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11. Kapitel

Ein Jahr! Wie kurz, wenn es im Vollgenuß des Lebens verstreicht, wie lang, wenn es trüb und einförmig oder in Leid und Gram dahinschleicht! Hedwig meinte, mit müdem Schritt und versagenden Kräften durch eine endlose Wüste gewandert zu sein, als sie sich eines Tages erinnerte, daß gerade ein Jahr vergangen, seit sie bei den Verwandten lebte.

Wie hart, wie grausam war ihr Schicksal in diesem Hause! Als sie an der Seite des Onkels die Schwelle überschritt, war ihrem wunden, zum Tode getroffenen Herzen kein Wort des Willkommens, kein freundlicher Blick geworden, – fremd und hochmütig hatten die Tante und Cousine sie empfangen und ihr durch dieses Benehmen gleich die künftige Stelle im Hause angewiesen. Ohne Rücksicht und Erbarmen spannte man das todmüde, von Nachtwachen, Krankenpflege und unaussprechlichem Herzeleid erschöpfte Kind sofort in das Joch der Pflicht und sorgte, daß diese schwerer und unbegrenzter war, als die der Dienstboten. Wie sich die Arme nach Ruhe sehnte, wie ihr Herz darbte und litt, – niemand sah es oder wollte es sehen, niemand spendete ihr ein freundliches Wort, statt dessen aber wurde sie beständig geschmäht, gehöhnt, gedemütigt, weil sie, das zärtlich geliebte, einzige Kind, bei den Eltern die niederen Arbeiten nicht gelernt hatte, die man ihr jetzt zumutete.

So war es vom ersten Augenblick gewesen, so war es noch immer. Vom Tagesanbruch bis zur sinkenden Nacht wurden ihre Kräfte angespannt, unermüdlich war sie thätig, und doch gab man ihr bei jedem Anlaß zu verstehen, welch ein schlecht erzogenes, verwöhntes, unnützes Geschöpf sie sei, welches Opfer man ihr bringe, sie im Hause zu dulden. Bei aller Mühe konnte sie es niemand recht machen, bis sie mit trauriger Ergebung sich sagte, daß ihr dies nie gelingen werde, daß es ihr Los sei, so zu dulden, ohne den tröstlichen Gedanken, auch nur ihren Platz richtig auszufüllen.

Manchmal jedoch, wenn die Tante und Adolfine, ihre Cousine, in diesen Schmähungen zu weit gingen und sich zur Gehässigkeit hinreißen ließen, kam dem armen Mädchen doch die Vermutung, daß nicht die Mangelhaftigkeit ihrer Leistungen hier die Ursache sei, sondern ein Groll, eine Abneigung, die ihrer Person galten. Vergebens sann sie dann nach, wodurch sie sich diese Feindseligkeit zugezogen. Sie wußte nicht, daß ihre eigene, bei allem Leid und aller Mühsal immer herrlicher aufblühende, durchgeistigte und rührende Schönheit, die die ziemlich gewöhnliche Erscheinung ihrer Cousine weit in den Schatten stellte, die beiden Frauen so gegen sie erbitterte; sie wußte auch nicht, daß diese im schweigenden Einverständnis um dieser Schönheit willen Hedwigs Stellung im Hause zu einer so niedrigen gemacht hatten. Niemand von den Besuchern durfte sie sehen; sie aß nur dann am Tische mit, wenn die Familie allein war, ja sie wußte nicht, wer im Hause verkehrte, und von Gesellschaften und Ausflügen erfuhr sie nur durch die vermehrte Arbeit, die ihr bei solchen Gelegenheiten aufgebürdet wurde.

So war die Arme inmitten des reichen, gastlichen Hauses eine wehrlose Zielscheibe gehässiger Willkür, ein namenlos unglückliches Wesen, das nur immer die eine Bitte zum Himmel schickte, sein freudeloses, unseliges Dasein zu enden; so hatte Hedwig ein Jahr unter harter, aufreibender Arbeit und steten Demütigungen durchlebt. Sie war nicht mehr träumerisch, nicht mehr unpraktisch, – der eiserne Zwang der Notwendigkeit war ihr Lehrmeister gewesen und hatte alle Unbeholfenheit von ihr abgestreift, – aber recht machen konnte sie es noch immer nicht, jetzt weniger als je. Seit einiger Zeit verkehrte ein Fremder im Hause, – Hedwig hatte ihn nie gesehen, auch seinen Namen nicht gehört, aber sie wußte, daß er oft zu Tisch gebeten wurde, – und Adolfine befand sich seitdem in fieberhafter Aufregung, die das Aschenbrödel Hedwig entgelten mußte. Doppelt so viel Zeit wurde jetzt auf die Toilette verwendet, nichts war gut und zierlich genug, – sie quälte die geduldige Cousine unendlich mit ihren Launen und Ansprüchen. Offenbar knüpfte Adolfine an die Annäherung dieses Herrn gewisse Hoffnungen, sie wollte um jeden Preis schön sein, ihn gewinnen und fesseln.

