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XI. Feldblumen

Buchschmuck

BuchschmuckSie empfangen uns vor den Stadttoren und locken unsere Schritte auf einen Teppich vielfarbiger, stürmischer Freude, den sie wie toll im Sonnenlicht schwenken. Augenscheinlich erwarteten sie uns. Mit den ersten Strahlen der Märzsonne läutet das Schneeglöckchen, die heldenmütige Tochter des Reifes, zum Erwachen. Und alsbald entringen sie sich der Erde, die noch gestaltlosen Anstrengungen einer entschlafenen Erinnerung, die unbestimmten Phantome, bleich und kaum Blumen zu nennen: der Steinbrech, das fast unsichtbare Täschelkraut, die zweiblättrige Scilla, der schwarze Nieswurz, auch Weihnachtsrose genannt, der Huflattich, der giftige und düstre Seidelbast (Daphne laureola), der Pestwurz (Petasites), lauter Blumen von schwächlicher, verdächtiger Gesundheit, bläulich oder rötlich, unbestimmte Strebungen eines ersten Lebensfiebers, in dem die Natur ihre üble Laune auslässt, blutlose Entronnene des Winters, Genesende aus unterirdischen Kerkern, furchtsame und ungeschickte Versuche des noch in der Erde begrabenen Lichtes.

Doch bald traut sich dieses in den weiten Raum: die hochzeitlichen Gedanken der Erde klären und läutern sich, die skizzenhaften Versuche verschwinden, die Halbträume der Nacht verflüchtigen sich wie ein Nebel im Morgenrot, und rings um die Städte der Menschen, die ihrer nicht achten, beginnen die guten Feldblumen ihren festlichen Reigen ohne Zeugen unter dem blauen Himmel und bereiten schon Honig, wenn ihre stolzen und unfruchtbaren Schwestern, denen wir allein unsere Sorgfalt widmen, noch im Schosse der Treibhäuser frösteln. Und sie werden noch blühen auf den überschwemmten Wiesen, an den aufgeweichten Wegen als schlichter Schmuck der Strassenränder, wenn der erste Schnee schon die Felder bedeckt. Sie werden nicht von Menschenhand gesäet und von niemand gepflückt. Sie überleben sich selbst und der Mensch tritt sie mit Füssen. Und doch ist es noch nicht lange her, dass sie allein die Festfreude der Natur verkörperten. Vor wenigen Jahrhunderten, ehe ihre stolzen und fröstelnden Geschwister aus Japan und Indien kamen, und bevor ihre eigenen, kaum wiederzuerkennenden Töchter sie undankbar von ihrem Platz verdrängten, waren sie es allein, die betrübte Blicke aufheiterten, die in den Fenstern der Hütten und in den Blumenbeeten des Schlosses prangten oder die Schritte der Liebenden in den Wäldern begleiteten. Aber die Zeiten sind vorüber; jetzt sind sie entthront. Sie haben von ihrer vergangenen Herrlichkeit nichts bewahrt als die Namen, die sie empfingen, da sie geliebt wurden. Und diese Namen zeigen zur Genüge, was sie dem Menschen gewesen sind; all seine Dankbarkeit und aufmerksame Zärtlichkeit, alles was er ihnen schuldete und was sie ihm gaben, liegt in diesen Namen beschlossen, wie ein uralter Duft in hohlen Perlen. Sie tragen die Namen von Königinnen, Hirtinnen, Jungfrauen, Prinzessinnen, Nixen und Feen, Namen, die wie eine Liebkosung, ein Blitz, ein Kuss, ein Liebesgeflüster klingen. Ich glaube, nichts in der Sprache ist besser, zarter und liebevoller gebildet als diese volkstümlichen Blumennamen. Hier verkörpert das Wort fast immer den Gedanken, und dies so sorgfältig, so zutreffend und glücklich wie nur irgend denkbar. Er ist wie ein schmückender, durchsichtiger Stoff, der sich der Form dessen, was er verhüllt, genau anschmiegt und just die Färbung, den Duft und Klang hat, den er haben muss. Man vergegenwärtige sich das Veilchen, das Massliebchen, den Mohn Die Übersetzung kann hier dem Original aus phonetischen Gründen leider nicht folgen. Der hier unterdrückte Satz möge daher französisch wiedergegeben werden: »Quelle merveille par exemple que cette sorte de cri et de crête de lumière et de joie Coquelicot, pour désigner la fleur écarlate que les savants accablent de ce titre barbare Papaver Rhoeas.« – Coquelicot klingt freilich wie ein »scharlachroter« »Hahnenschrei und Hahnenkamm von Licht und Freude«. und die Kornblume: hier ist der Name die Blume selbst. Man denke an die Primel oder Schlüsselblume, das Immergrün, die Anemone, die wilde Hyazinthe, den blauen Ehrenpreis, das Vergissmeinnicht, die Winde, die Schwertlilie und die Glockenblume: ihr Name schildert sie in einer Weise, deren selbst die grössten Dichter selten fähig sind. Er ist gleichsam ihre aufgeschlossene, sichtbare Seele. Er versteckt, bückt und reckt sich im Ohre, wie seine Trägerinnen sich im Gras und Korn verstecken, ducken oder recken. Diese paar Namen sind uns allen geläufig; andere kennen wir nicht, wiewohl uns ihr Klang mit gleicher Lieblichkeit und Erfindungsgabe von Blumen spricht, die jeden Wegrain, jeden Strassenrand schmücken. So prangt am Ende des Sommers, wenn das reife Korn unter der Sense fällt, jeder Hohlweg im blassen Violett der zarten, lieblichen Skabiosen, die nun völlig aufgeblüht sind, ein rückhaltvoller Name, der bescheidene Schönheit und stolze Armut kündet, wie ein leicht getrübter Edelstein. Ringsum scheint ein Schatz verstreut zu sein: es ist der Hahnenfuss oder Goldkopf – zwei Namen tragend, wie er zweierlei Leben führt: das einer unschuldigen Jungfrau, die den Wiesengrund mit Sonnentropfen sprenkelt, und das einer furchtbaren Hexe und Giftmischerin, die ahnungslosen Tieren den Tod bereitet. Da sind Schafgarbe und Johanniskraut, kleine, voreinst nützliche Blumen, die in eintönigem Gewande trübe ihres Weges gehen, wie stille Abgedankte. Da ist das gemeine, zahllose Kreuzkraut der Vögel und sein grosser Bruder, die Gänsedistel, der gefährliche schwarze Nachtschatten, das Bittersüss, das sich ins Gras duckt, der kriechende Knöterich mit seinen geduldigen Blättern – lauter Pflanzen ohne Glanz, mit entsagungsvollem Lächeln, schon in das nüchterne, graue Wappenkleid des vorausgeahnten Herbstes gehüllt.

