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Hier sollte eigentlich die Kunst im Hause ihren Ausgang nehmen.
An den alten Bauerntrachten in den deutschen und slawischen Gegenden bewundern wir die Schönheit der Strickerei, den Reichtum und Reiz von Form und Farbe und die materialgerechte Technik. Die Bäuerinnen des deutschen Nordens und des slawischen Südens arbeiten mit ähnlichen Ergebnissen mit Bezug auf die Ornamentik, wie sie in ihren Erfindungen von einem sicheren Verständnis für die Forderungen des Materials geleitet sind. Das war Kunst im Hause und zeugte von einer hohen persönlichen Kultur der Bauernschaft, die diese häusliche Kunst als uralte Überlieferung pflegte, deren Anfänge sich in der Völkerwanderung verlieren.
Die Sache gehört heute dem Museum an; mit der Tracht legte das Volk seine Kunst ab. Das hat die Stadt getan. Aber sie hat ihm keinen annähernden Gegenwert geben können. Die Massenware der Industrie kann wohl nicht in Anschlag gebracht werden.
Was heute unter dem Begriffe »weibliche Handarbeiten« in der Schule und im Hause gelernt und geübt wird, hat mit Kunst nichts, rein gar nichts zu schaffen. Die Schablone hat hier jede Regung von Selbständigkeit und persönlichem Geschmack erstickt. Die Arbeit ist zu einer ermüdenden, tötlich langweiligen Übung, zum bloßen mechanischen Ausnähen von allerlei Lappen herabgesunken, und rechtfertigt die Verachtung, mit der die Radikalgesinnten diese geistlose Beschäftigung ablehnen. Sie erscheint in der Tat nur als ein verderbliches Mittel mehr, die kostbare Zeit »totzuschlagen«. Besser die erübrigte Zeit mit einem gesunden Sport, einer anregenden Lektüre zuzubringen. Braucht man derlei Sachen, bekommt man sie fertig im Laden, viel besser und obendrein billiger; erspart Mühe, Zeit und Geld.
Das ist sicherlich sehr wahr, aber nicht weniger wahr ist, daß man im Laden noch selten bekommt, was ein wirklich guter Geschmack wünscht. Nur die Kunstläden, von denen bekannt ist, daß sie mit Künstlern arbeiten, und die Künstlernamen nennen, bieten Gewähr für einwandfreie Erzeugnisse dieser Art. Der Laden enthält in der Regel nur, was die Menge schlechthin braucht, und das kann natürlich nicht das Feinste und Beste sein, was das persönliche Kulturbedürfnis fordern mag. Denn derselbe Laden liefert ja auch die vorgedruckten Streifen, die von der Hausfrau oder der Haustochter ausgenäht werden, alle Schablonen, mit plumpen Pflanzenstilisierungen, die lächerlichen Symbole wie gekreuzte Bestecke, kuchentragende Bäcker, die freundlichen Imperative »Nur ein Viertelstündchen!«, »Guten Morgen!«, »Mamas Liebling«, die sich auf den unterschiedlichen Deckchen, Tischläufern, Behängen, Schlummerrollen, Handtüchern, Servietten usw. befinden. Ob nun dieselben Gegenstände fertig und unfertig bezogen werden, sie stehen so ziemlich auf einem und demselben Niveau. Eine große Anzahl von derartigen Dingen ist für die gebildete Hausfrau überhaupt nicht aufzutreiben, die Anspruch darauf erhebt, daß die Tischläufer, Servietten, Milieux, die Portieren, die Paravents, die Klavierdecken, alle erforderlichen Stickerei- und Applikationsarbeiten nicht den Charakter der Dutzendware tragen. Gerade in diesen Dingen sollte die Persönlichkeit laut sprechen.
Wir müssen uns hüten, das Kind mit dem Bade zu verschütten. »Die weiblichen Handarbeiten« sind im Hause nicht zu entbehren; die schönste Wohnung ist unwohnlich ohne die vollendete Arbeit zarter Hände, und umgekehrt erhält durch sie auch das bescheidenste Heim den heimlichen Zauber von behaglicher Wohnlichkeit. Von dieser Art Arbeiten wird es in letzter Hinsicht immer abhängen, ob die Segnungen der Kunst dem Hause seine Weihe geben, wie es bis vor kurzem im Bauernhause, und vor Jahrhunderten auch noch im Stadthause der Fall war. Im Interesse des Kulturlebens sind sie also gar nicht zu entbehren.
Nur die Methode wird sich gründlich ändern müssen, wenn die »rein mechanische Hand«-Arbeit zur künstlerischen Arbeit geadelt werden sollte.
Es ist natürlich nicht ohne weiters zu verlangen, daß die »handarbeitenden« Frauen und Mädchen, die Muster, die sie ausführen, selbst entwerfen. Dazu bedürfte es einer tüchtigen kunstgewerblichen Schulung. Überdies finden sich da und dort Arbeiten von Kunstgewerblerinnen im Handel, die eine Reform der Handarbeiten unsrer Frauen darstellen. Dieser Reform ist es zu danken, daß auch die maschinellen Erzeugnisse dieser Art, was Farbe und Zeichnung betrifft, auf der Höhe der Anforderungen stehen. Die Schnurstichtechniken können ohne weiteres mit der Tambouriermaschine ausgeführt werden, ohne deshalb an künstlerischem Wert zu verlieren. Für den allgemeinen Wert einer solchen Erörterung kommen also in erster Linie die Merkmale in Betracht, durch welche sich die guten von den schlechten Arbeiten unterscheiden. Die beigegebenen Bilder und Zeichnungen sollen sonach nicht als Vorlage zur Nachahmung, sondern als Anschauungsmaterial zur Unterstützung unsrer Erklärungen dienen.
