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Vor kurzem starb mir ein junger Hund, eine Bulldogge, im sechsten Monat seines kurzen Daseins. Er hatte also noch keine Vergangenheit. Seine klugen Augen öffneten sich, um die Welt zu betrachten und die Menschen zu lieben, dann schlossen sie sich wieder vor den geheimnisvollen Ungerechtigkeiten des Todes.
Ein Freund hatte mir das Tier geschenkt und ihm – vielleicht aus Ironie – den etwas unerwarteten Namen Pelleas gegeben. Warum sollte ich ihn anders taufen? Wird der Name eines Menschen oder eines imaginären Helden durch einen armen, gemütvollen, treuen und redlichen Hund entehrt?
Pelleas hatte also eine mächtige, gewölbte Stirn, ähnlich wie Sokrates oder Verlaine, eine kleine schwarze Stülpnase, die wie zu einer unzufriedenen Bejahung hochgezogen war, und darunter ein paar breite, gleichmässig herabhängende Backentaschen, die seinem Kopf einen drohenden, klobigen, verbissenen, nachdenklichen Ausdruck und eine dreieckige Form gaben. Er besass die Schönheit eines echten Naturungetüms, das sich genau nach den Gesetzen seiner Art entwickelt hat. Und welch ein verbindlich-aufmerksames, unbestechlich-unschuldiges Lächeln voll liebender Unterwerfung, grenzenloser Dankbarkeit und völliger Hingabe leuchtete bei der geringsten Liebkosung aus dieser prachtvoll-hässlichen Maske! Man wusste nicht recht, woher es eigentlich kam. Aus den treuherzigen, zärtlichen Augen? Aus den Ohren, die sich aufmerksam spitzten, wenn man zu ihm sprach? Aus den vier weissen, winzigen, überstehenden Zähnen, die auf den schwarzen Lippen voller Heiterkeit strahlten? Aus der Stirn, die sich glättete, um zu verstehen und zu lieben? Oder aus dem Schwanzstummel, der am andern Ende seines Leibes wedelte, um die leidenschaftliche, innige Freude auszudrücken, die das kleine Tier erfüllte, das Glück, wieder einmal die Hand des Gottes zu fühlen, dem es sich hingegeben hatte, und seinem Blick zu begegnen?
Pelleas war in Paris geboren und ich hatte ihn aufs Land mitgenommen. Auf den guten dicken Pfoten, die ihn, unfertig und unförmig, über die unerforschten Pfade seines jungen Lebens trugen, ruhte weich der mächtige, ernste, stumpfnasige und scheinbar gedankenschwere Kopf.
Denn dieser harte und etwas schwermütige Kopf, der dem eines überanstrengten Kindes glich, begann gerade die erdrückende Arbeit aufzunehmen, die jedes Gehirn beim Eintritt ins Leben belastet. Er musste binnen fünf oder sechs Wochen eine genügende Vorstellung und Auffassung von der Welt in sich aufnehmen und verarbeiten. Der Mensch, dem alle Kenntnisse seiner Eltern und Brüder zu Gute kommen, braucht dreissig oder vierzig Jahre, um diese Weltauffassung notdürftig festzulegen, aber der schlichte Hund muss sie allein in wenigen Tagen entwirren; und doch würde seine Auffassung in den Augen eines allwissenden Gottes vielleicht denselben Wert, das gleiche Schwergewicht haben, wie die unsere ...
