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12. Kapitel

Sill und einsam war die Landstraße. Keinem, der ein schützendes Heim besaß, war es verlockend, in einer so kalten, feuchten, sternenlosen Nacht zu wandern, alles Leben hatte sich zurückgezogen. Aber jetzt unterbrach doch ein Geräusch die nächtliche Stille, Wagenräder knarrten, – ein Fuhrwerk näherte sich langsam. Es war ziemlich groß und augenscheinlich zum Warentransport bestimmt; die Pferde trabten gleichmäßig auf der ebenen Straße dahin, sie schienen den Weg zu kennen und der Lenkung des Kutschers nicht zu bedürfen, der regungslos, in Decken gehüllt, auf dem Vordersitz hockte und nur durch den seiner Tabakspfeife entströmenden Dampf verriet, daß er nicht schlief. Plötzlich kam Leben in den Mann. »Heda!« rief er, sich aufrichtend und die Pferde zum Stehen bringend, »was ist denn das?« Er neigte sich vom Wagen herab und rief laut: »Sie da, Frauchen, was machen Sie hier? Die Nacht ist keines Menschen Freund und noch dazu eine solche, – gehen Sie doch nach Hause.« – Keine Antwort erfolgte. – »Hören Sie,« begann er wieder, »Sie können da nicht bleiben, es wäre Ihr Tod. Kommen Sie, steigen Sie auf, ich nehme Sie ein Ende mit.«

Als wieder keine Antwort kam, stieg er kopfschüttelnd vom Wagen und näherte sich der weiblichen Gestalt, die am Rande des Weges saß. Mit einiger Mühe erhob er den herabgesunkenen Kopf und sah in ein totenbleiches Gesicht, dessen jugendliche, rührende Schönheit ihm selbst im ungewissen Dämmerlicht nicht entging, in ein paar halbgeöffnete, todmatte Augen. »Na, hoffentlich bin ich noch gerade zurechtgekommen,« brummte der Fuhrmann. »Lange fackeln darf man da freilich nicht, sonst ist das junge Ding verloren. Hat ja nicht 'mal was Warmes an, muß nur so, wie es ging und stand, fortgelaufen sein.« Während dieses Selbstgespräches hatte er die Bewusstlose emporgehoben; sorgfältig trug er sie in seinen Wagen, bettete sie auf Decken und umhüllte noch besonders die feuchten Füße. Dann begann er ihre erstarrten Hände zu reiben, flößte ihr einige Tropfen aus seiner Flasche ein und sah endlich mit freudiger Genugthuung, wie sie die Augen aufschlug und mit bewußtem Blick um sich schaute.

»Wo bin ich?« flüsterte sie. »Man ohne Furcht, Fräuleinchen,« sagte der gutmütige Mann, »Sie sind im Wagen vom Kutscher Linkert aus der Münchebacher Straße in Berlin. Ich komme da hinter Potsdam her und hab' Sie ganz erstarrt am Wege gefunden. Na, sitzen konnt' ich Sie nicht lassen, Sie hätten den Morgen nicht erlebt in dem dünnen Fähnchen da. Und nun, – wo wollen Sie eigentlich hin? Wenn's nicht zu weit ist, bringe ich Sie.«

Hedwig, – denn sie war, wie jeder wohl erraten, die Aufgenommene, – schauderte zusammen. In der Apathie der letzten Stunden hatte sie das Bewußtsein ihrer Lage verloren, jetzt kehrte es ihr wieder und erfüllte sie mit Entsetzen. Warum mußte der freundliche Mann da sie erwecken! Sie war ja heimatlos, eine mit Schmach bedeckte Vertriebene! Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schüttelte traurig den Kopf, als der Fuhrmann wiederum nach dem Ziel ihrer Wanderschaft fragte. »Aha,« sagte der ehrliche Linkert, »ich verstehe, da ist was nicht richtig. Streit mit den Eltern gehabt, ausgerückt, wie? So was kommt ja vor, ist aber schlimm bei einem Fräulein, wie Sie sind. Da denke ich, ich bringe Sie nach der Bahn, löse Ihnen ein Billet dahin, wo Sie hingehören, – weit kann's ja nicht sein, – und Sie fahren nach Hause und vertragen sich wieder. Ja, wollen Sie? Ehe der Morgen da ist, können Sie daheim sein.«

