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Wahrscheinlich ist Rom auf Erden die Stätte, wo seit zwei Jahrtausenden am meisten Schönheit angehäuft worden und noch vorhanden ist.
Es hat nichts geschaffen, wenn nicht einen gewissen Geist der Grösse und der Anordnung schöner Dinge; aber die herrlichsten Denkmäler der Welt haben sich hier durch die Zeiten gerettet und mit solcher Energie behauptet, dass sie nirgendwo auf dem Erdball so zahlreiche und unvergängliche Spuren hinterlassen haben. Wenn man den Fuss auf seinen Boden setzt, so tritt man auf die halbzerstörten Spuren der Göttin, die sich den Menschen nicht mehr zeigt.
Die Natur gab Rom eine bewundernswerte Lage, die wie keine zweite geeignet war, in der edelsten Schale, die sich je dem Himmel öffnete, die Juwelen der Völker aufzunehmen, die auf den Gipfeln der Geschichte an ihm vorübergingen. Die Stätte, wo diese Wunder niederfielen, war ihnen bereits ebenbürtig. Der Himmel ist hier klar und prächtig. Das tiefe, dunkle Grün des Nordens vermählt sich hier noch mit dem helleren und klareren Blattwerk des Mittags. Die Bäume mit den reinsten Umrissen, die Zypresse, die wie ein glühendes, düsteres Gebet emporsteigt, die breitwipflige Pinie, die den ernstesten und harmonischsten Gedanken des Waldes zu verkörpern scheint, die gedrungene, immergrüne Eiche, die sich so leicht zu anmutigen Säulengängen ordnet, haben hier durch Jahrhunderte alte Tradition einen Stolz, ein Selbstbewusstsein und eine Feierlichkeit gewonnen, die sie nirgend wo anders in gleichem Masse erlangten. Wer sie einmal gesehen und verstanden hat, der vergisst sie nie mehr und würde sie ohne Mühe unter denselben Bäumen eines minder geheiligten Bodens herauserkennen. Sie waren der Schmuck und die Zeugen unvergänglicher Dinge. Sie bleiben untrennbar von den Trümmern der Aquädukte, den entkrönten Mausoleen, den eingestürzten Bogen, den heroisch gebrochenen Säulen, welche die majestätische Öde der Campagna zieren. Sie haben den Stil des ewigen Marmors angenommen, dessen Trümmer sie mit schweigender Ehrfurcht umgeben. Wie jene wissen sie uns mit Hilfe von zwei oder drei klaren und doch geheimnisvollen Linien alles zu sagen, was uns die Schwermut einer Ebene sagen kann, die unbeugsam die Trümmer ihrer Grösse trägt. Sie sind und fühlen sich als Römer.
Ein Kranz von Bergen mit klangvollen und in ihrer Erhabenheit vertrauten Namen, deren schneeige Häupter ebenso blendend sind wie die Erinnerungen, die sie uns hinterlassen, gibt der unsterblichen Stadt einen deutlichen und grossartigen Horizont, der sie von der Welt abtrennt, aber nicht von dem Himmel. Und in ihrem menschenleeren Mauerring, inmitten der verödeten Plätze, die durch ihre Steinfliesen, Stufen und Portiken noch grösser und verlassener erscheinen, an allen Kreuzwegen, wo eine verstümmelte Statue die stille Wacht hält, zwischen den Vasen und Kapitälen, den Tritonen und Nymphen, sprudelt eine lichte, lenksame Wasserflut, noch Befehlen getreu, die sie vor zwei Jahrtausenden empfing, und belebt die unberührte Einsamkeit mit einem beweglichen, immer frischen Schmucke von azurenen Federbüschen, Blumengewinden aus Morgentau, kristallenen Trophäen und Kronen von Perlen. Man möchte sagen, die Zeit hat unter diesen Denkmälern, die ihr trotzen wollten, nur die flüchtigen Stunden des zerstäubenden, zerrinnenden Wassers geschont.