Es galt für ihn also die Erde zu erforschen, die sich aufkratzen und aufwühlen lässt und bisweilen erstaunliche Dinge birgt; es galt, den Himmel, der keine Bedeutung hat, weil nichts an ihm essbar ist, mit einem einzigen Blick abzutun, das Gras, das herrliche grüne Gras, den frischen elastischen Rasen als Spiel- und Rennplatz, als gefälliges, grenzenloses Lager zu erkennen, das den »Hundszahn« birgt, ein Gesundheit förderndes Kraut. Es galt ferner, tausend sonderbare, sich aufdrängende Beobachtungen durch einander zu behalten, z. B. ohne einen anderen Führer als den Schmerz die Höhe der Gegenstände abschätzen zu lernen, von denen man ins Leere hinunter springen kann; sich zu überzeugen, dass es umsonst ist, die Vögel zu verfolgen, die fortfliegen, dass man nicht auf die Bäume klettern kann, um den Katzen nachzustellen, die sich über einen lustig machen; die Sonnenflecke zu erkennen, in denen es sich köstlich schlummert, und die Schattenstellen, wo man friert. Verwundert erkennen, dass der Regen nicht in die Häuser fällt, dass das Wasser kalt, unwohnlich und gefährlich ist, wogegen das Feuer auf Entfernung wohltätig, in der Nähe aber schrecklich ist. Bemerken, dass die Wiesen, die Pachthöfe und bisweilen auch die Wege von riesigen Geschöpfen mit drohenden Hörnern heimgesucht werden, die vielleicht gutmütig und jedenfalls schweigsam sind, die man ziemlich aufdringlich anschnüffeln kann, ohne dass sie davon Notiz nehmen, die aber ihren Hintergedanken niemals verraten. Die demütigende und peinliche Erfahrung machen, dass man in der Heimstätte der Götter nicht unterschiedslos allen Naturgesetzen nachgeben darf. Erkennen, dass die Küche der bevorzugteste und angenehmste Ort dieser Götterwohnung ist, obwohl man sich wegen der Köchin, einer bedeutenden, aber eifersüchtigen Macht, nicht darin aufhalten darf. Sich vergewissern, dass die Türen wichtige und launische Gewalten sind, die bisweilen zum Glück führen, meistens aber fest verschlossen, stumm und starr, hochmütig und herzlos sind und gegen alles Flehen taub bleiben. Ein für allemal lernen, dass die wesentlichen Güter des Daseins, die unzweifelhaften Genüsse, meist in Töpfen und Kasserollen verschlossen und fast immer unerreichbar sind; sie mit geflissentlicher, angelernter Gleichgültigkeit ansehen, sich darin üben, sie zu ignorieren, indem man sich sagt, dass es wahrscheinlich heilige Gegenstände sind, da man sie ja nur ehrerbietig mit der Zungenspitze zu berühren braucht, um wie durch einen Zauberschlag den einmütigen Zorn aller Götter des Hauses zu entfesseln.
Und dann: was soll man von dem Tisch denken, auf dem so viele ungeahnte Dinge geschehen, von den höhnischen Lehnstühlen, auf denen man nicht schlafen darf, von den Tellern und Schüsseln, die leer sind, wenn sie einem überlassen werden, von der Lampe, welche die Nacht verscheucht, und von dem Herde, der die kalten Tage vertreibt? Wieviel Befehle, Gefahren, Verbote, Probleme und Rätsel gilt es dem überladenen Hirn einzuordnen? ... Und wie soll das alles mit anderen Gesetzen, anderen noch grösseren, noch gebieterischeren Rätseln in Einklang gebracht werden, die man in sich trägt, in seinem Instinkt, die von Stunde zu Stunde hervortreten und sich entwickeln, die aus dem Schosse der Zeit und der Rasse emportauchen, die das Blut, die Muskeln und die Nerven überschwemmen und sich plötzlich unwiderstehlich und zwingend selbst gegen den Schmerz, ja sogar gegen das Gebot des Herrn und die Todesfurcht behaupten? Wenn z. B. – um nur einen Fall zu nehmen – die Stunde des Schlafs für die Menschen geschlagen und der Hund sich in seine Ecke verkrochen hat, und ringsum herrscht Finsternis, Stille und die furchtbare Einsamkeit der Nacht. Alles schläft im Hause des Gebieters. Wie klein und schwach fühlt er sich dem Mysterium gegenüber! Er weiss, dass das Dunkel von schleichenden, lauernden Feinden bevölkert ist. Er misstraut den Bäumen, dem wehenden Winde, den Mondstrahlen. Er möchte sich verkriechen, den Atem anhalten, um nicht bemerkt zu werden. Und doch muss er wachen, muss beim leisesten Geräusch aus dem Schlupfwinkel heraus, dem Unsichtbaren Trotz bieten und das Schweigen stören, das auf der Welt lastet, auf die Gefahr hin, das Unglück oder das Verbrechen, das flüsternd heranschleicht, auf sich selbst zu lenken. Und wer auch der Feind sei, wär' es selbst der Mensch, das heisst der Bruder des Gottes, den er schützen soll, er muss ihn blindlings angreifen, ihm an die Kehle springen, seine Zähne vielleicht gotteslästerlich in das menschliche Fleisch bohren, alle Zaubermacht einer Hand und Stimme vergessen, die der seines Gebieters gleicht, nie still sein, nie fliehen, sich nie in Versuchung führen noch bestechen lassen, und in der Nacht, allein und ohne Hilfe, den heldenmütigen Warnruf bis zum letzten Seufzer erschallen lassen. Das ist die grosse, von den Voreltern vererbte Pflicht, die Hauptpflicht, die stärker ist als der Tod, die selbst der Wille und der Zorn des Menschen nicht ändern kann. Unsere ganze bescheidene Menschheitsgeschichte ist unlöslich verknüpft mit der des Hundes in den ersten Kämpfen gegen alles, was atmete, und darum ist sie aus seinem Gedächtnis nicht mehr fortzuwischen. Und wenn wir heute in unseren sicheren Wohnungen bisweilen seinen unzeitgemässen Eifer bestrafen, so wirft er uns einen erstaunten, vorwurfsvollen Blick zu, als wollte er sagen, dass wir im Irrtum sind, und wenn wir den Hauptpunkt des Paktes ausser acht lassen, den er mit uns schloss, da wir noch in Höhlen, Wäldern und Sümpfen hausten, dass er ihm trotzdem treu bleibt und der ewigen Wahrheit des Lebens, das voller Fallen und feindlicher Gewalten ist, noch näher steht.
