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Heute früh, beim Betrachten meiner Blumen, die ein weisser Holzzaun vor den biederen, auf der Wiese weidenden Kühen schützt, sah ich im Geiste alles vor Augen, was in Wald und Feld, in den Gärten, Orangerien und Treibhäusern erblüht, und ich vergegenwärtigte mir, was wir dieser Wunderwelt, dem Tummelplatz der Bienen, alles verdanken.
Wissen wir, wie die Menschheit sein würde, wenn die Blumen ihr unbekannt wären? Wenn sie nicht blühten, oder unsere Blicke sie nicht wahrnähmen wie tausend andere nicht minder märchenhafte Erscheinungen, die uns umgeben, und zu denen doch unser Auge nicht dringt: würden dann wohl unser Charakter und unsere Moral, unser Glücks- und Schönheitsgefühl die gleichen sein? Es finden sich in der Natur zwar noch mancherlei wunderbare Kundgebungen des Überflusses und der Anmut, manche blendenden Spiele überschüssiger Kräfte, wie Sonne, Mond und Sterne, Himmelsbläue und Meer, Morgenrot und Dämmerung, Gebirge und Ebene, Wald und Flüsse, Licht und Bäume, und schliesslich, uns näher stehend, die Vögel, Edelsteine und Frauen. Das alles bildet den Schmuck unseres Planeten. Doch abgesehen von den drei letzten Zierden, die sozusagen alle demselben Lächeln der Natur zugehören: wie streng, ernst und fast trübe würde unser Auge gebildet, wenn die Blumen nicht ihre Lieblichkeit beisteuerten! Gesetzt einmal, sie wären unserem Erdball unbekannt, so läge ein grosses Feld unserer menschlichen Psychologie, und zwar das wunderbarste, brach, ja es wäre nicht einmal entdeckt. Eine ganze Gruppe holdseliger Empfindungen schliefe ewig im Grunde unseres härteren und öderen Herzens, und unsere Einbildungskraft wäre um göttliche Bilder ärmer. Die grenzenlose Welt der Farben und Schattierungen wäre uns unvollkommen erschlossen, nur durch einen Himmelsspalt. Die wunderbaren Harmonien des verwandelten Lichtes, das unablässig auf neue Heiterkeiten sinnt und im Selbstgenusse zu schwelgen scheint, wären uns unbekannt, denn die Blumen waren die ersten, die das Prisma gebrochen und den zartesten Teil unserer Sehorgane gebildet haben. Und wer hätte uns den Wundergarten der Wohlgerüche erschlossen? Einige Kräuter, Harze und Früchte, der Odem der Morgendämmerung, der Hauch der Nacht und des Meeres hätten uns verraten, dass jenseits unserer Ohren und Augen ein verschlossenes Paradies liegt, wo die Luft, die man atmet, sich in Wohlgerüche auflöst, die keinen Namen gehabt hätten. Man bedenke doch ferner, was alles der Sprache des menschlichen Glückes fehlte! Unsere Seele wäre fast stumm, wenn die Blumen mit ihrer Schönheit nicht seit Jahrhunderten die Sprache genährt hätten, die wir sprechen, und die Gedanken, welche die köstlichsten Stunden des Lebens zu verewigen trachten. Das ganze Wörterbuch der Liebe, all ihre Empfindungen sind von ihrem Hauch durchweht, von ihrem Lächeln leben sie. Wenn wir lieben, scheinen alle Blumen in uns zu erwachen und uns mit ihren wieder auflebenden Wonnen ein Bewusstsein des Glückes zu verleihen, das ohne sie nicht mehr Gestalt besässe, als der Horizont des Meeres und des Himmels. Sie haben von unserer Kindheit an, ja schon vor dieser, in der Seele unserer Väter, einen ungeheueren Schatz gehäuft, der unseren Freuden am nächsten liegt, und aus . dem wir schöpfen, wann immer wir die holdesten Augenblicke des Daseins recht empfinden wollen. Sie haben um unser Gefühlsleben eine Duftatmosphäre gewebt und verbreitet, in der sich die Liebe heimisch fühlt.
