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Im Hofzimmer der Ostbahnstraße war eben das Mittagsmahl vorüber; Hedwig hatte das gebrauchte Geschirr wie immer zu Frau Strauß zum Reinigen gebracht und eine Decke von Wollreps, das mitgebrachte Eigentum der Frau Lindheim, über den Tisch gebreitet, so daß es ordentlich im Zimmer aussah. Constanze war noch zu Hause. Eine bleischwere Mattigkeit in den Gliedern zwang sie jetzt, Mittags zweimal zu fahren, und dies verlängerte ihre Tischzeit. Sie war sehr verändert, die strahlende Jugendfrische dahin, das einst so rosige Gesichtchen bleich und traurig. Seit jenem Briefe, in dem Adalbert von der Reise geschrieben, war kein Lebenszeichen von ihm an sie gelangt, und die tiefe Mutlosigkeit über dieses befremdliche Benehmen bewirkte, was keine noch so große Anstrengung und Nahrungssorge vermocht: sie warf die einst so tapfere Constanze völlig danieder. Hierzu war noch ein Vorfall gekommen, der auf ihr ohnehin bedrücktes Gemüt einen erschütternden, tief schmerzlichen Eindruck gemacht hatte. Eine Kollegin im Geschäft, ein stilles, ordentliches Mädchen, hatte sich krank gefühlt und um die Erlaubnis gebeten, für eine Viertelstunde ausgehen zu können, um den Kassenarzt in der Sprechstunde wegen ihres Leidens zu befragen. Diese Erlaubnis war ihr mit barschen Worten verweigert worden, und als sie am zweiten Tage sich kränker gefühlt und nochmals darum gebeten hatte, war ihr gesagt worden: »Noch einmal ein solches Anliegen und Sie sind entlassen; kranke Leute können wir hier nicht brauchen.« Das Mädchen, das seine Mutter erhalten mußte, hatte danach nichts mehr gesagt und sich mit todbleichem Gesicht noch zwei Tage geschleppt, am dritten aber war sie plötzlich, während sie hinter dem Ladentische stand, besinnungslos zusammengebrochen. Der Kollegin, die sie in einer Droschke nach Hause brachte, hatte der Chef noch nachgerufen: »Wenn sie aufwacht, sagen Sie ihr, sie braucht nicht wiederzukommen, – kranke Leute können wir nicht brauchen.« Das Mädchen hatte aber gar nicht wiederkommen können, denn am nächsten Tage war es gestorben; statt seiner aber war die Mutter gekommen und hatte in der Raserei ihres Schmerzes eine furchtbare Scene aufgeführt. Der Arzt hatte ihr gesagt, daß das Übel erst durch Vernachlässigung tödlich geworden sei, zwei Tage früher wäre noch Hilfe möglich gewesen; und nun hatte die unglückliche Mutter das Geschäftslokal mit ihren Flüchen und Verwünschungen erfüllt, den Chef Mörder geheißen und die Strafe des Himmels auf ihn herabgefleht, bis man die halb Wahnsinnige mit Gewalt entfernt hatte.
Diese Scene stand noch in ihrer ganzen Schrecklichkeit vor Constanzens Geist und vermehrte ihre Niedergeschlagenheit. »Wie lange dauert es noch,« dachte sie, »so bin auch ich auf dem Punkt, wo die arme Bergmann war, und auch mir ruft man nach: ›Sie haben nicht nötig, wiederzukommen, kranke Leute können wir nicht brauchen.‹ Und was dann?« Ein Blick nach der kleinen Wanduhr belehrte sie, daß es Zeit zum Gehen war. Seufzend erhob sie sich. Also wieder in die Tretmühle, und morgen abermals, und alle, alle Tage so, bis sie wie Fräulein Bergmann zusammensank, um nicht mehr aufzustehen. Ja, sie fühlte es, so mußte es kommen und die Zeit war nahe, wo diese müden Füße ihren Dienst versagen würden. Eben wollte sie sich dennoch mit langsamer Bewegung zum Fortgange rüsten, als draußen die Thürklingel rasch und kräftig gezogen wurde. Jemand von der Familie Strauß öffnete, man hörte einige Worte wechseln, dann ertönten rasche Männertritte im Korridor, ein kurzes Anklopfen, und ehe das »Herein« noch erfolgen konnte, war der Besucher über die Schwelle getreten.