»O Gott, ich habe ja kein Heim,« schluchzte Hedwig, »meine einzigen Verwandten haben mich aus dem Hause getrieben.« »Schlimm, sehr schlimm!« sagte der Fuhrmann, indem er Hedwig nachdenklich ansah, »da ist freilich guter Rat teuer. Und Sie haben wirklich keine Menschenseele in Berlin, zu der ich Sie bringen könnte? Sie müssen wissen, Fräuleinchen,« fügte er besänftigend hinzu, »daß ich Ihnen ganz gewiß nichts Schlechtes zutraue, im Gegenteil, – ja ich möchte Sie gern einstweilen mit zu mir nach Hause nehmen, aber meine Alte ist ein bischen komisch, die würde auf Ihr liebes, unschuldiges Gesichtchen nichts geben und gleich Arges denken. Aber was machen wir nun? Wir sind bald da, – besinnen Sie sich doch! wissen Sie denn niemand, – nur für den Augenblick?«

Hedwig hörte die Rede des guten Mannes in stiller Verzweiflung an. Was sollte ihr Nachdenken nützen? Sie wußte ja doch kein Asyl; es war nicht anders, sie, deren Kindheit und erste Jugend so zärtlich behütet gewesen, sollte in wenigen Minuten allein gelassen werden in den Straßen der fremden Großstadt, bei Beginn des Tages allein ohne Geld, ohne schützende Kleidung, ohne jede Hilfe. Aber wie, hatte ihr guter Vater nicht mit Berlin Verbindung gehabt? Da war der Justizrat, der ihm den Unglücksbrief geschrieben, – nein, zu ihm konnte sie in ihrer kläglichen Verfassung nicht gehen, er würde ihren Angaben nicht glauben, an den Vormund schreiben und sie ihm wieder ausliefern; das ging nicht; aber sie, deren Sohn den Anlaß zu jenem Briefe gegeben, Frau Lindheim, auch sie war aller Wahrscheinlichkeit nach in Berlin und Constanze bei ihr, zu ihr könnte sie gehen, wenn sie sie zu finden wüßte. Der Justizrat hatte damals ihre Adresse mitgeteilt und sie dieselbe abgeschrieben, um Frau von Rechnitz mitteilen zu können, wo ihre Freundin hingekommen, – in ihrem kleinen Notizbuch mußte sich die Adresse finden. Sie zog es hervor und blätterte darin, – richtig, da war sie. Ostbahnstraße 72, Hof II bei Witwe Strauß. Unwillkürlich hatte sie es laut gelesen, und der Fuhrmann horchte erfreut auf. »Was, da haben Sie Bekannte? Sehen Sie mal, das trifft sich ja herrlich, ganz in der Nähe wohne ich ja.«

Hedwig wendete schüchtern ein, daß es sehr ungewiß sei, ob die Dame noch da wohne, ihr Beschützer ließ sich aber nicht entmutigen. »Na, in ein Mäuseloch kann sie sich doch nicht verkrochen haben,« meinte er, »und wenn sie seitdem zehnmal ausgezogen ist, so wird sie doch immer nach der neuen Wohnung abgemeldet sein. Solch alte Dame ist doch kein Buchfink, der sich man auf den Ast setzt und dann fortfliegt. Wir sind jetzt gleich da, – hier ist die Münchebacher Straße, wo ich wohne, da fahren wir vorbei, um erst Ihre Sache ins Reine zu bringen. Ich ruhe nicht, bis ich Sie an die richtige Adresse abgegeben habe, Sie sehen ja noch gottserbärmlich aus und zittern über und über, in dem Zustand kann ich Sie nicht auf die Straße setzen. Wie war's, 72? Na, da wären wir. Brr, ihr Rackers!«