Und darum liebe ich unter den Blumen am meisten die einfachsten und gewöhnlichsten, die ältesten und altmodischsten, die eine lange, mit dem Menschen verknüpfte Vergangenheit hinter sich haben, eine lange Reihe von guten, trostspendenden Handlungen, die seit Jahrhunderten unsere Begleiter sind und einen Teil unseres eigenen Wesens bilden, weil sie in der Seele unserer Ahnen etwas von ihrer Anmut und Lebensfreude zurückliessen.
Aber wo verbergen sie sich? Sie werden seltener als die sogenannten seltenen Blumen. Sie führen ein verborgenes, gefährdetes Dasein. Es macht den Eindruck, als ob sie im Verschwinden wären, und vielleicht gibt es schon welche, die schliesslich mutlos geworden und verschwunden sind, deren Same unter Trümmern begraben ist, die nie mehr den Tau der Gärten trinken werden, und die man nur in sehr alten Büchern wiederfindet, im hellen Rasen blauer Miniaturen oder in den vergilbten Blumenbeeten der alten Meister.
Anmassliche Fremdlinge aus Peru, vom Kap, aus China und Japan haben sie aus den Gartenbeeten und den stolzen Korbbeeten verdrängt. Sie haben namentlich zwei Feindinnen auf Tod und Leben: erstlich das dicht wuchernde Schiefblatt (Begonia tuberosa), das in den Beeten wie ein Volk von kampflustigen Hähnen mit zahllosen Kämmen nistet. Es ist hübsch, aber es nimmt sich zu viel heraus und ist auch etwas gekünstelt; und ungeachtet der Weihe und Stille der Stunde, im Sonnenschein wie im Mondlicht, in der Trunkenheit des Tages und im feierlichen Frieden der Nacht, stets schmettert es die Fanfaren eines eintönigen, duftlosen und schreienden Sieges. Gleich hinterher kommt die gefüllte Geranie, etwas weniger aufdringlich, aber gleichfalls unverwüstlich und von äusserster Keckheit; würde sie seltener auftreten, so stände sie höher im Wert. Durch diese zwei, unterstützt von einigen noch heimtückischeren Fremdlingen und buntblättrigen Pflanzen, deren schwülstige Mosaik heute die schönen Linien unserer meisten Rasenplätze bricht, werden allmählich ihre eingeborenen Schwestern von den Orten verdrängt, die sie so lange durch ihr vertrautes Lächeln aufheiterten. Sie dürfen dem Gaste nicht mehr am vergoldeten Schlossgitter ihren kindlichen Willkommengruss zurufen. Es ist ihnen verwehrt, an der Freitreppe zu schwatzen, in den Marmorvasen zu kichern, am Rande der Wasserbecken ihr Liedchen zu summen und längs der Gartenbeete in ihrer Volksweise zu plappern. Einige sind ans Ende des Gemüsegartens, in die vernachlässigte Ecke verbannt, darunter köstliche Heilpflanzen und wohlriechende Kräuter: Salbei und Estragon, Fenchel und Thymian, lauter alte, abgelohnte Mägde, die hier aus Mitleid oder zäher Überlieferung ihr Gnadenbrot erhalten. Andere haben sich nach den Remisen und Stallungen geflüchtet, sich in die Nähe der niedrigen Küchen- oder Kellertür geduckt, wie demütige, lästige Bettlerinnen, ihre hellen Kleider unter dem Unkraut versteckend und ihre scheuen Düfte nach Kräften an sich haltend, um nicht die Aufmerksamkeit zu erregen.