Constanze stand nach der Thür gewendet und sah, wie die anderen, dem Eintretenden entgegen. Da, was war das? Täuschte sie ein Traum oder war sie im Himmel? Er – er selbst – »Adalbert!« rang es sich im lauten Schrei von ihren Lippen, und mit ausgebreiteten Armen wollte sie ihm entgegeneilen; aber schon hatte der starke Mann die Wankende aufgefangen und jubelnd in seine Arme geschlossen.
Wie eine halbverschmachtete Pflanze in Regen und Sonnenschein, so richtete sich Constanze in dem märchenhaften Glück, das sich über sie ergoß, zu neuer Blüte auf. Adalbert bei ihr, treu liebend wie immer, – die Eltern durch ihn versöhnt, – es war wie ein holder Traum, – und daß sie nicht mehr ins Geschäft zu gehen brauchte, statt dessen aber in der Frühe des nächsten Morgens mit ihm den Weg zur Heimat antreten durfte, – es war zu viel des Glückes. Fast ängstlich schmiegte sie sich an Adalbert und bat ihn immer wieder, ihr zu sagen, daß alles Wirklichkeit sei.
Am anderen Morgen war die kleine Gesellschaft vollzählig auf dem Bahnhofe. Frau Lindheim hatte es sich nicht nehmen lassen, der Scheidenden, die sie wie eine Tochter lieben gelernt und die ihr so unendlich viel gewesen, das Geleit zu geben, und die treuesten Segenswünsche von der alten und von der jungen Freundin begleiteten die Glückliche, die der Verwirklichung aller ihrer Wünsche und Hoffnungen an der Seite des Geliebten entgegenfuhr.
Hedwig führte die alte Dame, der sie jetzt alles sein mußte, mit töchterlicher Sorgfalt nach Hause. Beiden war wehmütig ums Herz, als sie das stille Heim wieder betraten, beiden fehlte Constanze überall, so wenig sie zu Hause gewesen war. Noch stiller, noch einförmiger flossen von jetzt an die Tage dahin, als früher, wo Constanze doch hin und wieder eine Neuigkeit von der Straße, vom Geschäft, einen frischen Luftzug von der Welt da draußen mitgebracht hatte.
Hedwig saß jetzt noch anhaltender über die Arbeit gebückt als früher, denn auch die Einnahme Constanzens fehlte und mußte irgendwie ersetzt werden. Da bleichten denn auch ihre Wangen, auch sie fühlte den frischen Mut schwinden, der sie beseelt hatte, und es bedurfte oft der Erinnerung an den Gedenkspruch, um immer wieder mit neuem Eifer das einförmige Tagewerk aufzunehmen. Da war die schwergeprüfte Frau, der sie den Sohn ersetzen mußte, da war die Arbeit, die ihr den Unterhalt zum Teil erwarb, an beiden sah sie das Feld ihrer Thätigkeit, den ihr zugewiesenen Acker und baute ihn mit willigem Herzen.
Die einzige Freude und Erholung, die ihr erblühte, waren die kurzen Abstecher nach dem Tiergarten auf dem Rückwege vom Arbeitgeber, wo sie allemal die kleine Namensschwester traf. Das Kind sprang ihr, sobald es sie erblickte, jauchzend entgegen, eine innige Freundschaft hatte sich zwischen den beiden Hedwigs entsponnen, und wenn die kurze Zeit des Beisammenseins wie im Fluge verronnen war, trennte man sich mit zärtlichen Liebkosungen und der Verabredung, bald, recht bald wieder zusammenzukommen.
Manchmal saß das Kind, anstatt zu spielen, neben Hedwig, das Köpfchen an sie geschmiegt, und dann schütteten die beiden gegen einander ihr Herz aus. Die kleine Hedwig erzählte viel von ihrer Mama, wie gut sie gewesen sei, und daß sie, die kleine Tochter, ihr manchmal Blumen aufs Grab trage, und wie traurig es sei, daß sie sie nie mehr sehen und immer ohne Mama sein sollte. Die große Hedwig, die einen mächtigen Drang nach Mitteilung empfand, erzählte dem ernsthaft lauschenden Kinde allerlei aus der Vergangenheit und Gegenwart, von ihrem Leben bei Frau Lindheim, von ihrer Arbeit. Die Wärterin schien wirklich das Kind gewähren zu lassen, sie zeigte sich nie.