Aus diesem Grunde war auch der heutige Morgen ein sehr stürmischer gewesen. Hedwig sollte der Cousine das Haar ordnen, und wenn dieses Geschäft immer ein schwieriges war, so fand es die arme Hedwig heut ganz unmöglich, Adolfines Geschmack zu treffen. Zu allem Unglück hatte diese das liebliche, zarte Gesicht der Friseurin neben ihrem eigenen erhitzten, aufgeregten erblickt, und nun war ihr Zorn ins Maßlose gestiegen. Mit wutbebenden Händen hatte sie das kaum aufgesteckte Haar wieder auseinander gerissen und die weinende Cousine genötigt, von neuem anzufangen, bis nach einer wahrhaft qualvollen Stunde, in der sich der Vorgang immer wiederholt, Hedwig unter Schmähungen entlassen worden war, weil sie noch verschiedenes für das Mittagsmahl, an dem der Fremde teilnahm, zu besorgen hatte, auch Adolfines Toilette für eine am Nachmittag zu unternehmende Landpartie herrichten mußte. In der Küche hatte die Tante sie mit heftigen Scheltworten über ihr langes Ausbleiben empfangen, und dann war sie rastlos, in fliegender Eile bis zum Mittag thätig gewesen, um nur alles noch fertig zu machen, was ihr oblag.

Mit glühenden Wangen, zitternd vor Anstrengung, saß sie jetzt in einem Hinterstübchen, in dem sie die letzte Arbeit gemacht hatte, Adolfines neu hergerichtetes, elegantes Kleid. Ihr kleines, bescheidenes Mittagsmahl war ihr heraufgebracht worden, weil unten der Fremde mit bei Tische sein sollte, sie hatte es vor Ermattung kaum berühren können. Nur Ruhe, Ruhe begehrte sie, und die Zeit, die ihr zu stiller Einkehr in ihr Inneres gewährt war, dünkte ihr ein köstlicher Gewinn. Ihre Gedanken waren, während der Körper einer seltenen Rast genoß, thätig, aber sie waren trauriger Art. Welch ein Dasein! Was sollte daraus werden? Wohin konnte es führen, wenn sie es fortschleppte, dies freude- und liebelose, entwürdigende Leben? Warum warf sie es nicht von sich und ging dahin, wo ihre Teuren waren.

Eine übermächtige Sehnsucht ergriff sie nach Vater und Mutter, nach dem Frieden des Elternhauses, wo sie so viel Liebe genossen, und sie zog das Medaillon hervor, um wenigstens im Bilde die Heißgeliebten zu betrachten. Da, als sie das Kleinod öffnete, fiel ihr ein Blättchen entgegen. »Sein Gedenkblatt!« flüsterte sie und las: »Ihr seid Gottes Ackerwerk.« – – – Und dann weiter: »Leben Sie dem Worte auch nach und bleiben Sie gut Ihrem treuen Lehrer.« Oft, sehr oft hatte sie die teuern Schriftzüge betrachtet, wenn der Jammer ihres Lebens mit erdrückender Schwere ihr zum Bewußtsein kam, aber heut schienen sie ihr Antwort zu geben auf die verzweifelte Frage, die sie vorhin an sich gerichtet. Wozu sie leben sollte? Um ihn wiederzusehen, – und wenn das Schicksal ihr dieses Glück versagte, dann wollte sie die Bürde des Lebens dennoch weiter tragen, um in seinem Sinn und Geist die ihr gestellte Aufgabe zu erfüllen. »Ihr seid Gottes Ackerwerk.« Ein steiniger Boden war es, den sie zu bebauen hatte, unendlich schwer und mühselig das Tagewerk; aber nach seiner Weisung mußte sie es mit demütiger Willfährigkeit verrichten, wie das Ackerwerkzeug in der Hand des Landmannes, das auch nicht fragt, ob es über lockeres und ebenes, oder über steiniges Land geführt wird. So meinte er es, so wollte sie fernerhin ihre Aufgabe auffassen, und gewiß würde sie ihr dann leichter werden. Bisher hatte sie alles mit jener ohnmächtigen Ergebung ertragen, die einem ungerechten Zwange sich fügt, jetzt wollte sie es in dem Bewußtsein, daß sie im Dienst einer höheren Macht stand, und dieses Bewußtsein sollte auch ihr Benehmen gegen die Verwandten bestimmen. Wie gleichgiltig, wie innerlich verdrossen war sie gewesen! Das sollte anders werden; von entgegenkommendem Eifer beseelt, wollte sie ihre Wünsche zu erraten suchen, den eigenen Fleiß verdoppeln. Dann würde doch endlich auch der steinige Acker sich ebnen, ja mit der Zeit würden die Herzen der Verwandten bezwungen werden und sich ihr in Liebe zuneigen. Noch einmal betrachtete sie die Bilder und das Blatt, dann schloß sie das Medaillon und barg es wieder an ihrem Herzen.