Aber wieviel Mühe und Sorge, wieviel Lernen ist nötig, damit er dieser Pflicht gewachsen ist! Und wie verwickelt ist sie geworden, seit wir die stillen Höhlen und öden Seen verliessen! Wie einfach, klar und leicht war sie damals! Die einsame Höhle hatte ihren Eingang am Berghang, und alles, was näher kam, alles, was am Rand der Flächen und Wälder sich rührte, war unzweifelhaft ein Feind! ... Heute weiss er es nicht mehr ... Er muss mit einer Zivilisation, die er nicht billigt, gleichen Schritt halten, muss so tun, als ob er tausend unbegreifliche Dinge verstünde ... So scheint es klar, dass die Welt nicht mehr ausschliesslich seinem Herrn gehört, dass sein Eigentum unerklärliche Schranken hat ... Es kommt also zu allererst darauf an, zu wissen, wo das geheiligte Bereich beginnt und endet. Was muss geduldet, was verwehrt werden? – Auf der Strasse z. B. hat jedermann, selbst der Bettler, das Recht zu gehen. Warum? – Das ist unbekannt; es ist eine Tatsache, die der Hund beklagt, aber hinnehmen muss. – Dagegen darf sich zum Glück niemand auf dem schönen Fusswege zeigen. Er ist den gesunden Traditionen treu geblieben; er darf also nicht aus den Augen gelassen werden; auf ihm gelangen die schwierigen Probleme ins tägliche Leben. – Nur ein Beispiel. – Der Hund schläft friedlich in einem Sonnenstreifen, der den Küchenboden mit tanzenden Perlen besät. Die Porzellantöpfe treiben ihr Spiel miteinander; sie stossen sich mit den Ellenbogen an oder schupfen sich am Rande der mit Papierspitzen gezierten Holzborde. Die Kupferkessel lassen Lichtflecke auf den weissen glatten Wänden spielen. Der mütterliche Herd summt bedächtig und wiegt drei Kochtöpfe, die glückselig tanzen, und durch das kleine Loch, das seinen Bauch erleuchtet, streckt er dem guten Hund, der sich nicht nähern kann, beständig eine feurige Zunge heraus, um ihn zu foppen. Die Uhr langweilt sich in ihrem Eichenschrank und wartet darauf, dass sie die göttliche Stunde der Mahlzeit schlagen kann, während sie ihren dicken vergoldeten Pendel hin- und herbewegt, und die heimtückischen Mücken quälen den Hund an den Ohren. Auf dem glänzenden Tische liegen ein Huhn, ein Hase und drei Rebhühner, daneben andre Dinge, die Früchte heissen: Pfirsiche, Melonen, Trauben, lauter wertloses Zeug. Die Köchin nimmt einen grossen silbernen Fisch aus und schmeisst die Eingeweide, statt sie ihm anzubieten, in den Kasten für Abfälle. O dieser Kasten für Abfälle! Welch unerschöpflicher Schatz, welche Fundstätte unverhoffter Dinge, welch ein Juwel des Hauses! – Auch der Hund bekommt seinen Teil davon, den erlesensten und verstohlensten, aber er muss so tun, als ob er gar nicht wüsste, wo er steht. Es ist ihm ein für allemal streng untersagt, darin zu wühlen. Der Mensch verbietet derart mancherlei angenehme Dinge, und das Leben wäre trübselig, die Tage wären leer, wenn der Hund allen Verboten in Küche, Keller und Esszimmer nachkäme. Zum Glück ist der Herr zerstreut und behält die gegebenen Befehle nicht lange. Er lässt sich leicht betrügen. Der Hund erreicht doch, was er will, wenn er geduldig die Stunde abwartet. Er ist dem Menschen unterworfen, der allein der Gott ist, aber darum hat er doch seine eigene bestimmte und unverrückbare