Es war ein herrlicher Tag zur Rosenzeit, als Hedwig nach mehrtägiger Unterbrechung wieder das Plätzchen aufsuchte. Sie hatte sich, müde und erhitzt, kaum auf die Bank gesetzt, als die kleine Hedwig ihr schon an den Hals flog. »Da bist Du ja, liebe, liebe Dame, endlich!« rief sie ganz beglückt. »Aber Du siehst müde aus, es ist so warm, – und ich bin auch schon viel herumgesprungen, ich möchte auch ausruhen; da laß uns zusammen sitzen, – so! – das ist viel schöner als spielen.«
Hedwig war sehr einverstanden. Sie hatte ihr Packet auf die Bank gelegt und lauschte, in der That ruhebedürftig, dem Geplauder des Kindes, das heut die Kosten der Unterhaltung fast allein trug. »Ich erzählte meinem Papa von Dir,« begann es jetzt, »und denke nur, er will heute einmal hierherkommen und mir beim Spielen zusehen. So mitspielen wie Du, das kann er nicht, das paßt auch nicht für ihn.« – »Und warum denn nicht?« fragte Hedwig. »Weil er ein geistlicher Herr ist, sagte das Kind wichtig, »so einer, der von der Kanzel spricht. Die spielen nicht, weißt Du. Aber meine Mama, die konnte es, so schön wie Du, liebe Dame. Du hast wohl auch eine Mama gehabt, daß Du es so gut verstehst?« – »Gewiß,« sagte Hedwig traurig, »eine gar liebe, gute Mutter.« »Und einen Papa auch?« forschte die Kleine weiter. »Auch einen teueren, guten Vater, und beide hat mir Gott bald nacheinander genommen.« »Alles wie bei mir,« sagte die kleine Hedwig nachdenklich. »Aber sage, war Deine Mutter so schön wie Du?« »Viel, viel schöner,« sagte Hedwig, über die naive Huldigung errötend; »aber Du sollst meine Eltern sehen, ich habe ihre Bilder hier.«
Sie zog das Medaillon hervor, öffnete es und zeigte dem Kinde die Bilder. Auf dem Gesicht der Kleinen malte sich, als sie sie neugierig betrachtete, etwas wie Enttäuschung; sie hatte sich wohl die Mutter, die ja noch schöner sein sollte, als ihre »liebe Dame«, ganz anders vorgestellt, – aber mit jenem Herzenstakte, der selbst Kinder lehrt, die Gefühle anderer zu schonen, enthielt sie sich jeder Bemerkung und legte das Medaillon still und ehrerbietig in die Hand der Freundin zurück. Plötzlich spähte sie aufmerksam in die belaubten Parkwege und sprang dann, wie ihrer Sache sicher, jubelnd von der Bank. »Der Papa, mein Papa kommt dort!« rief sie und flog nach der bezeichneten Richtung.
Hedwig verwahrte schnell das Medaillon, raffte ihr Packet auf und entfloh nach der entgegengesetzten Seite. Als die Kleine an der Hand des Pflegevaters bei der Bank anlangte, war dieselbe leer. »O, die liebe Dame ist fort,« klagte sie, »und ich hatte mich so gefreut, daß Du sie sehen solltest. Wie schade! Aber warum hat sie das nur gethan?«
»Ich habe sie vertrieben, mein Kind,« sagte der Herr lächelnd. »Du wolltest gern, daß ich sie sehe, und auch ich war ein wenig neugierig, aber augenscheinlich will sie mich nicht sehen, und da müssen wir es denn darauf ankommen lassen, ob wir ein andermal glücklicher sind.« Er nahm auf der Bank Platz, und Hedwig wollte sich eben zu ihm setzen, als sie sich schnell bückte und etwas vom Rasenboden aufhob. »Sieh, Papa,« sagte sie, »dies Blättchen gehört ihr, es lag in der schönen goldenen Kapsel mit den Bildern und muß herausgefallen sein, als sie mir die zeigte.«
Der Herr nahm das Blatt zweifelnd aus des Kindes Händen und entfaltete es mechanisch. Kaum aber hatte er einen Blick darauf geworfen, als glühende Röte sein Gesicht überflog und die hohe Männergestalt wie im Fieber erbebte. »Ihr seid Gottes Ackerwerk,« stand da in wohlbekannten, festen Schriftzügen, und dann: »Behalten Sie lieb Ihren treuen Lehrer Helmstädt.«
»Geh jetzt mit der Bonne nach Hause,« sagte er zu Hedwig, nachdem er sich etwas gesammelt, – »Du hast Recht, das Blatt gehört der Dame, – sie wird es vermissen und wiederkommen, und ich – ich werde sie hier erwarten.«
»O Papa, darf ich nicht mit hier bleiben?« flehte das Kind. »Nein, mein Hedchen, sei gehorsam und gehe.« Die Kleine sah an dem ganzen Wesen ihres Vaters, daß etwas Ungewöhnliches in ihm vorging; sie wagte daher keinen Widerspruch mehr und ließ sich, wenn auch mit traurigem Gesichtchen, von der herbeigerufenen Bonne fortführen.