Die Schönheit, wenn auch stets eine erborgte Schönheit, hat in diesem Mauerring vom Janiculus bis zum Esquilin so lange geherrscht, sie ist hier mit solcher Beharrlichkeit angehäuft worden, dass sie der Stätte selbst, der Luft, die man hier atmet, dem Himmel, der sich über ihr wölbt, den Linien, die ihr das Gepräge geben, ein wunderbares Vermögen der Anpassung und Veredlung verliehen hat. Wie ein Scheiterhaufen läutert Rom alles, was die Verirrungen, die Launen, die Übertreibungen und der Unverstand der Menschen seit seinem Sturz hier unablässig erstehen liessen. Es war bis heute nicht zu entstellen. Man möchte sogar glauben, dass es unmöglich war, hier ein Werk auszuführen oder zu erhalten, das seine ursprüngliche Hässlichkeit oder Gewöhnlichkeit nicht aufgeben wollte. Alles, was nicht zum Stil der sieben Hügel stimmt, verbleicht und verschwindet allmählich unter dem Einfluss des wachsamen Genius, der die Grundlinien der Ästhetik Roms am Horizont, in den Fels und den Baustein der Höhen gezogen hat. So musste das Mittelalter und die erste Blüte der italienischen Kunst in Rom mehr Tatkraft entwickeln, denn hier befand man sich im Herzen der christlichen Welt; trotzdem haben sie nur wenig merkliche Spuren hinterlassen, sozusagen verschämte und unterirdische Spuren, so viel und nicht mehr als nötig war, damit die Weltgeschichte hier an ihrem Brennpunkt nicht lückenhaft blieb. Dagegen bekunden die Künstler, deren Geist in natürlichem Einklang mit dem Genius stand, der die Geschicke der ewigen Stadt lenkt, wie Giulio Romano, die Carracci und einige andere, aber vornehmlich Raffael und Michelangelo, eine Schaffensfülle, eine Gewissheit, eine Art instinktiver Befriedigung und kindlicher Heiterkeit, die sie an keinem andern Orte entfalten. Man fühlt, sie hatten die Formen hier nicht zu schaffen, sondern einfach auszuwählen und festzulegen; sie strömten ihnen von allen Seiten noch unenthüllt, aber gebieterisch zu und drängten zur Geburt. Diese Künstler konnten nicht fehlgreifen; sie malten nicht im eigentlichen Wortsinn, sie enthüllten einfach die verschleierten Bilder, die durch die Säle und Arkaden der Paläste spukten. Die Beziehungen zwischen ihrer Kunst und dem Nährboden ihres Milieus sind so notwendig, dass ihre Werke, wo sie in die Museen oder Kirchen anderer Städte verbannt sind, nur den Eindruck einer willkürlichen, forcierten und dekorativen Lebensauffassung machen. So verwundern uns die Photographien und Kopien von der Decke der Sixtinischen Kapelle, ja sie bleiben uns fast unerklärlich. Doch betritt der Reisende den Vatikan, nachdem er die tausend Trümmerreste der Tempel und öffentlichen Plätze auf sich hat wirken lassen, so versteht er Michelangelos masslose Kraftleistung als prächtig und natürlich. In dem Rahmen einer harmonischen und tiefernsten Orgie von Muskeln und Begeisterung verschlingen sich gedrängte Riesenleiber, und die wundervolle Wölbung wird zu einem Bogen des Himmels selbst, der alle Szenen der Tatkraft, all die glühenden Tugenden widerspiegelt, an welche die Trümmer dieses leidenschaftdurchtränkten Bodens immer wieder gemahnen. Ebenso sieht man den Borgobrand hier anders, als man ihn im Louvre oder in der Londoner Nationalgalerie sehen würde; man sagt z. B. nicht dasselbe wie Taine: dass diese grossen und herrlichen nackten Leiber hier nicht das tun, was sie sollen, dass die aus dem Hause hervorbrechenden Flammen sie nicht im Geringsten schrecken, dass sie nur wie gute Modelle an ihre Pose denken, wie die Biegung einer Hüfte oder die Muskulatur eines Schenkels am meisten zur Geltung kommt u. s. w. Nein, wenn der Besucher mit offenen Sinnen den Einflüsterungen der ganzen Umgebung gelauscht hat, so sagt er sich gern, dass