Mit väterlicher Sorgfalt half der wackere Mann Hedwig, der vor Aufregung das Herz wild pochte, vom Wagen und übergab denselben der Obhut eines der Jungen, die sich im Nu um das Gefährt gesammelt hatten. Die Gegend zeichnete sich ganz besonders durch einen Reichtum an Straßenkindern aus, der alle Begriffe überstieg, und ein jedes war mit ausgebildeter Spottsucht und hoher, gellender Stimme begabt; so tönten denn den beiden, als sie das Vorderhaus durchschritten, allerlei Bemerkungen über »ganz moderne Equipage« und dergleichen nach, und eine jubelnde Eskorte begleitete sie nach dem Hofe.

Ein kleines Mädchen kam mit klappernden Pantinen an den Füßen und einer geflochtenen Roßhaartasche am Arm die Treppe herunter. »Wohnt hier im Hause Frau Lindheim?« fragte Hedwig mit zaghafter Stimme. »Lindheim, Lindheim? Ist das vielleicht die Radieserfrau drei Treppen?« fragte das Kind. »Nicht doch, eine alte Dame, bei der Witwe Strauß wohnte sie.« – »Ach nu weiß ich,« rief das Mädchen, »ja die wohnt noch da, eine junge Mamsell hat sie bei sich, – die beiden sind schon lange bei der Strauß.« Die Kleine klapperte eilig davon, Hedwig aber ergriff die Hand Linkerts und führte sie, ehe er es verhindern konnte, an ihre Lippen. »Nanu!« brummte der Mann, »was machen Sie für Geschichten?« »Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!« schluchzte Hedwig. »Was wäre ohne Sie aus mir geworden? Wenn ich noch einmal ein Heim finde, so verdanke ich es Ihnen.« »Na warten Sie man, bis wir oben sind,« sagte Linkert, ihre Hand ergreifend und mit ihr die Treppe hinaufsteigend, »die Bande da unten lauert auf jedes Wort. Und dann muß man doch erst sehen, ob's die richtige alte Dame ist.«

Die Wohnungsthür oben zeigte nur den Namen Strauß. Mit bebender Hand zog Hedwig die Klingel, – unmittelbar darauf wurde geöffnet, und eine junge Dame in Ausgehtoilette erschien in der Thür. »Constanze,« rief Hedwig, und die Angerufene breitete mit einem Freudenschrei ihre Arme aus und fing die Wankende auf. Während sie dieselbe zärtlich in die Wohnung geleitete, entfernte sich Linkert eilig und unbemerkt; er wußte nun, daß sein Schützling an die rechte Adresse gelangt war.

Drinnen in dem geräumigen, sauberen, aber sehr einfach ausgestatteten Zimmer stand Hedwig mit thränenden Augen und bittend gefalteten Händen vor Frau Lindheim, die sich bei ihrem Eintritt im Lehnstuhl aufgerichtet hatte. »Sieh da, ma tante, wen ich Dir bringe,« sagte Constanze, die Schultern der Freundin umschlingend, »Hedwig Wöllner ist's, Du weißt, die kleine Hedwig, die mir mit aus dem Kloster half, – Du hast sie ja bei der Familie Rechnitz gesehen –.«