Aber selbst dort hat die vor Verachtung glühende Pelargonie, die zornrote Begonie das wehrlose Häuflein erspäht und verstossen. Sie sind nach den Meierhöfen und Gottesäckern, in die Gärtchen der Landpfarrer, der alten Jungfern und Provinzialklöster entflohen, und man begegnet ihrem natürlichen Lächeln heute nur noch in der Weltferne der ältesten Dörfer, in der Umgebung baufälliger Hütten, fern von den Eisenbahnen und den anspruchsvollen Treibhäusern der Kunstgärtner. Hier stehen sie nicht mehr verhetzt, atemlos und umzingelt, sondern friedlich, am Ziel angelangt, ausgeruht, reichlich, sorglos, zu Hause … Und ganz wie einst, da man noch mit der Post fuhr, blicken sie von der Mauer herab, die das Haus umzieht, durch die weissen Zäune und von der Fensterbrüstung, die ein Vogelkäfig schmückt, auf die einsamen Strassen, auf denen nichts vorüberzieht ausser den ewigen Gewalten des Lebens. Sie sehen Herbst und Frühling, Regen und Sonnenschein, Schmetterlinge und Bienen kommen und die stille Nacht mit ihrem Gefährten, dem Mond.
O Ihr tapferen alten Blumen! Goldlack, gelbe Violen, Gelbveigelein! – Denn gleich den Feldblumen, von denen sie so wenig trennt, ein Strahl der Schönheit, ein Tropfen Wohlgeruch, haben sie liebliche Namen, die zartesten der Sprache, und eine jede trägt ihrer drei oder vier, gleich jenen peinlich ausgeführten, naiven Votivgaben und Denkmünzen, in denen sich die Dankbarkeit der Menschen verewigt. – Goldlack, der zwischen altem Gemäuer ein Liedchen singt und die trübseligen Steine mit Licht überdeckt! Ihr Gartenprimeln, Himmelsschlüssel oder Schlüsselblumen, orientalische Hyazinthen, Krokus und Aschenpflanzen, Kaiserkronen, wohlriechende Veilchen, Maiblumen, Vergissmeinnicht, Gänseblümchen und Immergrün, weisse Narzissen, Aurikeln, Steinbrech, Schildkraut und Anemonen! Ihr bringt in den Monaten, die den neuen Blättern vorausgehen, im Februar, März und April, die erste Kunde von der Sonne und ihre ersten geheimnisvollen Küsse in einem uns Menschen verständlichen Lächeln. Ihr seid zart und frostig und doch keck wie ein glücklicher Gedanke. Ihr verjüngt das Gras, Ihr seid frisch wie der Tau, den die Morgenröte aus azurner Schale auf die durstenden Knospen giesst, deren Leben so kurz ist wie die Träume eines erwachenden Kindes. Ihr seid fast noch wild und ursprünglich, aber doch schon gezeichnet mit dem vorzeitigen Glanze, der verzehrenden Strahlenkrone und der allzu bedächtigen Anmut der Pflanzen, die das Joch des Menschen auf sich genommen haben.
Doch schon beginnt der Lichtreigen der zahllosen Töchter des Sommers, ein buntfarbiges Durcheinander und Ungestüm, trunken von Morgenröte und Mittagslust. Junge Mädchen in weissen Schleiern und alte Fräulein mit violetten Bändern, Schulmädchen auf Ferien, Firmelkinder, bleiche Nonnen, struppige Gassenbuben, Klatschbasen und Betschwestern. Hier die Ringelblume, die das Grün der Beete mit Licht sprenkelt, die Kamille, wie ein Strauss von Schnee neben ihren unermüdlichen Geschwistern, den Gold- oder Wucherblumen (Chrysanthemum segetum, nicht zu verwechseln mit den japanischen Chrysanthemen, den Herbstblumen). Dort die grosse Sonnenblume oder Sonnenrose (Helianthus annuus), wie ein Priester, der die Monstranz über die Häupter des betenden Volkes erhebt. Der Mohn bemüht sich, seinen vom Morgenwind zerrissenen Kelch mit Licht zu erfüllen. Der derbe Rittersporn im blauen Kittel, der sich für so schön hält wie der Himmel, blickt verächtlich auf die dreifarbige Winde, die es ihm nicht vergessen kann, dass er den Azur seiner Blumen zu blau gewählt habe. Die Nachtviole oder Matronenblume (Hesperis matronalis) im Musselinkleide gleicht den kleinen Dordrechter oder Leidener Kindermädchen in ihrer naiven Schalkheit; es scheint, als wolle sie die Ränder der Blumenbeete mit Unschuld waschen. Das Reseda verkriecht sich in seinem Laboratorium, um im stillen jene Düfte zu läutern, die uns wie ein Vorschmack von der Luft an der Schwelle des Paradieses dünken. Die Päonie oder Pfingstrose, die gierig in vollen Zügen die Sonne getrunken hat, strotzt von Berauschtheit und neigt dem nahenden Schlaganfall zu. Der rote Lein zieht eine blutige Furche zur Bewachung der Beete, und die Portulakrose (Portulaca grandifiora), die reiche Base des Kohlportulaks, kriecht wie ein Moos am Boden und sucht die Erde am Fusse ihrer hohen Stengel mit violettrotem, fleischfarbenen oder schwefelgelbem Taft zu überziehen. Die pausbäckige Georgine, etwas rundlich und einfältig, schneidet ihre regelmässigen Zierate, die den Schmuck des Dorffestes bilden werden, wie aus Seife, Schweineschmalz oder Wachs. Die altväterische Feuerblume (Phlox) lacht aus den Gebüschen unverfroren und unablässig mit ihren kräftigen Farben. Den Gartenmalven, den ehrbaren Jungfrauen, steigen beim leisesten Hauche die zartesten Farben der flüchtigen Scham in ihre Blumenkrone. Die Kapuzinerkresse malt Aquarell oder schreit wie ein Papagei, der an seinen Gitterstangen hochklettert, und die Stockrose, Pappelrose, Rosenmalve (Althaea rosea), auch Siegmarwurz und Jakobsstab geheissen und auf ihre sechs Namen stolz, fältelt ihre Kokarde, deren Fleisch seidenweicher ist als der Busen einer Jungfrau. Die fast durchsichtige Balsamine und das Löwenmaul, beide linkisch und furchtsam, schmiegen ihre Blüten ängstlich an den Stengel.
Dann, in der verschwiegenen Ecke der alten Familien, drängen sich der ährenförmige Ehrenpreis, das rote Fingerkraut, die Sammetblume, das altmodische Maltheserkreuz, die Purpurskabiose, auch Witwenkraut geheissen, der Fingerhut, der wie eine traurige Spindel starrt, die europäische Akelei, auch Glockenblume oder Pantöffelchen genannt, das Himmelsröschen (Silene coelirosa), das auf einem langen, schmalen Hals ein treuherziges, ganz rundes Köpfchen wiegt, um das Himmelsrund zu bewundern, die geheimtuende Mondviole, die im verborgenen die »Papstmünze« schlägt, jene bleichen, flachen Taler, mit denen sich die Elfen und Feen gegenseitig ihre Zaubermittel verkaufen, endlich das Teufelsauge (Adonis aestivalis), der rote Baldrian oder Jupitersbart, die Bartnelke und die alte Gartennelke, die schon der grosse Conde in seiner Verbannung züchtete.
Aber neben, über, vor und auf den Mauern, in den Hecken, an den Zäunen, an den Ästen der Bäume empor treiben die Schlinggewächse ihre Kurzweil wie ein ausgelassenes Volk von Vögeln oder Affen. Sie turnen, spielen, schaukeln und kippen über, kommen wieder ins Gleichgewicht, fallen, fliegen, starren ins Leere, gucken über die Wipfel hinweg und umarmen den Himmel. Da klimmt die Feuerbohne und die wohlriechende Erbse, voller Stolz, dass sie nicht mehr unter die Gemüse rechnen, da rankt die schamhafte Winde, das Gaisblatt, dessen Duft die Seele des Morgentaus zu bannen scheint, die Waldrebe und Glyzine, während vor den Fenstern, zwischen weissen Gardinen, an gespannten Fäden die rankende Glockenblume hohe Wunder schafft, Garben bildet und Girlanden flicht aus tausend einmütigen Blumen von so wundervoller Reinheit und Durchsichtigkeit, dass, wer sie zum ersten Male erblickt, seinen Augen nicht traut und das bläuliche Wunder befühlen will, das sich da frisch wie ein Wasserstrahl, rein wie ein Quell und unwirklich wie ein Traum erhebt.