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Aber unter den Frühlings- und Sommerblumen gibt es festlich klingende Namen, lenzverheissende Silben, Vokale voller Blau und Morgenröte, Mondschein und Sonne. Da ist das Schneeglöckchen, das den Lenz einläutet. Da leuchtet aus den Hecken, auf denen erst ein unbestimmter, zartgrüner Schleier liegt, die Sternmiere den Firmelkindern entgegen. Da blüht die traurige Akelei und die Salbei auf feuchten Wiesen, der Alant und die Rapunzel, der Engelwurz, der Schwarzkümmel, die gelbe Viole, auch Mangold genannt und wie eine Landpfarrersköchin gekleidet, die Osmunda (Königsfarn), die Hasenbinse und Parmelie (Wandflechte), der Venuswagen oder Eisenhut, die Euphorbie oder Wolfsmilch, die von ätzender Glut erfüllt ist, die Blasenkirsche (Physalis), deren Frucht in einer roten Laterne reift, das Bilsenkraut, die Belladonna oder Tollkirsche und der Fingerhut: lauter giftmischende Königinnen und verschleierte Kleopatras der unbebauten Orte und kühlen Wälder. Und weiter die Kamille, die gute Schwester mit ihren tausend lächelnden Häubchen, die den heilenden Trank in einer Steingutschale reicht, die Pimpinelle und Kronwicke, die Pfefferminze, der rötliche Quendel, die Esparsette und der Augentrost, die grosse Gänseblume, der lila Enzian und die blaue Verbene, das Gänsekraut und die Hundskamille, der Silau (Silavus pratensis) und die Kratzdistel, das Fingerkraut und der Widerstoss ... Man deklamiert ein ganzes Hirtengedicht voller Anmut und Licht, wenn man sie aufzählt. Ihnen hat man die liebenswürdigsten und die klarsten Töne, die ganze musikalische Heiterkeit der Sprache vorbehalten. Sie sind wie die dramatischen Figuren, die Koryphäen und Darstellerinnen eines riesigen Märchenspiels, das schöner, unverhoffter und übernatürlicher ist als die, welche sich auf Prosperos Insel, am Hof des Theseus oder im Ardenner Walde zutragen. Und die holden Schauspielerinnen dieses stummen und endlosen Spiels, die Engel und Göttinnen, Prinzessinnen und Hexen, Jungfrauen und Buhlerinnen, Königinnen und Hirtinnen, tragen in den Falten ihres Namenskleides den Widerschein von tausend Morgenröten und ungezählten Lenzen, die vergessene Menschen erblickt haben, ganz wie sie die Erinnerung an tausend tiefe oder leichte Gefühle bergen, die verschwundene Geschlechter vor ihnen empfanden, ohne eine andere Spur zu hinterlassen.