Ein Schatten flog über das Gesicht der alten Dame. »Ja, ich erinnere mich wohl,« sagte sie leise, »Sie waren damals ein glückliches Kind und wären es heute noch, wenn nicht mein Sohn – – Und Sie kommen zu mir ohne Groll, ohne Vorwürfe?« »Als eine Bittende komme ich,« rief Hedwig weinend und sank vor der alten Frau in die Kniee, »als eine, die auf der weiten Welt keine Zuflucht hat und um ein kleines Plätzchen fleht, wo sie bleiben kann.« »Um Gotteswillen, Kind, stehen Sie auf!« rief Frau Lindheim; »Sie sind es nicht, die hier zu bitten hat. Wenn ich alle Reichtümer der Welt besäße und Ihnen zur Verfügung stellte, wäre es noch lange, lange kein Ersatz für das, was mein Sohn Ihnen geraubt hat. Ich danke Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihnen in meiner Armut noch etwas zu gewähren, – seien Sie mir von ganzem Herzen willkommen. Aber man hat Ihnen, wie es scheint, übel mitgespielt, Sie sehen schlimm aus, verstört, ermattet; – vor allen Dingen müssen Sie ruhen. Constanze, laß uns das arme Kind zu Bett bringen und besorge etwas Warmes.«

Die ersten Töne der Liebe, die Hedwig seit dem Tode ihrer Eltern vernahm. Wie in seligem Traum befangen, ließ sie es geschehen, daß man ihr die feuchten Kleider abstreifte und sie in trockene hüllte, sie aufs Sopha bettete und ihr den warmen Trank einflößte. Im unbeschreiblich wonnigen Gefühl der Sicherheit schloß sie die Augen und versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Während sie noch süß schlummerte, mußte die arme Constanze in dem Geschäft, in dem sie angestellt war, so harten Tadel wegen der Verspätung über sich ergehen lassen, daß sie am liebsten mit Preisgabe des erbärmlichen Verdienstes nach Hause gegangen wäre. Aber sie erinnerte sich rechtzeitig, daß diese Einnahme nicht entbehrt werden konnte und wie lange sie hatte suchen müssen, ehe sie diese Stelle erhielt, deren Erlangung sie auch nur dem Umstande verdankte, daß sie Französin und eine gewandte, sehr ansprechende Persönlichkeit war. So ging sie denn zu dem Herrn des Geschäfts, um eine höfliche Entschuldigung vorzubringen, kam aber damit schlecht an. »Das interessiert mich alles nicht, mademoiselle,« sagte er, ihre Erklärungen barsch abschneidend; »es bleibt dabei, daß Sie beim nächsten Fall von Unpünktlichkeit, – der Grund sei, welcher er wolle, ohne weiteres entlassen sind. Danach zu richten.«

Auch Frau Lindheim hatte in dieser Zeit einen kleinen Kampf auszufechten. Die Wirtin, der Hedwigs Ankunft natürlich nicht unbemerkt geblieben war, kam herein, um sich zu erkundigen, wie lange das fremde Fräulein wohl zu Besuch bleiben werde, und protestierte, als Frau Lindheim von dauerndem Aufenthalte sprach, entschieden dagegen. »Es war mir schon von Anfang an nicht recht,« eiferte sie, »daß in die Stube, die ich an einen Herrn vermietet hatte, zwei Damen einzogen, – ich hatte sonst immer nur Herren, die sind angenehmer und bezahlen besser. Na, Sie waren immer ordentlich, hielten mir die Sachen, und man sieht überhaupt, daß Sie feine Damen sind, – da hatte ich nachher auch nichts gegen; aber jetzt drei, nein, das geht nicht, alle meine Bekannten würden mich ja auslachen, wenn ich so eine Wirtschaft duldete.«