Dazwischen steht wie eine Strahlengarbe die grosse weisse Lilie, die alte Königin der Gärten, die einzige wahre Fürstin unter all dem Gesindel des Gemüsegartens, der Gräben und Raine, der Waldlichtungen, Triften und Moore, unter all den Fremdlingen, die weiss Gott woher kommen, unveränderlich mit ihrem Kelch aus sechs silbernen Blumenblättern; ihr Adel reicht bis zu dem der Götter hinauf. Die unvordenkliche Lilie hat ihr uraltes Zepter unversehrt und königlich bewahrt und gebietet mit ihm rings um sich Keuschheit, Schweigen und Licht.
Ich sah sie alle, die, welche ich nannte, und viele andere vergessene, derart beisammen im Garten eines alten Weisen, des selben, durch den ich die Bienen lieben lernte. Sie boten sich den Blicken dar in grossen, flachen Beeten, in Korbbeeten, in symmetrischen Rabatten, Ellipsen, Parallelogrammen, Rhomben und Quadraten, eingefasst von Buchsbaumborden, roten Ziegeln, Steingutfliesen oder Kupferketten, wie jene Kostbarkeiten in regelmässigen Behältern auf den vergilbten Stichen, welche die Werke des alten holländischen Dichters Jakob Cats zieren. Und die Blumen standen in guter Reihe, die einen nach Arten geordnet, die anderen nach Form und Farbe, wieder andere bildeten infolge der stets glücklichen Zufälle von Wind und Sonne einen Verein der feindseligsten und mörderischsten Farben, wie um zu beweisen, dass die Natur keine Disharmonie kennt, und dass alles, was lebt, sich seine eigene Harmonie schafft.
Aus seinen zwölf Fenstern mit gebogenen, glänzenden Scheiben, Musselinvorhängen und grossen grünen Fensterläden blickte das lange Gebäude, mit rosa Ölfarbe gestrichen und wie eine Muschel glänzend, auf sie hernieder, wie sie im Morgendämmer erwachten, die raschen Diamanten des Taus abschüttelten oder des Abends die Kelche schlossen, wenn blaue Finsternis von den Sternen fiel. Man hatte den Eindruck, als genösse es mit Verstand das alltägliche holde Blumenmärchen, während es fest zwischen zwei hellen Gräben stand, die sich fern in der ungeheuren Weidenniederung mit ihren regungslos grasenden Kühen verloren. Und am Strassenrand stand eine prächtige Windmühle, vornübergeneigt wie ein Prediger, und machte mit ihren väterlichen Armen den Vorübergehenden aus dem Dorfe vertraute Zeichen.
Gibt es auf Erden einen holderen Schmuck unserer Mussestunden als Blumenzucht? – Es war schön, zu sehen, wie diese herrliche Schar, die das Licht in wundervolle Farbentöne, in Honig und Duft umsetzt, so zur Augenweide rings um das Haus meines friedfertigen alten Freundes vereint war. Er fand da, in sichtbare Freuden übersetzt und vor seiner Tür gebannt, die verstreuten, flüchtigen und schier unfasslichen Wonnen des Sommers, all die berauschende Schöne der Luft, die Milde der Nächte, die Glut der Sonnenstrahlen, den Frohsinn der Stunden, die Geheimnisse der Morgenröte, das Flüstern und die verborgenen Gedanken des azurnen Raumes. Er genoss nicht nur ihre glänzende Gegenwart, er hoffte auch – wahrscheinlich mit Unrecht, so tief und verworren ist ja das Geheimnis – er hoffte noch, der Natur durch beharrliches Befragen ich weiss nicht welches Gesetz oder welchen geheimen Plan abzulauschen, irgend einen verborgenen Weltgedanken, der sich vielleicht in jenen glühenden Augenblicken verriete, wo sie anderen Geschöpfen zu gefallen, andere Lebewesen zu verführen und Schönheit zu schaffen sucht.