»Ob sie wohl kommen wird?« fragte der Zurückgebliebene sich wieder und wieder, »ob sie den Verlust noch heute bemerken wird? Und wie werde ich sie wiederfinden! Nach dem, was das Kind mir sagt, noch ganz, wie sie gewesen, schön, lieblich, herzgewinnend, – aber ob auch mir noch dieselbe, noch meine Hedwig? – Ja, ich hoffe, ich glaube es; so gewiß wie das kleine Gedenkblatt mit den Bildern der Eltern all die Zeit an ihrem Herzen geruht hat, so gewiß hat sie meiner gedacht, ist sie die Meine geblieben.«
Aber eine Stunde verging und noch eine und sie kam nicht. Die Schatten wurden länger, es begann zu dämmern und noch immer kam sie nicht. Der stattliche Mann erhob sich zögernd von der Bank. »Sie hat den Verlust nicht bemerkt, sie kommt heut nicht mehr,« sagte er traurig. »Und wie, wenn mein Kommen sie für immer verscheucht hat, wenn sie aufhört, das Kind hier aufzusuchen? Dann hätte ich diese Spur nur gefunden, um sie sogleich wieder zu verlieren.«
Er ging, immer zögernd, einige Schritte, hielt aber plötzlich inne. Vom breiten Mittelgange her nahte sich eine schlanke Mädchengestalt. Mit gesenktem Kopf kam sie langsam heran bis in die Nähe der Bank, wo sie suchend umherspähte. Jetzt richtete sie sich auf und in dem bleichen, edel schönen Gesicht war Schmerz und Trauer zu lesen. »Verloren! Alles vergebens!« flüsterte sie und Thränen feuchteten die blauen Augen. »Nein, gefunden, Hedwig, – gefunden!« rief eine jubelnde Männerstimme und zwei Arme breiteten sich ihr entgegen. Diese Stimme – großer Gott! – war es denn möglich? – Er – Helmstädt – Wie im Traume fühlte sie, daß die starken Arme sie umschlangen, daß er sie an sein Herz zog; und als ihr die Besinnung wiederkehrte, da sah sie seine Augen, die unvergessenen lieben, ernsten Augen entzückt, aber mit dringender Frage in die ihren schauen. »Hedwig,« flüsterte er, »darf ich denn auch sagen: meine Hedwig? Ist dieses Herz, das sich in halb unbewußter Liebe mir zuneigte, keines Anderen Eigentum geworden? Das arme kleine Blättchen haben Sie treu bewahrt, – ist es dasselbe mit meinem Andenken gewesen? Ich habe Sie nie vergessen, habe Sie mit Schmerzen gesucht, Sie meine erste, meine einzige Liebe, – darf ich Sie nun halten, festhalten für alle Zeiten?«
Sie war nicht im stande zu antworten, sie blickte nur zu ihm auf, aber dieser Blick mußte ihm wohl alles sagen, denn fester zog er sie an sich und sagte mit einer Stimme, die vor Glück bebte: »Meine Hedwig! Meine Geliebte! So habe ich Dich endlich gefunden und lasse Dich nicht mehr, nie, nie! Jetzt hat das Leben wieder Wert für mich, denn ich darf das deinige glücklich gestalten.«
Auf der Bank unter der Buche kam es zu seliger Aussprache. Hedwig fand jetzt Worte, dem Geliebten von allem zu sprechen, was sie erlebt und erlitten, geträumt und empfunden, gefehlt und geirrt, was ihr in allen Kämpfen und Wechselfällen ihres Lebens das Andenken des Lehrers und sein teures Bild gewesen. Errötend, stockend wollte sie von ihrem Verhältnis zu Doktor Weiße und von der Verstoßung aus dem Hause der Verwandten erzählen, aber er wehrte ihr. »Ich weiß alles,« sagte er sanft. »Du hast einem Elenden vertraut, aber die Liebe, mit der Du mein Andenken bewahrtest, ist mir Bürgschaft, daß er Dein Herz nie besessen hat. Höre, wie ich von ihm erfuhr. Als ich gleich nach der ersten bescheidenen Pfarrstelle hierher berufen wurde und eine sehr günstige Laufbahn vor mir sah, glaubte ich es an der Zeit, meine Hedwig zu fragen, ob sie mir ihre Zukunft anvertrauen wolle. Vorher wollte ich das so junge Mädchen, das vielleicht ihr eigenes Herz noch nicht verstand, nicht binden, wollte den Vorteil, den ich über ihre