Frau Lindheim suchte nach Kräften zu begütigen, daß auch fernerhin nichts abgenützt oder gar beschädigt werden sollte und erzählte endlich, sich an das Gemüt der Frau wendend, das Mädchen sei doppelt verwaist, aus vornehmer Familie, aber ganz verlassen und habe keinen Schutz und Anhalt in Berlin als sie selbst. Frau Strauß schien gerührt, blieb aber doch noch bei ihrer Weigerung. »Sie sagen, es wird nichts abgenützt,« rief sie; »na wo soll denn aber das Fräulein schlafen? Natürlich wo sie jetzt liegt, auf dem guten Sopha, denn eine Bettstelle habe ich jetzt nicht mehr zu versenden. Daß so'n gutes Sopha aber vom Draufschlafen nicht besser wird, das werden Sie doch einsehen.« Frau Lindheim mußte es zugeben, erklärte aber, für jeden Schaden an dem guten Sopha in der Weise aufkommen zu wollen, daß sie sich verpflichtete, es beim Verlassen der Wohnung aufpolstern und neu beziehen zu lassen. Es folgten nun noch einige Debatten, endlich vereinigten sich die Parteien dahin, daß bei Aufrechterhaltung jener Verpflichtung und einer kleinen Mietserhöhung »das neue Fräulein« als Zimmergenossin bleiben durfte.

Diese monatliche Mehrausgabe, so unbedeutend sie an sich war, fiel in dem dürftigen Haushalt der Frauen doch schwer ins Gewicht. Seit Constanze die todkranke, an Leib und Seele gebrochene Frau über diese Schwelle geführt, hatten die beiden schwere Zeiten durchgemacht und Entbehrungen ertragen, wie sie nur die anständige Armut der Großstadt kennt. Wochenlang war Frau Lindheim krank gewesen, wochenlang in der Wiedergenesung, und diese Zeit hatte den kleinen Schatz, Constanzens Gehalt und das Wirtschaftsgeld, vollständig verschlungen. Mußte doch der Arzt und die Medizin bezahlt werden und bedurfte die Rekonvaleszentin doch der kräftigsten Nahrung und teurer Stärkungsmittel. Zuletzt entzog sich Constanze selbst das Nötigste, um für ihre mütterliche Freundin noch länger sorgen zu können, aber sie konnte nicht hindern, daß der Tag kam, wo alle Mittel erschöpft waren. Seit Frau Lindheim allein gelassen werden konnte, hatte das junge Mädchen sich schon mehrfach um eine Stelle bemüht, aber bisher immer vergebens, – die Bitten ihres Bräutigams, zu ihrem Unterhalte etwas beitragen zu dürfen, hatte sie mit Entschiedenheit abgelehnt, weil etwas in ihr sich mächtig gegen ein solches Zugeständnis sträubte, – und so war in der That schwere, bittere Sorge und Not in das kleine Heimwesen eingezogen.

In jener Zeit höchster Bedrängnis kam der erste Brief von Max aus Sumatra. Er war in einen von Adalbert von Rechnitz eingeschlossen, und als die Mutter, vor Freude zitternd, ihn öffnete, entfiel ihm eine Banknote. Der ganze Brief war ein Sonnenstrahl, der in das Herz der schwergeprüften Frau fiel, er enthielt nur Gutes und Hoffnungsvolles.

Max war ohne Fährnisse in Sumatra angekommen und mit großer Güte und Freundschaftlichkeit aufgenommen worden. Er schrieb ganz begeistert von Adalbert, nannte ihn den herrlichsten, liebenswürdigsten, tüchtigsten Menschen und pries Constanze glücklich, seine Liebe zu besitzen, sich selbst aber ebenfalls, weil er unter seiner Leitung arbeiten und sich ihm nützlich machen durfte. Von dem schon ziemlich bedeutenden Gehalt, das Adalbert ihm bewilligte, legte dieser auf seinen, des Schreibers, Wunsch, die Hälfte zurück, um mit der Zeit die Summe zusammenzubringen, die zur Entschädigung der durch ihn in Verlust Gebrachten notwendig war; die andere Hälfte sollte regelmäßig, nur mit Ausschluß eines kleinen Betrages zur Deckung der notwendigsten Bedürfnisse, der Mutter zugehen. Der übrige Teil des Briefes enthielt rührende Bitten um Verzeihung und um einige liebevolle, ermutigende Zeilen, dann das feste Versprechen, mit treuem, unermüdlichem Fleiß und männlicher Ausdauer danach zu streben, das Geschehene möglichst wieder gut zu machen, endlich sprach Max die Hoffnung aus, es werde ihm trotz alledem und alledem doch noch gelingen, seiner geliebten Mutter einen schönen, friedlichen Lebensabend zu bereiten.