Es ist stets zu beachten, daß das Material der Ausgangspunkt für die Gestaltung ist. Stil ist nichts andres als Materialsprache. Der papierene Begriff »Stilisieren« bedeutet in der Regel Willkür und Unfug, wenn damit nicht der notwendige Materialausdruck gemeint ist.
Ein Beispiel zeigt uns den Ausschnitt einer Decke mit Kreuzstichstickerei. Das unschmiegsame Element des Kreuzstichs nötigt von vornherein zu einer gewissen Strenge, die über der naturalistischen Wiedergabe eines natürlichen Vorbildes steht.
Das natürliche Vorbild, Blätter oder Blüten, muß sich die folgerichtige Übertragung in die Sprache des Materials gefallen lassen, wenn das Ergebnis befriedigend sein soll. Eine rhythmische und regelmäßige Verteilung der Flächenwerte im gegebenen Raum, die Ermittlung des richtigen Eckenabschlusses sind für das künstlerische Gelingen bedeutsam. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Die Stellung der kleinen Vierecke oder Dreiecke kann ins Unendliche verändert werden. Der Reichtum der Erfindung wird um bedeutende Wirkungen vermehrt, wenn eine zweite oder dritte Farbe eingeführt wird. Auf Grund einer guten Naturanschauung und einer sorgfältigen Berücksichtigung des Eigensinns des Materials wird der begabte Sinn die Kompositionsmöglichkeiten auf einem Kanevaspapier mit farbigen Stiften leicht ermitteln können. Der Eigensinn oder die Schwäche eines Materials ist die beste künstlerische Ideenquelle.
Ferner sehen wir Schnürl- und Bändchenarbeit. Hier wird man auf den ersten Blick erkennen, daß sich die Muster aus der Nachgiebigkeit und Biegsamkeit des Materials ergeben. Das probende Auflegen von Schnüren bringt alsbald das Gefühl für die reiche dekorative Anwendungsart dieses Materials bei. Die Zeichnung betont diese Eigenschaft, indem sie die Schnur eng aneinanderreiht, in Kurven führt, in Spiralen, die sich wieder auflösen, in langen Linien fortbewegen und das Spiel wiederholen. Wie immer ist auch hier die Gliederung der Fläche in gute Verhältnisse eines der künstlerischen Merkmale. Von der Bandtechnik gilt dasselbe, wie von den Schnüren. Es ist Gesetz, durch das Material und die Technik begründet, daß sich die Schnürchen oder Bändchen niemals kreuzen dürfen, daß sie niemals übereinanderlaufen und daß sie ununterbrochen fortlaufen. Die Schnur- oder Bandreihe beginnt dann vom neuem, wenn ein zweites Farbenelement eingeführt wird.
Was hier von der Schnurapplikation gesagt ist, hat volle Geltung auch für den sogenannten Schnurstich, der sich vorzugsweise für die maschinelle Ausführung eignet und der originellen Erfindung und Farbenfreude unendlichen Spielraum gewährt.
Ein Bild zeigt uns eine kompliziertere Arbeit, eine Seidenperlapplikation auf einem Vorhang aus Tüll. Sie kommt für uns in Betracht, weil die materialgerechte Übertragung des Naturvorbildes in Perlstickerei und Tülldurchzug in diesem reizvollen Beispiel besonders klar wird und darlegt, wie der »Stil« von der Natur des Stoffes abhängt.
Selbstverständlich steht auch bei diesen Arbeiten die lebendige Natur im Hintergrund. Sie muß gerade bei der respektvollen Auffassung der Materialeigenschaft besonders genau studiert und auf die Kompositionsmöglichkeiten hin beobachtet werden. Studien mit Pinsel und Farbe oder mit farbigen Stiften sind unerläßliche Vorarbeiten. In der Wahl der Farben soll nicht Ängstlichkeit herrschen. Kühne, ungewöhnliche Farben verdienen den Vorzug.
Harmonie im Kontrast wird sich aus der Übung ergeben, wenn einmal wieder das Paradies der Farben erobert ist. Die Handarbeiten sollen in der Eroberung vorausgehen.
Die materialgerechte und sinngemäße Behandlung der Mittel wird jenen fatalen »Realismus« ausschließen müssen, den Kuchenbäcker, die gekreuzten Bestecke, die Inschriften und alle jene täuschenden Darstellungen, die sich mit dem Begriff von »Nadelmalerei« decken. Die Nadelmalerei hat Werke hervorgebracht, die mit Ölgemälden wetteifern und Wirkungen anstreben, die ihrer Natur nicht gemäß sind. Sie sind aus diesem Grunde als durchaus unkünstlerisch zu verwerfen, wenn sie auch als virtuose Spielerei ähnliches Staunen zu erregen mögen, wie auf Kochkunstausstellungen etwa die Wiedergabe eines Bismarckdenkmals in Schweinefett.
Die Gegenbeispiele zeigen, was im üblen Sinne als moderne Stickerei gilt, in den Hausfrauenblättchen verarbeitet und in Geschäften als das Neueste und Feinste vorgestellt wird. Pflanzenornamente, willkürlich behandelt, ohne Naturstudium und ohne Materialkenntnis, ohne Gefühl für die Gliederung des Flächenraums; alles in allem eine modernisierte barbarische Geschmacklosigkeit. Das ist es, was man im allgemeinen unter »stilisieren« versteht.