Alte Blumen, sagte ich. Ich irrte. Geht man ihrer Vergangenheit nach, spürt man ihre Genealogie auf, so erfährt man voller Staunen, dass die meisten von ihnen bis herunter zu den einfachsten und verbreitesten neue Wesen sind, Freigelassene, Verbannte, Emporkömmlinge, Gäste, Fremdlinge ... Jedes botanische Lehrbuch gibt Aufschluss über ihren Ursprung. Die Tulpe zum Beispiel (man denke nur an die Namen, die ihr La Bruyère verleiht: Agathe, Türkenkleid, Orientalin, Solitär) kommt erst im 16. Jahrhundert aus Konstantinopel zu uns. Der Hahnenfuss, die Mondviole, das Maltheserkreuz, die Balsamine, Fuchsie und Sammetblume (Tagetes erecta), die Lichtnelke (Lychnis coronaria), der zweifarbige Sturmhut, der rote Fuchsschwanz, die Rosenmalve und die rankende Glockenblume kommen fast zur selben Zeit aus Indien, Persien, Mexiko, Syrien und Italien. Das Stiefmütterchen erscheint erst 1613, das Steinkraut 1710, der perennierende Lein 1775, der rote Lein 1819, die Purpurskabiose 1629, der Judenbart (Saxifraga sarmentosa) 1771, der ährenförmige Ehrenpreis 1731, die perennierende Feuerblume ein wenig früher. Die chinesische Nelke tritt seit 1713 in unseren Gärten auf. Die perennierende Nelke ist von heute. Die Portulakrose erscheint erst 1828 und die rotblühende Salbei 1822, der Wasserdost oder himmelblaue Strontian, so üppig gedeihend und so volkstümlich, zählt keine 200 Jahre, die rote Immortelle (Helichrysum bracteatum) noch weniger. Die Zinnie ist gerade 100 Jahre alt. Die Feuerbohne aus Südamerika und die wohlriechende Erbse aus Sizilien zählen kaum 200 Jahre. Die Afterkamille oder Baummarguerite, die in den unbekanntesten Dörfern zu finden ist, wird erst seit 1699 kultiviert. Die hübsche blaue Lobelie unserer Garteneinfassungen kam zur Revolutionszeit vom Kap herüber. Die chinesische Aster trägt das Datum von 1731. Die einjährige Feuerblume (Phlox Drummondi), so gewöhnlich sie ist, kam erst 1835 aus Texas. Die Gartenmalve, die uns ganz als Eingeborene, ganz naiv und bäuerisch vorkommt, blüht in unseren nordischen Gärten erst seit 250 Jahren, und die Petunie seit zwanzig Lustren. Reseda, Heliotrop – wer will es glauben? – zählen noch nicht zwei Jahrhunderte. Die Georgine datiert von 1802, die Schwertlilie (Gladiolus Gandavensis) ist von heute.