Moral, nach der alle verbotenen Handlungen, sobald sie ohne Wissen des Menschen geschehen, durchaus erlaubt sind. Also schliessen wir das aufmerksame Auge, das alles gesehen hat. Tun wir, als ob wir schliefen und träumen wir vom Mondschein. – Halt! da klopft es sacht an die blaue Fensterscheibe, die nach dem Garten geht. – Was gibt es denn? – Nichts. Ein Rotdornzweig klopft an, um zu sehen, was in der kühlen Küche gemacht wird. – Die Bäume sind sonderbar und oft bewegt, sie zählen aber nicht mit. Der Hund hat ihnen nichts zu sagen, sie sind unverantwortlich, sie gehorchen dem Winde, der keine Grundsätze hat. – Aber nein! Ich höre Schritte! ... Aufgestanden, die Ohren gespitzt und die Nase bereit! – Nein, es ist der Bäcker, der ans Gitter kommt, während der Briefträger ein Pförtchen in der Lindenhecke öffnet. – Sie sind bekannt, es ist gut ... Sie bringen etwas und können begrüsst werden. Der Schwanz wedelt zurückhaltend zwei-, dreimal mit gnädigem Lächeln. – Wieder ein Lärm! Was gibts nun wieder? – Ein Wagen hält vor der Haustür. O, das ist schon schwieriger! ... Das Problem ist verwickelt. – Zunächst gilt es, die Pferde reichlich zu beschimpfen. Es sind grosse hochmütige Tiere, die nie antworten. Indessen beginnt man, die aussteigenden Personen von der Seite zu beobachten. – Sie sind gut gekleidet und scheinen durchaus zuverlässig. Vielleicht werden sie am Tische der Götter Platz nehmen. Sie müssen angebellt werden, aber ohne Bitterkeit, mit einem Anflug von Hochachtung: man muss zeigen, dass man seine Pflicht tut, aber mit Verstand. Trotzdem behält man etwas Verdacht, und hinter dem Rücken der Gäste schnuppert man heimlich, aber beharrlich und mit verständnisvoller Miene, um ihre verborgenen Absichten herauszukriegen.
Aber da schallen humpelnde Schritte in der Nähe der Küche. Diesmal ists der Bettler, der seinen Bettelsack schleppt, der zweifellose Erbfeind, der unmittelbare Abkömmling dessen, der die mit Knochen erfüllte Höhle umschweift und nun plötzlich im Rassenbewusstsein wieder auftaucht. Trunken vor Wut, mit kurzem Bellen, die Zähne vor Groll und Hass fletschend, will er den unversöhnlichen Gegner an den Hosen packen, da kommt die Köchin mit ihrem Besen, dem wortbrüchigen Küchenzepter, dem Verräter zu Hilfe, und der Hund muss sich wieder in seine Ecke verkriechen, aus der die Augen in ohnmächtigen, scheelen Flammen hervorleuchten und die Kehle furchtbare, aber vergebliche Flüche erschallen lässt. Im stillen denkt der Hund, dass die Welt untergeht und dass das Menschengeschlecht den Begriff von Recht und Unrecht verlernt hat ... Ist damit alles gesagt? – Noch nicht, denn auch das kleinste Leben setzt sich aus unzähligen Pflichten zusammen, und es bedarf einer langen Arbeit, um sich an der Grenze zweier Welten, die so verschieden sind, wie die menschliche und tierische, ein glückliches Dasein zu schaffen. Wie würden wir uns z. B. einrichten, wenn wir, ohne unsere Sphäre zu verlassen, einer Gottheit dienen müssten, die nicht mehr imaginär und uns selbst ähnlich wäre, wie die, die aus unserem Denken geboren ist, sondern einem sehr sichtbaren, allzeit gegenwärtigen, allzeit tätigen Gotte, der unserm Wesen ebenso fremd, ebenso überlegen ist, wie wir dem Hunde?