in den Stanzen des Vatikan wie an den Wölbungen der Sixtina, so verschieden der Eindruck beider sein mag, sich nicht ohne Zögern, aber logisch und normal eine Kunstentwicklung vollzieht, die schon das alte Rom hätte durchmachen können. Er meint hier die Kunstformel zu finden, die der allzu positive Geist der Quiriten aus Mangel an Gelegenheit oder Glück nicht hat finden können. Denn es war Rom trotz seines heissen Bemühens nicht gelungen, das Bild seines Wesens, das es der Welt verheissen hatte, aus sich selbst heraus zu gestalten. Schön war es im Grunde nur durch die Plünderung Griechenlands, und sein Hauptverdienst bestand darin, dass es die griechische Kunst mit Gier sammelte und in sich aufnahm. Wo es sie zu mehren versucht hat, hat es sie entstellt, ohne ihre Ausdrucksmittel seinem persönlichen Leben anzupassen. Seine Malerei und Skulptur entsprechen nur von ungefähr und durch zweite Hand der Wirklichkeit seines Lebens, und die ungewisse Originalität seiner Architektur beruht in der Hauptsache auf ihren ungeheuren Grössenverhältnissen. Und so gibt man sich gern dem Traume hin, dass der harmonische Maler aus Urbino und der alte Buonarotti nach so vielen Katastrophen, nach dem anscheinenden Tode und dem langen Schweigen Roms eine vorhandene und ununterbrochene Tradition wieder aufgriffen, die sich unterirdisch ewig fortgesetzt hatte, um in ihren Werken neu ans Licht zu treten und der Welt endlich zu verkünden, was das Kaiserreich nicht zu sagen vermochte. Sie sind wahrere Römer und anscheinend bessere Vertreter des unbewussten und geheimen Wunsches des latinischen Bodens, als das kaiserliche Rom, das nicht imstande war, sich sein eigenes Bild zu schaffen, und in einem künstlichen Hellenismus befangen blieb. Und doch konnte Griechenland einem an Kopfzahl unendlich überlegenen und sehr anders gearteten Volke nicht die Formen leihen, die seinem ornamentalen Bewusstsein nötig waren. Es konnte nur ein sicherer und prächtiger Ausgangspunkt sein; aber seine Statuen und Gemälde, die so fein, so klar und massvoll, ja fast dünn zu nennen sind, waren nicht am Platz auf dem überladenen Forum zwischen den erdrückenden Bauten ungeheurer Thermen und blutiger Zirkusse, noch in den riesigen, prunkvollen Pfeilerhallen zweigeschossiger Basiliken. Man fragt sich also, ob die Fresken Michelangelos nach tausendjährigem Harren nicht dem Ruf dieser leeren Arkaden entsprochen hätten, und ob man nicht glauben kann, dass sie die fast organische Folgeerscheinung dieser kaiserlichen Marmorsäulen und Bauten sind? Und ebenso fragt man sich, ob der Plafond, die Zwickel und Lünetten der Farnesina und des Borgobrandes die Metamorphosen des Ovid, die Dekaden des Livius, die Lieder des Horaz und die Äneis des Virgil nicht viel besser illustrieren würden, als die Bildwerke von Phidias und Praxiteles, viel besser auch als die besten Wandmalereien von Herculaneum und Pompeji.
Doch das alles ist vielleicht nur eine Illusion und die Zauberwirkung jenes ebengenannten Anpassungsvermögens. Dieses Vermögen ist so gross, dass alles, was auf den ersten Blick scheinbar im Widerspruch zu dem in diesen Mauern herrschenden Geiste steht, ihm nicht nur nicht widerspricht, sondern vielmehr dazu beiträgt, ihn zu offenbaren und zu verdeutlichen. Selbst der phrasenhafte, pathetische und gar zu oft vertretene Bernini, der mit dem stillen Ernste des ursprünglichen Roms anscheinend ganz unvereinbar ist, selbst dieser Bernini, der überall wo anders so unerträglich wirkt, wird hier durch den Genius der Stadt entweder aufgehoben oder gerechtfertigt und dient nur zur Versinnbildlichung und als nachträglicher Kommentar für gewisse, etwas schönrednerische und schwülstige Seiten der römischen Grösse.