Manches von dem, was dieser Brief enthielt, fand seine Ergänzung in dem Adalberts an Constanze. Derselbe sprach mit keinem Wort von Maxens Fehltritt, dagegen lobte er seine kaufmännische Tüchtigkeit, vermöge deren er sich mit Leichtigkeit in den neuen Wirkungskreis gefunden und sprach die Hoffnung aus, sehr bald nicht nur eine brauchbare Hilfskraft, sondern einen gleichgestellten Vertreter an ihm zu haben. Demgemäß werde er auch mit Freude und Genugthuung sein Einkommen mehr und mehr erhöhen, so weit er es eben bei der Firma, der er ja doch zur Rechenschaft verpflichtet sei, verantworten könne. Danach erging sich der Brief in Versicherungen treuester Liebe sowie des Wunsches, seine Constanze bald von dem Herzenskummer um die Eltern zu befreien und als sein Weib heimzuführen, und schloß endlich mit Bitten und zärtlichen Vorwürfen. »Du schreibst in heiterem Tone,« hieß es darin, »aber ich lese zwischen den Zeilen, daß Du leidest und entbehrst. Man wohnt nicht in einem möblierten Zimmer im Arbeiterviertel, wenn man sein gutes Auskommen hat. Warum gestattest Du mir nicht, Dir gleich den Meinigen, zu denen Du ja doch gehörst, von meinem Wohlstande zuzuwenden? Ich brauche hier sehr wenig; das einzige, was mir unentbehrlich, ist Gemütsruhe, die raubst Du mir aber, wenn Du mir das Recht verweigerst, Dich sorgenfrei zu stellen. Gieb den Stolz auf, meine Constanze; habe Vertrauen zu mir und betrachte mich schon ein wenig als Deinen Versorger. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, früher oder später Dein Herz von dem Gram um die Eltern zu entlasten, – gewähre mir auch das Recht, die äußeren Sorgen von Dir zu nehmen.«

Mit diesen Briefen war die Hoffnung und Freude in das dürftige Heim eingezogen, und sie erwiesen sich als die wirksamsten Stärkungsmittel für Frau Lindheim. Ihr Gemüt hatte ja mehr gelitten, als der Körper, daher kehrten jetzt, wo sie wieder hoffen durfte, wo sie ihren Max in Sicherheit und zusagender, ersprießlicher Thätigkeit wußte, ihre Kräfte wunderbar rasch zurück. Constanze durfte sie jetzt ruhig allein lassen, und dies war ihr hochwillkommen, da sie die Notwendigkeit einsah, eine Stelle oder Beschäftigung zu erlangen. Sie war fest entschlossen, auch ferner jede Unterstützung von Adalbert abzulehnen, auch ferner in dieser Hinsicht ihre Selbständigkeit ihm gegenüber zu bewahren; wenn nun aber der Betrag der von Max gesendeten Banknote verbraucht und kein Erwerb gefunden war, so kehrte jene Zeit wieder, an die sie noch mit Schaudern dachte, die Zeit, wo der Mangel vor der Thür stand und es am Allernötigsten fehlte.

Es durfte dahin nicht kommen, sie begann also eine verzweifelte Jagd nach einem regelmäßigen Erwerbe, der das ergänzte, was an den Sendungen von Max noch zum Unterhalte fehlte. Bei Wind und Wetter lief Constanze überallhin, wo man ihre Offerten beantwortet hatte, unzählige Enttäuschungen und Demütigungen mußte sie erdulden, bis sie endlich auf Grund ihrer Nationalität und anmutigen Erscheinung eine Stelle als Verkäuferin fand.