Endlich – um auf Pelleas zurückzukommen – weiss man alles, was man tun und wie man sich im Machtbereich des Herrn benehmen muss. Aber die Welt ist an den Haustüren nicht zu Ende, und jenseits der Mauern und der Hecke liegt eine Welt, die man nicht mehr zu bewachen hat, wo man nicht mehr zu Hause ist, wo alle Beziehungen verändert sind. Wie hat der Hund sich auf der Strasse, auf den Feldern, auf dem Markt, in den Läden zu benehmen? Nach einer Reihe schwieriger und feiner Beobachtungen hat er begriffen, dass es ungehörig ist, sich mit den Passanten abzugeben und dem Anruf von Fremden zu gehorchen, dass er gegen Unbekannte, die ihn streicheln, höflich, aber gleichgültig sein muss. Ferner gilt es, gewissen Pflichten einer geheimnisvollen Höflichkeit gegen seine Brüder, die anderen Hunde, gewissenhaft nachzukommen, Hühner und Enten zu schonen, in der Konditorei an den Kuchen vorbeizusehen, die sich unverschämt bis zu seiner Zunge herabspreizen, die Katzen, die ihn auf den Türschwellen durch scheussliche Grimassen herausfordern, mit stillschweigender Verachtung zu strafen, aber ihren Hohn nicht zu vergessen; nicht ausser acht zu lassen, dass es erlaubt und sogar löblich ist, Mäuse, Ratten und wilde Kaninchen zu jagen und zu würgen, überhaupt alle Tiere, die durch geheime Kennzeichen verraten, dass sie ihren Frieden mit dem Menschen noch nicht geschlossen haben.
Das alles und noch so viel anderes! ... War es da erstaunlich, dass Pelleas angesichts dieser zahllosen Probleme bisweilen nachdenklich erschien, und dass sein sanfter und bescheidener Blick oft so tief und so ernst war, so sorgenschwer und voll unlöslicher Fragen?
Leider hat er nicht die Zeit gehabt, die schwere und lange Aufgabe zu Ende zu führen, die die Natur dem Instinkt stellt, wenn er sich zu einer klareren Höhe erheben will! ... Ein ziemlich geheimnisvolles Leiden, das scheinbar dem einzigen Tiere verhängt ist, das sich aus dem Kreise seiner Geburt erheben kann, eine unbestimmte Krankheit, die die jungen, klugen Hunde zu Hunderten hinrafft, hat den Geschicken und der glücklichen Erziehung meines Pelleas ein Ziel gesetzt. Und nun ruhen so viele Anläufe zu etwas mehr Licht, so viel Glut zum Lieben, so viel Mut zum Verstehen, so viel zutunliche Freude und harmlose Schmeichelei, so viele gute, treue Blicke, die sich zum Menschen emporrichteten und ihn um Hilfe anflehten gegen ungerechte und unerklärliche Schmerzen, so viele schwache Reflexe aus dem tiefen Abgrund einer Welt, die nicht mehr die unsere ist, so viele beinah menschliche Gewohnheiten ruhen nun traurig unter einem blühenden Fliederbaum in der kalten Erde am Ende des Gartens.
Der Mensch liebt den Hund, aber wie müsste er ihn erst lieben, wenn er sich klar machte, welche grosse und einzige Ausnahme in einem Naturganzen von unbeugsamen Gesetzen diese Liebe eines Wesens ist, das, um sich uns zu nähern, die sonst überall undurchdringlichen Scheidewände, die den Arten gezogen sind, zu durchbrechen gewusst hat. Wir sind allein, völlig allein auf einem Planeten des Zufalls, und unter allen Gestalten des Lebens, die uns umgeben, hat sich nicht eine mit uns verbündet, ausser dem Hunde. Einige Geschöpfe fürchten uns, die meisten kennen uns nicht, und keines liebt uns. Wir haben auf Erden die Pflanzen als stumme und unbewegliche Sklavinnen, aber sie dienen uns wider Willen. Sie unterliegen einfach unsern Gesetzen und unserm Joche. Sie sind ohnmächtige Gefangene, Opfer, die nicht fliehen können, aber im stillen rebellisch, und sobald wir sie aus den Augen verlieren, verraten sie uns schleunigst und kehren zu ihrer einstigen wilden und schädlichen Freiheit zurück. Wenn sie Flügel hätten, würden Rose und Getreide bei unserm Nahen fliehen, wie es die Vögel tun. Unter den Tieren zählen wir einige Diener, die sich nur aus Gleichgültigkeit, Feigheit oder Stumpfsinn unterwerfen. Das scheue, ängstliche Pferd