Eine Stadt, welche die kapitolinische und vatikanische Venus, die schlafende Ariadne, den Meleager, den Herkulestorso und zahllose andre Wunderwerke in ihren Museen und ebenso zahlreichen Palästen birgt – man denke doch nur, welche Schätze ein einziges dieser Museen, eines der letzten, jüngsten, das Thermenmuseum, besitzt – eine Stadt, in der jede Strasse, ja fast jedes Haus ein Marmor- oder Bronzefragment aufweist, dessentwegen man nach einer neuen Stadt eine lange Pilgerfahrt antreten würde, eine Stadt, die uns das Pantheon des Agrippa, die Säulen des Forums und so viele andre Schätze birgt, dass das entmutigte Gedächtnis nicht mehr imstande ist, mit der unermüdlichen Bewunderung gleichen Schritt zu halten, eine Stadt, die uns unter ihren unzerstörten und lebenden Herrlichkeiten die zypressenumstandenen Rasenplätze der Villa Borghese und soviele Brunnen und immergrüne Gärten zeigt, mit einem Wort, eine Stadt, in die sich die ganze Vergangenheit des einzigen Volkes geflüchtet hat, das die Schönheit gehütet hat, wie andere Getreide, Öl- oder Weinberge hüten, eine solche Stadt setzt der Gewöhnlichkeit einen vielleicht passiven, aber unbezwinglichen Widerstand entgegen und kann fast alles ertragen, ohne zu sinken. Eine unsterbliche Götterversammlung, deren vollkommene Körperschönheit und Haltung durch keine Verstümmelung Einbusse erlitten hat, schützt sie gegen ihre eigenen Missgriffe und gibt den gegenwärtigen Menschen ebenso wenig Macht über sie, als die Barbaren und die Zeit selbst Macht über diese Götter hatten. Trotzdem hat selbst Roms Duldsamkeit Grenzen. Wenn es auch keinen Ort auf Erden gibt, dem sich die verschiedenartigsten Werke besser anpassen, so gibt es andrerseits auch keinen, der alles, was er durchaus nicht zu läutern vermag, gewaltsamer und unwiderrutlicher abstiesse. In dieser Hinsicht geht das Urteil des Genius der Stadt von eigenartigen und endgültigen Gewissheiten aus. Eine Statue, ein Bauwerk, das von ihm nicht zornig verurteilt wird, gegen das sich seine Steine, seine Strassen und Plätze nicht auflehnen, ist der Vergebung der Nachwelt sicher. Trotzdem hat dieser Genius, obwohl ihm mehr als einmal Gewalt angetan ward, stets recht behalten gegen alle auf ihn gerichteten Attentate. Aber heute fragt man sich nicht ohne Unruhe, wie er sich dem schauderhaften Justizpalast anpassen wird, der neben der Engelsburg ersteht, und was er erfinden wird, um gewisse Statuen auf dem Pincio und verschiedene patriotische Denkmäler zu verwischen oder vergessen zu machen, die ihm an mehr als einer Stelle seines Reiches Gewalt antun.
Diese Götter führen uns zurück in die kleinen hellenischen Gemeinwesen, die eines Tages die Gesetze der menschlichen Schönheit entdeckten und für immerdar festlegten. Die Schönheit der Erde ist, abgesehen von einigen durch unsere Industrie geschändeten Orten, seit dem Perikleischen Zeitalter merklich die gleiche geblieben. Das Meer ist stets unendlich und unverletzlich. Der Wald, die Fluren und Getreidefelder, die Dörfer, die meisten Flüsse und Bäche, die Gebirge, die Schönheiten des Morgens und Abends, der Wolken und Sterne, die nach dem Klima und den Breitengraden wechseln, bieten uns noch das gleiche Schauspiel von Kraft und Anmut, dieselben tiefen und einfachen Harmonien, dieselben mannigfaltigen und verwickelten Feenspiele wie den Bürgern Athens und dem römischen Volke. Was die Natur anbetrifft, so haben wir wenig Verluste zu beklagen, und die Empfänglichkeit und Ausdehnung unserer Bewunderung hat sich in dieser Richtung sogar vergrössert. Dagegen haben wir in allem, was die besondere Schönheit des Menschen betrifft, die Schönheit, die sein unmittelbares Werk ist, fast alles, was die Alten davon errungen und festgebannt hatten, verloren, sei es aus Überreichtum und Übereifer, sei es durch die Zersplitterung unserer Kräfte und Fähigkeiten, sei es endlich aus Mangel eines einwandfreien Masstabes. Sobald es sich um unsere rein menschliche Ästhetik handelt, unsern eigenen Leib und alles, was zu ihm in Beziehung steht, unsere Gebärden, unsere Haltung, unsere Gebrauchsgegenstände, Häuser, Städte, Denkmäler und Gärten, so möchte man angesichts unserer Verwirrung, unseres Tastens und unserer Unerfahrenheit glauben, dass wir diesen Planeten erst seit gestern bewohnen und noch ganz in den Anfängen unserer Anpassungszeit stecken. Wir haben für das Werk unserer Hände keinen allgemeinen Masstab, keine anerkannte Regel, keine Gewissheit mehr. Die sichere und einwandfreie Schönheit, welche die Alten kannten, suchen unsere Maler, Bildhauer, Architekten und Schriftsteller, suchen wir in unserer Kleidung, unserem Hausgerät, unseren Städten und selbst unseren Landschaften auf tausend verschiedene und widerspruchsvolle Weise. Wenn einer von uns einige Linien, eine Harmonie der Form oder Farbe schafft, wenn er etwas zusammenstellt oder findet, was unwiderruflich beweist, dass der entscheidende und geheimnisvolle Punkt berührt wurde, so ist dies eine vereinzelte und schwankende Erscheinung, fast ein Zufallswurf, den weder sein Schöpfer noch ein anderer wiederholen könnte.