Die Zeit des Mittagsmahles war auch für die Familie nahe herangekommen und Hedwig beschloß, noch einmal in der Küche nach dem Rechten zu sehen, auch Adolfines Anzug im Ankleidezimmer bereit zu legen, wie sie es gern hatte. Bei dieser Beschäftigung wurde sie über die Wahl einiger Gegenstände zweifelhaft, – die ihr gegebenen Anweisungen waren so unvollständig gewesen, – sie mußte also genauere erbitten. Die Damen wären im Garten, sagte ihr die Köchin, und mit einer Freudigkeit, wie sie sie lange nicht empfunden, eilte Hedwig der dichtbewachsenen Laube zu, aus der ihr der Tante und Adolfines Stimme entgegentönten. So gelangte sie zum Eingang, blieb aber wie angewurzelt stehen, als eine dritte Stimme von wohlbekanntem Klange an ihr Ohr schlug. War es denn möglich? Nur einer in der Welt sprach so, konnte er – –. Unwillkürlich trat sie näher, – ja in der That, er war es, Gustav Weiße.

Regungslos, wie vom Blitz getroffen, stand sie am Eingange der Laube, die Augen starr auf den Mann gerichtet, der fast unverändert mit dem schlicht gescheitelten Haar und der goldenen Brille vor ihr saß. Aber noch mehr erschrocken war er, dem das böse Gewissen alle Fassung raubte. Sein Gesicht war fahl geworden, die falschen Augen wichen scheu denen des Mädchens aus, er fühlte sich entschieden sehr unbehaglich. Es war ein Glück für ihn, daß die Empörung der Damen über Hedwigs Erscheinen die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte. In zorniger Eile erhob sich die Tante, drängte Hedwig einige Schritte bei Seite und herrschte sie dann an: »Was willst Du hier? Wußtest Du nicht, daß Besuch da ist?« »Nein, Tante, ich glaubte Euch allein,« sagte Hedwig. »Nun denn, so geh' augenblicklich ins Haus und unterstehe Dich nicht, noch einmal zum Vorschein zu kommen. Ich verbitte mir solche Dreistigkeit ein für allemal.«

Wie gern folgte Hedwig der Weisung, und wie wohl that es ihr, im eigenen Stübchen über die Begegnung nachzudenken! Er also war der Bewerber, der Hausfreund! Wie kam er hierher und wie hatte er es angefangen, in diesem Hause als hochgeehrter Gast Aufnahme zu finden? Ohne Zweifel war er doch stellenlos, sonst hätte er nicht seit Wochen Zeit gefunden, hier zu verweilen und ständiger Besucher der Familie zu sein; er befand sich also entweder in sehr günstigen, unabhängigen Verhältnissen, oder spiegelte solche vor, denn die Komödie vom »Spielball des grausamen Schicksals«, vom »heimatlosen Wanderer« und »verfehlten, hoffnungslosen Dasein«, mit der er ihr Herz bestrickt und die Teilnahme des guten, vertrauensvollen Vaters gewonnen hatte, war bei Adolfine und deren Eltern nicht anwendbar, hätte ihn vielmehr von vornherein bei ihnen unmöglich gemacht. Hedwig hielt den Fall, daß er sich durch irgend welche Täuschung Zutritt im Hause verschafft, für den wahrscheinlicheren, ja für gewiß; der Mann, der schon nach einem Jahre die so vorteilhafte Stelle verloren hatte, sah sich ohne Zweifel wieder genötigt, eine Position im Leben zu erringen, und diesmal sollte Adolfine ihm dazu helfen, sie war also auf dem Wege, das Opfer eines Abenteurers zu werden, und schlimmer als dies: eines Mannes, der auch in günstigen Verhältnissen durch seinen Charakter keinerlei Bürgschaft für ihr Glück bot. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden, die Verwandten mußten durch sie die Wahrheit erfahren.