Welche Blumen blühten also in den Gärten unserer Voreltern? Ohne Zweifel sehr wenige, sehr kleine und bescheidene, kaum unterschiedlich von denen, die wild am Wegrain, auf Wiesen und in Waldlichtungen wachsen. Vor dem 16. Jahrhundert sind die Gärten fast öde, und auch später hätte selbst Versailles, das prunkvolle Versailles, nicht mehr aufbieten können, als wir heutzutage im ärmlichsten Dorfe finden. Nur Veilchen, Gänseblümchen, Maiglöckchen und Ringelblume, der Gartenmohn, der Bruder der Klatschrose, einige Krokus- und Irisarten, Herbstzeitlosen, Fingerhut, Baldrian, Levkoje, Malve, Rittersporn, Kornblume, wilde Nelke, Vergissmeinnicht, die fast noch wilde Rose und die grosse weisse Lilie, die eingeborenen Zierden von Feld und Wald, deren Ehrgeiz durch Schnee und Nordwind eingeschüchtert ist, lächelten unseren Vorfahren zu. Übrigens wurden diese ihrer Dürftigkeit nicht gewahr. Der Mensch verstand noch nicht, um sich zu schauen und das Leben der Natur mitzugeniessen. Erst mit der Renaissance und den grossen Reisen kam die Entdeckung und das Umsichgreifen der Sonne. Alle Blumen der Erde, all ihr erfolgreiches Bemühen, ihre heimlichen Tiefen und Schönheiten, die frohen Pläne und Gedanken unseres Planeten drangen bis zu uns herauf, getragen auf den Strahlen eines Lichtes, das man bisher vom Paradies erhoffte, und das nun aus unserer eigenen Erde brach. Der Mensch wagt sich heraus aus Klostermauern und Kirchengrüften, aus den Ziegeln und Steinen der Stadt, aus der finsteren Burg, in der er sein Leben verträumt hatte. Er geht in den Garten hinunter, der sich mit Himmelsbläue, Purpur und Wohlgerüchen erfüllt. Er tut die Augen auf und erstaunt wie ein Kind, das den Träumen der Nacht entrann. Wald und Feld, Meer und Gebirge und schliesslich auch Vögel und Blumen, die Sprachführer der Welt in einer menschlicheren Sprache, die er zu verstehen beginnt, begrüssen sein Erwachen.
Jetzt gibt es fast keine unbekannten Blumen mehr. Wir haben fast alle Formen entdeckt, in welche die Natur den grossen Liebestraum, den Schönheitsdrang kleidet, der ihren Busen beseelt. Wir leben sozusagen im Schosse ihrer zartesten Geheimnisse, ihrer rührendsten Erfindungen. Wir nehmen einen unverhofften Anteil an den geheimnisvollsten Festen der unsichtbaren Macht, die auch uns belebt. Ohne Zweifel kann es wenig scheinen, ob wir ein paar Blumen mehr in unseren Zierbeeten haben. Sie streuen nur hier und dort ein ohnmächtiges Lächeln auf den Weg des Todes. Und doch ist dies ein Lächeln neuer Art, das unsere Voreltern noch nicht kannten, und dieses neu entdeckte Glück verbreitet sich freigebig allerorten, bis zur Tür der ärmlichsten Hütte. Die guten, anspruchslosen Blumen sind ebenso glückstrahlend im engen Gärtlein des Armen wie auf den üppigen Rasenflächen des Schlossgartens. Sie umgeben die Hütte mit der höchsten Schönheit der Erde, denn bis auf diesen Tag hat die Erde nichts Schöneres hervorgebracht als die Blumen. Sie erobern allmählich das Erdenrund. Sie geben uns bereits eine Vorahnung der Tage, wo alle Menschen endlich die gleiche grössere Musse, die Gleichheit der gesunden Freuden teilen werden. – Ja, unleugbar ist das wenig; alles ist so wenig, wenn man jeden unserer kleinen Siege für sich allein betrachtet. So wenig scheinen auch ein paar Gedanken mehr in unserem Kopfe, ein neues Gefühl in unserem Herzen, und doch ist es gerade dies, was uns allmählich zum Ziel unseres Hoffens emporführt.
Aber schliesslich stehen wir hier doch vor einer wirklichen Tatsache: wir leben in einer Welt, in der die Blumen schöner und zahlreicher sind als einstmals; und vielleicht dürfen wir auch fortfahren: in einer Welt, in der das menschliche Denken gerechter und wahrheitsdurstiger wird. Die geringste anerworbene Freude, das geringste abgeschaffte Leid muss im Buche der Menschheit vermerkt werden. Wir dürfen keinen der Beweise ausser acht lassen, dass wir der namenlosen Gewalt Herr werden und einige der geheimnisvollen Gesetze, welche die Wesen regieren, zu erkennen beginnen; dass wir uns auf unserem Planeten anpassen, dass wir unser Erdendasein schmücken, dass wir die Oberfläche des Glückes und der Schönheit des Lebens vergrössern.