenden mit sanften oder zitternden Händen geliebkost. Dazwischen all die unbestimmbaren Ungeheuer und Missgestalten, Stacheligel, Spinnen, Fischbrut, Ananasfrüchte, Quasten, Rosetten, Muscheln, Dampfbildungen und Hauche, zurückfallende Eis- und Schneestrahlen, Milch- und Butterströme, tanzender Funkenhagel, Blitze, Flügel, Daunenfedern, Flaum von Früchten, Fleisch, Warzen, Felle, lohende Scheiterhaufen und Raketen, Sonnenstiche, Schwefel und Feuerregen ...
Nachdem sich uns derart die Formen erschlossen haben, wollen wir versuchen, in das Bereich der unerlaubten Farben, der ausgeschlossenen Färbungen vorzudringen, die der Herbst den ihn verkörpernden Blumen versagt hat. Er gestattet ihnen anscheinend alle Schätze der Nacht und des Zwielichts, alle Reichtümer der Weinlesezeit in verschwenderischem Masse; er überlässt ihnen das Rostbraun der Wälder, das der Regen angerichtet hat, all das Silber des Nebels, der auf den Fluren lagert, des Reifs und Schnees in den Gärten. Er erschliesst ihnen vor allem den bodenlosen Schatz des welkenden Laubes und der sterbenden Wälder. Er überschüttet sie mit Golddukaten, Bronzemünzen, Silberschnallen, kupfernen Flitterplättchen, märchenhaften Federn, brüchigem Bernstein, erloschenen Topasen, trüben Perlen, blinden Amethysten und verfärbten Granaten, kurz, all dem müden Glanz verwahrloster Edelsteine, wie ihn der Nordwind an den Rändern der Hohlwege zusammenbläst; aber er will, dass sie ihren alten Herren die Treue halten und das Wappenkleid der trüben und müden Monate, in denen sie blühen, nicht abtun. Er duldet auf keinen Fall, dass sie Verrat an ihnen üben und die schimmernden Königsgewänder des Lenzes und Morgenrots anlegen, und wenn er bisweilen das Rosa zulässt, so muss dies von den kalten Lippen, der bleichen Stirn einer am Grabe betenden Jungfrau genommen sein. Die Farben des Sommers und der glühenden Jugend, des neuen, ausgelassenen Lebens, der schrankenlosen Lust und strotzenden Frische sind streng untersagt. Um keinen Preis erlaubt ist das Scharlachrot, das hitzige Zinnober, der herrische, blendende Purpur. Auch das Blau vom lichten Morgenblau bis zum tiefen Indigo des Meeres und der grossen Seen und hinauf zum satten Lila der Immergrünblüte und des Rittersporns ist verboten.
Dagegen dringt wie durch eine Unachtsamkeit der Natur die ungewöhnlichste und unzuverlässigste Farbe in der Blumenwelt, das Grün, das im Reiche der Dolden, Kelche und Blumenkronen fast nur die giftige Euphorbie trägt, in die eifersüchtig gehegte Umfriedung. Während es sonst nur den nährenden, dienenden Blättern vorbehalten ist, schleicht es sich hier auf zweideutige Weise unter die Blüten als Verräter, Spion und bleicher Überläufer. Es übt Verrat am Gelb und taucht es zaghaft in den bläulichen Flimmer des Mondlichts. Es ist noch nächtlich und trügerisch, wie eine Farbenspiegelung unter Wasser; es offenbart sich nur durch unbeständige Reflexe an der Spitze der Blütenblätter; es ist ängstlich und fluchtbereit, hinfällig und täuschend, doch unstreitig vorhanden. Es ist da und behauptet sich; es wird sich täglich mehr festnisten, und durch die Bresche, die es gelegt hat, wird jede bisher ausgeschlossene Farbenlust und aller Prunk des Prismas in ihr jungfräuliches Reich strömen und uns ungeahnte Feste bereiten. Und das ist im Land der Blumen eine grosse Neuigkeit und eine denkwürdige Eroberung.