gehorcht nur dem Schmerz und schliesst sich an nichts an; der stumpfe und duldende Esel hält es nur bei uns aus, weil er nicht weiss, was er tun und wohin er laufen soll, aber auch unter dem Knüppel und Packsattel bewahrt er seinen Gedanken hinter den Ohren. Das Rind ist glücklich, so lange es frisst, und folgsam, weil es seit Jahrtausenden keinen eigenen Gedanken mehr hat. Das blöde Schaf hat keinen andern Herrn als den Schreck. Das Huhn bleibt getreulich in seinem Hühnerstall, weil es dort mehr Maiskörner und Getreide findet als im nahen Walde. Ich will nicht von der Katze reden, für die wir nichts sind als eine zu dicke, ungeniessbare Beute. Sie bleibt das wilde Tier, das uns nur mit scheeler Verachtung in unserm eignen Heim duldet, wie lästige Parasiten. Sie verflucht uns wenigstens in ihrem geheimnisvollen Herzen, aber die anderen alle leben in unserer Nähe, wie sie neben einem Baum oder einem Felsen leben würden. Sie lieben und kennen uns nicht, sie bemerken uns kaum. Sie kümmern sich nicht um unser Leben, unsern Tod, unser Scheiden und Kommen, unsre Freude und Trübsal, unser Lächeln. Sie hören nicht einmal den Klang unserer Stimme, sobald sie nicht mehr droht, und sie blicken uns an mit der misstrauischen Bestürztheit des Pferdes, in dessen Auge noch die betörte Furcht des Elens oder der Gazelle flackert, die uns zum erstenmal bemerken, oder mit dem stumpfen Trübsinn der Wiederkäuer, die uns ansehen wie eine augenblickliche, unnütze Zugabe zu ihrer Weide.
Seit Jahrtausenden leben sie an unserer Seite und stehen doch unseren Gedanken, unseren Neigungen, unseren Sitten so fern, als wären sie vom unbrüderlichsten Gestirn erst gestern auf unsern Erdball gefallen. In dem grenzenlosen Raume, der den Menschen von allen anderen Wesen trennt, ist es uns nur durch endlose Geduld gelungen, sie ein paar illusorische Schritte weiter zu bringen. Und wenn die Natur ihnen morgen, ohne ihre Gefühle gegen uns zu verändern, den Verstand und die Waffen gäbe, uns zu besiegen, so muss ich gestehen, dass ich vor der jähzornigen Rache des Pferdes, der eigensinnigen Vergeltung des Esels und der in Wut verwandelten Sanftmut des Schafes allen Respekt hätte. Ich würde die Katze fliehen wie einen Tiger, und selbst die gutmütige, feierlich schläfrige Kuh würde mir nur ein geringes Vertrauen einflössen. Und wenn das Huhn mich entdeckte mit seinem runden, schnellen Auge, als hätte es eine Schnecke oder einen Wurm erspäht, so würde es mich sicherlich ahnungslos verschlingen.
In dieser vollständigen Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, in der alles, was uns umgibt, verharrt, in dieser Welt ohne Mitteilbarkeit, in der alles sein Ziel hermetisch in sich selbst verschlossen trägt, wo jedes Schicksal auf sich selbst beschränkt ist und keine andern Beziehungen zwischen den Wesen herrschen, als die zwischen Schlächter und Opfer, zwischen Fressen und Gefressen-werden, wo nichts aus seiner engen Sphäre herauskann und allein der Tod grausame Beziehungen von Wirkung und Ursache zwischen benachbarten Wesen schafft, wo die bescheidenste Sympathie nie bewusst die Schranken einer Art übersprungen hat: ist es unter allem, was auf Erden atmet, nur einem Geschöpf gelungen, den Schicksalskreis zu brechen, aus sich herauszugehen, sich bis zu uns emporzuschwingen und endgültig die ungeheure Zone der Finsternis, des Schweigens und des Eises zu verlassen, durch die alle Klassen von Wesen im unbegreiflichen Weltplan getrennt sind. Dieses Tier, unser guter Haushund, so schlicht und wenig erstaunlich es uns auch vorkommen mag, was er getan hat, indem er sich so merklich zu einer Welt emporschwang, in der er nicht geboren und für die er nicht bestimmt war, er hat doch einen der ungewöhnlichsten und unwahrscheinlichsten Akte vollbracht, die sich in der grossen Geschichte des Lebens finden lassen. Wann hat diese Erkennung des Menschen durch das