Dieselbe war nichts weniger als glänzend. Für ein wahrhaft erbärmliches Gehalt mußte Constanze den ganzen Tag, mit Ausnahme einer kurzen Mittagspause, auf den Füßen sein, – buchstäblich auf den Füßen, da die Verkäuferinnen sich, strenger Weisung gemäß, nie hinsetzen durften. Dabei war, so streng auf die Pünktlichkeit des Erscheinens im Geschäft gehalten wurde, die Zeit des Geschäftsschlusses eine ganz willkürliche, so daß es in dem Belieben jedes Abteilungschefs stand, sie nach Gutdünken zu verlängern. Dagegen und gegen sonstige Gewaltsamkeiten gab es keinen Widerspruch; Entlassung, sofortige Entlassung war die Geißel, die über dem Haupte der armen Rechtlosen geschwungen wurde, Entlassung wegen einer Minute Zuspätkommens, Entlassung wegen irgend eines Zeichens von Schwäche, Entlassung wegen einer Miene, die auf Unzufriedenheit deutete, wegen Ungnade des betreffenden Vorstandes, wegen Launen desselben, wegen Mangel an Liebenswürdigkeit, – kurz aus allen möglichen Gründen; – und da die Herren sowohl wie die jungen Mädchen wußten, daß für eine Entlassene sich gleich zehn zum Ersatz fanden, hatten beide Teile das Bewußtsein, daß die Angestellten sich alles bieten lassen mußten. Waren sie doch arm und auf den spärlichen Erwerb angewiesen, und gehörten doch die Geschäfte, die ihre Damen menschenwürdig behandelten, in der Hauptstadt zu den so seltenen Ausnahmen, daß die Mädchen bei einem Wechsel gewöhnlich aus dem Regen in die Traufe kamen.

Solcher Art war die Stellung Constanzens. Der Abend brachte ihr gewöhnlich keine Erholung, da sie, nach spätem Geschäftsschluß, vor Müdigkeit kaum etwas genießen konnte und dann halb tot ins Bett sank. Von den Sonntagnachmittagen gehörte ihr nur immer der dritte, an den Vormittagen war das Geschäft besonders lebhaft, da durfte keine fehlen. Oft schmerzten ihr die Füße von dem langen Stehen, und dabei mußte sie immer freundlich lächeln, immer lebhaft, graziös und zuvorkommend sein; aber Constanze sagte sich, daß sie die Stellung nicht aufgeben durfte, ohne sich und Frau Lindheim dem Mangel auszusetzen, außerdem hielt der Gedanke an Adalbert und eine durch ihn zu hoffende glückliche Zukunft sie aufrecht und half ihr über die Leiden der Gegenwart.

So standen die Dinge, als Hedwig ihren Einzug hielt. Die beiden Frauen hatten mit ihrem geringen Einkommen nur eben das Nötigste bestreiten können, da Constanze stets nett gekleidet sein mußte, viel Schuhwerk brauchte und öfters sogar, wenn die Tischzeit noch verkürzt worden war, sich genötigt sah, zu fahren, um nur wenigstens Zeit zum Essen zu gewinnen. Oft war die kleine Wirtschaftskasse in den letzten Tagen des Monats so knapp bestellt, daß Frau Lindheim, die einst so wohlhabende Frau, vor der Aufgabe, das Wenige einzuteilen, wie vor einem unlösbaren Problem stand, und nun war da noch eine Hausgenossin dazugekommen, die den Bedarf immerhin vermehrte, nun war eine höhere Miete zu zahlen, eine Verpflichtung übernommen. – –

Sorgenvoll sinnend blickte die alte Dame auf das schlafende Mädchen; als sie aber den rührenden Ausdruck des friedlich lächelnden Gesichtes erblickte, sagte sie beruhigt zu sich selbst: dieses arme, von meinem Max beraubte Kind sucht und braucht vor allem Liebe, Schutz, eine Heimat, – und dies, so mir Gott weiter hilft, dies will ich ihr gewähren.


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