Man glaube ja nicht, dass es ein müssiges Spiel sei, sich dergestalt mit den Launen der Formen und den noch im Werden begriffenen Färbungen einer schlichten und unnützen Pflanze abzugeben. Die, welche sie verschönern und ihnen eine immer seltsamere Gestalt zu leihen trachten, verdienen ebensowenig Missachtung, wie die Tulpen- und Pflanzenzüchter, über die sich La Bruyère einst aufhielt, wenn er schreibt: »Der Blumenzüchter hat einen Garten vor der Stadt, nach dem er bei Sonnenaufgang läuft und von dem er bei Sonnenuntergang heimkehrt. Er steht wie angewurzelt inmitten seiner Tulpen, vor der »Solitär« genannten; er sperrt die Augen auf, reibt sich die Hände und bückt sich, um sie sich näher anzusehen: er hat sie nie so schön gesehen und das Herz schwillt ihm vor Freude; er verlässt sie und geht zu der »Orientalin«, von da zu der »Witwe«, von da zum »Türkenkleid«, und von diesem zur »Agathe«, bis er schliesslich wieder zu dem »Solitär« zurückkehrt. Dort bleibt er stehen, bis er müde ist, setzt sich, vergisst das Mittagessen: ist die Blume doch schattiert, gerändert, »ölig«, ausgefranst, hat einen schönen Kelch oder ein schönes Gefäss; er betrachtet und bewundert sie, aber Gott und die Natur bewundert er nicht in ihr; nichts geht ihm über seine Tulpenzwiebel, die er nicht für tausend Taler hergeben möchte und die er für ein nichts hergeben wird, wenn die Tulpen vernachlässigt werden und die Nelken in Mode sind. Dieser verständige Mensch, der eine Seele, einen Kult und eine Religion hat, kommt müde und hungrig nach Hause, aber höchst zufrieden mit seinem Tagewerk: er hat Tulpen gesehen. – Erzähle einem zweiten vom Reichtum der Ernten, von einem guten Jahr, einer üppigen Weinlese: er ist ein Fruchtliebhaber; du sprichst nicht deutlich genug; er versteht dich nicht. Sprich von Feigen und Melonen, sage ihm, dass die Birnbäume dieses Jahr vor Früchten brechen, dass die Pfirsiche im Überfluss getragen haben; das ist für ihn eine unbekannte Sprache. Er kennt lediglich Pflaumenbäume; er antwortet dir nicht. Unterhalte ihn nicht einmal von deinen Pflaumenbäumen; seine Liebe gilt nur einer bestimmten Gattung, jede andere, die du ihm nennst, erweckt sein Lachen und seinen Hohn. Er führt dich zu dem Baume, pflückt kunstvoll diese erlesene Pflaume, öffnet sie, gibt dir die Hälfte und behält die andere. Welch ein Fleisch! sagt er, schmecken Sie das nicht auch? Ist das nicht himmlisch? So etwas findet man wo anders nicht! Und darob blähen sich seine Nüstern, und er verbirgt nur mit Mühe seine Freude und Eitelkeit unter etlichen bescheidenen Manieren. O wahrhaftig, der Mensch ist göttlich! Man kann ihn nie genug loben und bewundern! Man wird noch in Jahrhunderten von ihm reden! Dass ich nur seine Gestalt und sein Antlitz anschaue, solange er lebt! Dass ich nur die Züge und die Selbstbeherrschung eines Menschen beachte, der allein unter den Sterblichen eine solche Pflaume besitzt!«
Nun wohl, La Bruyère tat unrecht daran. Dies Unrecht verzeiht man ihm freilich gern, weil er allein unter allen Schriftstellern seiner Zeit auf die unvermuteten Gärten des siebzehnten Jahrhunderts ein so wunderbares Fenster geöffnet hat. Trotzdem verdanken wir seinem etwas beschränkten Blumenliebhaber, seinem etwas spleenigen Gärtner unsere herrlichen Blumenbeete, unsere mannigfachen, üppigen, schmackhaften Gemüse und immer köstlicheren Früchte. Man sehe sich doch nur die Wunder an, die jetzt neben den Chrysanthemen an langen, durch geduldige und opfermütige Spaliere getragenen Ästen reifen, selbst in den bescheidensten Gärtchen! Vor nicht 100 Jahren waren sie unbekannt, und wir verdanken sie den winzigen, ungezählten Mühen einer Schar von kleinen Suchenden, die mehr oder minder beschränkt und lächerlich sind. Auf diese Weise erwirbt sich die Menschheit alle ihre Schätze. Nichts in der Natur ist wertlos, und ob wir uns für ein Blatt, einen Halm, einen Schmetterlingsflügel, ein Nest, eine Muschel begeistern, man wendet seine Leidenschaft stets an eine Sache, die, so klein sie ist, eine grosse Wahrheit birgt. Wenn es gelingt, das Aussehen einer Blume zu verändern, so will das an sich wenig sagen, und doch ist es etwas Ungeheures, wenn man es näher bedenkt. Heisst es nicht soviel, wie tiefen Gesetzen, die vielleicht wesensbedingend und jedenfalls Jahrhunderte alt sind, neue Bahnen vorschreiben und Grenzen überschreiten, die man bisher unbesehen hingenommen hatte? Heisst es nicht, unsern vergänglichen Willen dem der ewigen Gewalten unmittelbar aufzwingen? Und gibt es nicht einen Begriff von wundersamer, fast übernatürlicher Gewalt, wenn wir ein Naturgesetz verändern können? Wenn es auch nicht geraten sein mag, seinen ehrgeizigen Träumen zu sehr nachzugeben, so lässt doch diese Tatsache die Hoffnung fast berechtigt erscheinen, dass es einst gelingen wird, noch andere Gesetze zu meistern und zu überschreiten, Gesetze, die ebenso uralt sind, und die unserm eigenen Leben näher stehen, also ganz andere Tragweite besitzen? Denn schliesslich hängt alles zusammen und reicht sich die Hand; alles gehorcht denselben unsichtbaren Prinzipien und denselben Notwendigkeiten; alles hat teil an Stoff und Seele des gleichen erstaunlichen und erschrecklichen Rätsels, und der bescheidenste Sieg über eine Blume kann uns eines Tages unendliche Geheimnisse erschliessen ...
Und darum liebe ich die Chrysanthemen und folge ihrer Entwickelung mit brüderlicher Neugier. Sie sind auf dem Gebiete der Gartenpflanzen die unterworfensten, folgsamsten, wandelbarsten und aufmerksamsten Kreaturen, die wir seit lange gefunden haben. Ihre Blüte ist vom menschlichen Denken und Wollen so durchtränkt, dass sie fast menschlich zu nennen ist, und wenn die Pflanzenwelt uns noch eines jener Rätselworte zu offenbaren hat, die wir von ihr erwarten, so wird es vielleicht diese Blume der Toten sein, die uns das erste Rätsel des Daseins erschliesst, ganz wie im Tierreiche das Geheimnis des animalischen Lebens wahrscheinlich durch den Hund, den fast denkenden Gefährten unseres häuslichen Lebens, ans Licht kommen wird.