Tier, dieser ausserordentliche Übergang vom Schatten zum Lichte stattgefunden? Haben wir den Pudel, den Hofhund oder die Dogge unter Wölfen und Schakalen gesucht, oder sind sie aus sich heraus zu uns gekommen? Wir wissen nichts davon. Soweit die Annalen der Menschheit reichen, ist der Hund an unserer Seite, wie jetzt, aber was ist alle menschliche Geschichte im Vergleich zu der zeugnislosen Vorzeit? Stets findet er sich in unseren Behausungen, so alt eingesessen, so gut am Platze, so vollständig unseren Sitten angepasst, als wäre er auf Erden so erschienen, wie er ist, und zu gleicher Zeit mit dem Menschen. Wir brauchen weder sein Vertrauen noch seine Freundschaft zu erwerben; er wird als unser Freund geboren und glaubt schon an uns, wenn seine Augen noch geschlossen sind, ja, schon vor seiner Geburt ist er dem Menschen ergeben. Aber das Wort Freund gibt seinen liebenden Kultus nicht wieder. Er liebt und verehrt uns, als hätten wir ihn aus dem Nichts emporgezogen. Er ist vor allem unser Geschöpf voll überströmender Dankbarkeit und uns treuer als unser Augapfel. Er ist unser geheimer und begeisterter Sklave, den nichts entmutigt, dem nichts widerstrebt, dem nichts den glühenden Glauben und die Liebe nehmen kann. Er hat auf bewundernswerte und rührende Weise das schreckliche Problem gelöst, das die menschliche Weisheit würde lösen müssen, wenn ein Geschlecht von Göttern unsern Erdball in Besitz nähme. Er hat die Überlegenheit des Menschen ehrlich, unwiderruflich, gewissenhaft anerkannt; er hat sich ihm mit Leib und Seele hingegeben, ohne Hintergedanken, ohne Gelüste nach Umkehr, und hat von seiner Unabhängigkeit, seinem Instinkt und Charakter nur so viel und so wenig bewahrt, als unerlässlich ist, um das seiner Art von der Natur vorgezeichnete Leben zu führen. Mit einer Sicherheit, Ungezwungenheit und Einfachheit, die uns ein wenig überrascht, da wir uns für besser und mächtiger halten als alles, was besteht, wird er zu unsern Gunsten dem Tierreich, dem er angehört, untreu und verleugnet unbedenklich seine Rasse, seine Nächsten, seine Mutter und sogar seine Jungen.
Aber er liebt uns nicht nur mit seinem Verstand und Bewusstsein: gerade der Instinkt seiner Rasse, alles Unbewusste seiner Art scheint nur an uns zu denken und auf unseren Nutzen zu sinnen. Um uns besser zu dienen und sich unseren mannigfachen Bedürfnissen besser anzupassen, hat er alle Gestalten angenommen und die Eigenschaften und Fähigkeiten, die er uns zur Verfügung stellt, unendlich zu variieren gewusst. Wenn er uns helfen muss, das Wild in den Ebenen zu verfolgen, so werden seine Beine übermässig lang, sein Maul schmaler, seine Lungen weiter und er wird schneller als der Hirsch. Verbirgt sich unsere Beute im Gehölz, so bietet uns der gefügige Genius der Art, unsern Wünschen zuvorkommend den Dachshund, eine Art von fussloser Schlange, die in das undurchdringlichste Dickicht hineinkriecht. Soll er unsere Herden hüten, so verleiht derselbe gefällige Genius ihm den hierzu nötigen Wuchs und Verstand, die nötige Energie und Wachsamkeit. Bestimmen wir ihn zur Bewachung und Verteidigung unserer Häuser, so wird sein Kopf rund und ungeheuerlich, damit sein Gebiss stärker, furchtbarer und hartnäckiger wird. Ziehen wir mit ihm nach dem Süden, so wird sein Fell kurzhaarig und leicht, damit er uns auch unter den Strahlen einer anderen Sonne zu folgen vermag. Ziehen wir nordwärts, so werden seine Füsse breit, um besser auf dem Schnee zu treten, sein Fell wird dichter, damit die Kälte ihn nicht zwingt, uns zu verlassen. Ist er nur zu unserm Spielkameraden bestimmt, soll er unsere müssigen Blicke erfreuen und die Wohnung schmücken oder beleben, so erhält er eine überlegene Anmut und Eleganz, wird kleiner als eine Puppe, um auf unseren Knien am Kamin zu schlafen, oder erhält, wenn unsere Laune es so will, selbst einen Stich ins lächerliche, um uns zu gefallen.