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Sie sind anziehend und unverständlich zugleich. Man nennt sie gemeinhin »Unkraut«. Sie dienen zu nichts. Hier und dort, in alten Dörfern, bewahren noch etliche den Ruf ihrer jetzt in Abrede gestellten Tugenden. Hier und dort harrt noch eine von ihnen im Becher des Apothekers oder des Kräutermannes der Kranken, die den hergebrachten Tränken treu geblieben sind. Aber die ungläubige Arzneiwissenschaft hat sie im Stich gelassen. Sie werden nicht mehr nach altem Brauch gepflückt, und die Wissenschaft primitiver Zeitalter verflackert allmählich im Hirn der alten Weiber. Man macht ihnen den Krieg auf Tod und Leben. Der Bauer fürchtet, der Pflug verfolgt sie. Der Gärtner hasst sie und hat sich zu ihrer Abwehr mit furchtbaren Waffen gerüstet: mit Spaten und Harke, mit Hacke und Schabeisen, mit Jäthacke und Gartenhaue. An den Strassenrainen, ihrer letzten Zufluchtsstätte, zertritt sie der Fuss des Wanderers und zerfährt sie das Wagenrad. Trotzdem weichen sie nicht; sie bleiben dort und wuchern ungestört in aller Ruhe, und jede leistet dem Ruf der Sonne Folge. Sie begleiten die Jahreszeiten, ohne sich um eine Stunde zu verfrühen oder zu verspäten. Sie ignorieren den Menschen, der alles daransetzt, sie auszurotten, und sobald er sich zur Ruhe setzt, wuchern sie in seinen Spuren. Keck, unsterblich, unaustilgbar dauern sie fort. Sie haben unsere Blumenbeete mit prächtigen entarteten Töchtern gefüllt, aber sie selbst, die armen Mütter, sind geblieben, was sie vor hunderttausend Jahren waren. Sie haben keine Falte mehr oder weniger in ihren Blumenblättern aufzuweisen; kein Staubfaden, kein Farbhauch ist verändert, kein neuer Duft entstanden. Treu wahren sie das Geheimnis einer unbekannten Aufgabe. Sie sind die Ursprünglichen und Unzerstörbaren. Der Boden gehört ihnen seit Anbeginn. Sie stellen somit einen feststehenden Gedanken, ein hartnäckiges Verlangen, ein unverlierbares Lächeln der Erde dar. Und darum tut man gut, sie zu befragen. Sie haben uns augenscheinlich etwas zu sagen! Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass sie dereinst, ganz wie Morgen- und Abendröte, Frühling und Herbst, ganz wie der Gesang der Vögel, wie das Haar, der Blick und die Gebärden einer schönen Frau, unseren Vätern zeigten, dass es auf diesem Erdenrund viele unnütze und schöne Dinge gibt ...

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