kindliche Seele erlangt, nicht mißbrauchen. Ich eilte nach N. und erfuhr, wie harte Prüfungen mein armes Mädchen erlitten, wie Du schon seit mehr als einem Jahre bei Verwandten in G. lebtest. Sobald ich konnte, reiste ich dahin, glücklich, Dich so nahe von Berlin zu wissen. Aber eine neue Enttäuschung erwartete mich, – Du warst abermals fort, niemand wußte, wohin Du Dich gewendet, was aus Dir geworden. Die Verwandten gestanden mir mit allen Zeichen bitterer Reue, daß sie Dich aufs unwürdigste behandelt hätten, zuletzt von ihrer Schwelle vertrieben, – um eines Bösewichtes willen, den Du gekannt und zu entlarven versucht. Die Tochter, ganz verblendet von diesem Mann, war als seine Gattin namenlos unglücklich geworden; den Vater hatte er dem Ruin nahe gebracht, endlich hatte man die Scheidung eingeleitet, als das einzige Mittel, die Familie vor völligem Untergange zu retten. Eines Tages, als der lügnerische, nichtswürdige Mann sich schon in seiner ganzen Schlechtigkeit gezeigt hatte, offenbarte er selbst der Gattin mit höhnischer Schadenfreude, daß er sie nie geliebt habe, daß seine Annäherung und Bewerbung nur ihrem Reichtum gegolten habe, wie vor Jahr und Tag seine Bemühungen um Dich dem Wunsche, durch Deinen Vater zu einer Stellung zu gelangen.
Du kannst Dir denken, meine Hedwig, wie schwer die Nachricht von Deinem Verschwinden mich traf. Je mehr ich mir die Gefahren ausmalte, denen Du, das junge schöne schutzlose Mädchen in der Welt ausgesetzt sein mußtest, desto größer wurde meine Sehnsucht, Dir zu Hilfe zu eilen; aber alles Forschen und Suchen war vergebens; Du warst wie von der Erde verschwunden. Zuletzt wagte ich nicht mehr, ein Wiedersehen zu hoffen. Ich begrub meine Liebe tief ins Innerste meines Herzens, wurde einsiedlerisch, still und verschlossen und lebte nur meinem Beruf. Vor einem Jahre starb meine einzige, früh verwitwete Schwester; ich nahm ihre kleine Tochter, der ich als Taufpate Deinen Namen gegeben, zu mir, aber der einsame, ernste Mann konnte ihr so wenig die Mutter ersetzen, wie die bezahlten Wärterinnen und Bonnen. Das Kind hat ein tiefes Liebesbedürfnis, es schmachtet nach mütterlicher Zärtlichkeit und Du, meine Hedwig, mußtest es sein, der sich die Waise mit so leidenschaftlicher Liebe anschloß; ist da nicht Gottes Fügung deutlich erkennbar?«
»Ich wußte nicht, was mich so mächtig zu dem Kinde zog,« sagte Hedwig, »aber nun weiß ich es: sie hat Deine Augen, die kleine Hedwig, Deinen Blick.« – »Und willst Du ihr auch ferner Deine Liebe schenken, – willst Du ihr eine Mutter sein, – um meinetwillen?« »Um Deinetwillen und um des Kindes willen, – denn ich habe es lieb, mehr als ich sagen kann.« »Hedwig, teures Mädchen, noch heut sage ich ihr, daß die ›liebe Dame‹ ihre Mutter werden und immer bei ihr bleiben wird, – und daß wir uns nicht gefunden hätten ohne eure Begegnung, euren Herzensbund. Stelle Dir vor, wie sie jubeln wird! Aber sie kann nicht glückseliger sein, als ich. In meinem Herzen singt es und klingt es vor lauter Lust und Freude, – ich bin wieder jung geworden, Hedwig. Alles, was wir entbehrt und gelitten, wir wollen es nachholen. Keine Kämpfe mehr für Dich, keine Sorge und Mühsal, soweit sie Menschenkraft von Dir fernhalten kann, dafür ein Leben des Friedens und der Liebe an meiner Seite.«
Die Buche rauschte zu Häupten der beiden, die noch manches Wörtchen mit einander verhandelten. Erst als die Dunkelheit niedersank, erinnerte sich Hedwig mit Schrecken, daß eine alte, einsame Frau sich zu Hause um sie sorgte, und nun wandelte das glückliche Paar, der übrigen Welt nicht achtend, heimwärts, inmitten der dämmernden Straßen die Herzen voll Sonnenschein.