In dem ganzen ungeheuren Bett der Natur wird man nicht ein Lebewesen finden, das eine entsprechende Schmiegsamkeit, einen ähnlichen Formenreichtum, eine so wunderbare Anpassungsfähigkeit an unsere Wünsche besitzt, und das rührt daher, dass in der uns bekannten Welt, unter den verschiedenen, primitiven Lebensgenien, die die Entwicklung der Arten lenken, nicht einer existiert, der sich wie der des Hundes je um das Vorhandensein des Menschen gekümmert hätte.
Man könnte vielleicht sagen, dass wir es verstanden haben, gewisse Haustiere fast ebenso gründlich zu verändern, z. B. die Hühner, Tauben, Enten, Pferde und Kaninchen. Ja, vielleicht; aber diese Veränderungen sind mit der des Hundes nicht zu vergleichen, und die Art der Dienste, die uns diese Tiere leisten, bleibt gewissermassen unveränderlich. Jedenfalls aber, mag dieser Eindruck auch rein imaginär sein oder wirklich den Tatsachen entsprechen: in diesen Veränderungen scheint nicht derselbe unerschöpfliche und zuvorkommende gute Wille, dieselbe scharfsinnige und ausschliessliche Liebe zu herrschen. Schliesslich ist es ja auch höchst wahrscheinlich, dass der Hund, oder vielmehr der uns unerreichbare Genius seiner Art, sich keineswegs um uns beunruhigt und dass wir es einfach verstanden haben, aus den mannigfachen Fähigkeiten, die uns die zahllosen Zufälle des Lebens bieten, Vorteil zu ziehen. Aber das ist einerlei; da wir vom Grund der Dinge nichts wissen, müssen wir uns schon an den Augenschein halten; und es ist angenehm, feststellen zu können, dass es auf dem Planeten, auf dem wir einsam sind wie verkannte Könige, wenigstens dem Anschein nach ein Wesen gibt, das uns liebt.
Wie es aber auch um diesen Anschein bestellt sei, so ist es darum doch nicht minder gewiss, dass der Hund in der Gesamtheit der vernunftbegabten Geschöpfe, die Rechte, Pflichten, eine Aufgabe und ein Schicksal haben, einen wahrhaft privilegierten Platz einnimmt. Er befindet sich auf dieser Welt in einer einzigen, vor allen andern beneidenswerten Lage. Er ist das einzige Lebewesen, das einen unbezweifelbaren, greifbaren, unwiderruflichen und endgültigen Gott gefunden hat und anerkennt. Er weiss, wem er das Beste seines Ichs weihen muss, wem er sich über sich hinaus hingeben soll. Er hat keine vollkommene, höhere, unendliche Macht aus dem Dunkel der einander ablösenden Lügen, Hypothesen und Träume herauszusuchen. Diese Macht steht vor ihm, und er wandelt im Lichte. Er kennt die höchsten Pflichten, die wir alle nicht kennen. Er hat eine Moral, die höher ist als alles, was er in sich selbst entdecken kann, und die er ohne Bedenken und ohne Furcht üben kann. Er besitzt die volle Wahrheit. Er hat ein positives und gewisses Ideal.
Und so sah ich meinen kleinen Pelleas bis zu seiner Krankheit am Fusse meines Schreibtischs liegen, den Schwanz sorgfältig unter den Füssen versteckt, den Kopf etwas geneigt, um mich besser zu fragen, aufmerksam und ruhig zugleich, wie ein Heiliger es in Gottes Gegenwart sein soll. Er war glücklich, wie wir es vielleicht nie sein werden, denn sein Glück entsprang aus dem Lächeln und der Billigung eines Lebens, das dem seinen unvergleichlich überlegen war. Er lag da, trank forschend alle meine Blicke auf und erwiderte sie ernst, wie ein gleichstehendes Wesen, wahrscheinlich um mir verständlich zu machen, dass er wenigstens mit den Augen, diesem fast unstofflichen Organ, welches das Licht, dessen wir uns erfreuen, in liebendes Verständnis verwandelt, mir alles zu sagen vermochte, was Liebe sagen soll. Und wenn ich ihn so sah, jung, glühend und gläubig, wie er mir gleichsam aus dem Schosse der unerschöpflichen Natur ganz frische Kunde vom Leben gab, vertrauensvoll und voll Verwunderung, als wäre er der erste seines Geschlechtes, der auf Erden erschien, und als lebten wir noch in den Tagen der Urzeit, so bewunderte ich seine freudige Gewissheit und sagte mir, dass der Hund bei einem guten Herrn glücklicher ist als dieser, dessen Schicksal noch rings in Dunkel gehüllt bleibt.