Trotzdem gab es einst glücklichere Zeiten, wo der Mensch um die eigentlich menschliche Schönheit wusste; und seine Gewissheiten waren so stark, dass sie unsere Überzeugung noch heute mit sich fortreissen. Der einzige feste Masstab, den die Ägypter, die Assyrer und Perser, kurz, alle früheren Kulturen unter den Tieren und Blumen, in den Riesengestalten der Natur und den Träumen der Einbildungskraft, in den Bergen und Felsen, in den Höhlen und Wäldern, unter den Ungeheuern und Chimären umsonst gesucht hatten, der Grieche hat sie instinktiv in der Schönheit seines eigenen Leibes entdeckt, und aus der Schönheit dieses nackten und vollkommenen Leibes entspringt die Architektur seiner Tempel und Paläste, der Stil seiner Wohnungen, entspringen die Form, die Verhältnisse und der Schmuck seiner Gebrauchsgegenstände. Dieses Volk, bei dem die Nacktheit und ihre natürliche Folge, die makellose Harmonie der Glieder und Muskeln, sozusagen eine religiöse und eine Bürgerpflicht war, hat uns gelehrt, dass die Schönheit des menschlichen Leibes in seiner Vollkommenheit so mannigfach, so tief und reich, so durchgeistigt und geheimnisvoll ist, wie die Schönheit des Meeres und der Sterne. Jedes andere Ideal, jeder andere Masstab hat die Menschen in ihrem Bemühen und Trachten nach Schönheit mit Notwendigkeit irregeführt und wird es immer tun. In allen Künsten haben sich die Völker von geistig hochstehender Rasse dieser unzweifelhaften Schönheit genähert oder von ihr entfernt, je nachdem sie sich der Gewohnheit, nackt zu sein, genähert oder von ihr entfernt haben. Seine eigentliche Schönheit, d. h. den Bruchteil an eigener Schönheit, den es der Plünderung von Hellas hinzufügte, verdankt Rom den letzten Resten dieser Gewohnheit. »In Rom,« sagt Taine, »kam man auch zusammen, um zu schwimmen, sich abreiben zu lassen, zu schwitzen und sogar, um zu ringen und zu laufen, in jedem Falle um Ringer und Läufer zu sehen. Denn Rom war in dieser Hinsicht nur ein vergrössertes Athen: die gleiche Lebensart, die gleichen Instinkte, die gleichen Gewohnheiten und die gleichen Vergnügungen pflanzten sich dort fort. Der einzige Unterschied bestand in der Grösse und der Zeit. Die Stadt hatte sich ausgedehnt und barg Freie zu Hunderttausenden und Sklaven zu Millionen, aber von Xenophon bis zu Marc Aurel hatte sich die gymnastische und rednerische Erziehung nicht geändert, sie hatten stets Ringer- und Rednerneigungen. In diesem Sinne musste man sich bemühen, um ihnen zu gefallen; man wandte sich an nackte Körper, an Dilettanten im Stil, an Liebhaber von Dekoration und Gespräch. Wir haben keine Vorstellung mehr von diesem körperlichen, heidnischen, müssigen und träumenden Leben. Das Klima ist dasselbe geblieben, aber der Mensch hat sich gewandelt, indem er sich bekleidete und Christ wurde.« Taine, »Reise in Italien« Band I. Seite 133. Deutsch bei E. Diederichs in Jena, 1904.
Besser noch könnte man sagen, dass Rom zu der Zeit, von der Taine redet, ein unvollständiges und lückenhaftes Athen war. Was dort gewohnt und gewissermassen organisch war, blieb hier eine künstliche Ausnahme. Der menschliche Körper wird noch gepflegt und bewundert; doch er ist fast immer in die Toga gehüllt, und diese Tracht bricht die reinen und klaren Linien, die sich von einer Fülle nackter und lebender Statuen auf die Säulen und Giebel der Tempel übertrugen. Die Bauwerke vergrössern sich über die Maassen, werden entstellt und verlieren nach und nach ihre menschliche Harmonie. Der goldene Masstab ist für lange Zeit verhüllt und wird nur von einigen Künstlern der Renaissance wieder entdeckt; denn sie ist der letzte Augenblick, wo die selbstsichere Schönheit noch einmal aufflackert.