Unten im Speisezimmer war man jetzt bei Tisch, sie hörte das Klappern der Bestecke, Lachen und Plaudern, glaubte sogar manchmal seine heisere Stimme zu unterscheiden. Vielleicht fand sich vor dem Aufbruch zur Landpartie ein Augenblick, wo sie mit Adolfine oder der Tante sprechen konnte, wenn nicht, sollten sie noch am Abend die Wahrheit erfahren. Die Cousine würde dieselbe nicht freundlich aufnehmen, sie befand sich anscheinend noch rettungsloser im Bann des gefährlichen Mannes, als sie selbst zur Zeit, aber gleichwohl mußte sie ihre Pflicht thun.

Unten wurden jetzt die Stühle gerückt, man hob die Tafel auf. Dann ertönten Pianoklänge, Adolfine sang eine moderne Arie und der Doktor begleitete sie, endlich sang er selbst, eines jener französischen Lieder, deren aufregende, sinnbethörende Wirkung Hedwig dereinst an sich selbst erfahren. Und dann wieder nach einer Weile verstummte die Musik, dafür entstand ein lebhaftes Hin- und Hergehen, Reden und Lachen, man hörte an die Dienstboten gerichtete Befehle, das Schließen von Thüren, und dann war alles still, – sie hatten das Haus verlassen. Eine Weile horchte Hedwig noch, als sie aber ihrer Entfernung sicher war, stieg sie hinab in die Familienwohnung, um noch einige kleine Obliegenheiten in den verlassenen Räumen zu erfüllen.

Allein war sie, ganz allein, sich selbst überlassen! Welch himmlisches Gefühl! Mit elastischen Schritten ging sie hin und her und besorgte ihre kleinen Pflichten, zuletzt kam sie in das Empfangszimmer, in dem die Familie sich vor dem Aufbruch befunden. Das Piano stand noch offen. Wie lange schien es ihr, daß sie nicht gespielt, nicht gesungen hatte! Ob die Lieder ihrer glücklichen Zeit ihr wohl noch geläufig waren? Eine unwiderstehliche Lust überkam sie, es zu versuchen, und nachdem sie sich durch einen Blick überzeugt hatte, daß sie wirklich allein war, ließ sie sich nieder und begann, leise über die Tasten gleitend, in lieblichen Tönen zu singen.

Wahrlich, sie hatte nichts vergessen und unbeschreiblich süß war der Genuß, den sie nach der langen Entbehrung fand. Selige Erinnerungen weckten ihr die Klänge; die schöne, friedliche Kindheit, die sonnige Zeit im Vaterhause lebte ihr wieder auf, sie schwelgte und wurde nicht müde, durch immer neue Lieder die freundlichen Bilder heraufzubeschwören. So versunken, merkte sie nicht, daß die Thür sich leise öffnete und ein schleichender Schritt sich dem Piano näherte.

»Bravo! bravo!« tönte es plötzlich von heiserer Stimme. Erschrocken sprang sie auf und sah sich dem Doktor gegenüber, der sie durch die funkelnden Brillengläser mit frecher Bewunderung anschaute. »Himmlisch, verführerisch, beim Zeus!« sagte er, ihr noch näher tretend, »hatte gar keine Ahnung von diesem Talent.«

Hedwig wollte an ihm vorüber, um das Zimmer zu verlassen, er aber vertrat ihr den Weg. »Daraus kann nichts werden, meine Hedwig,« sagte er, »ich muß Dich notwendig sprechen, habe mich eigens deshalb auf halbem Wege von den Damen losgemacht. Draußen ist das herrlichste Spätsommerwetter, ich habe aber den Wetterpropheten gemacht und behauptet, ein Sturm sei im Anzuge und ich müßte hierher zurückkehren, um Tücher und Umhänge für alle Fälle zu holen. Also, lieber Schatz, was ich sagen wollte: Du hast mich heut gesehen und wirst wohl wissen, daß ich Absichten auf Fräulein Bandolf habe; nun bist Du zu meinem – zu meiner Überraschung hier im Hause und könntest – über mich plaudern. Aber, nicht wahr, Du wirst reinen Mund halten? Versprich mir, daß Du es willst. Sieh' mal, ich weiß, daß Du auf mich gerechnet hast und sehr böse auf mich sein mußtest, – aber wie konnte ich ein armes Mädel nehmen, ich armer Teufel? Von allen Seiten hattest Du glänzende Anerbietungen, sollte ich Dich hindern, sie anzunehmen? Und dann ist's richtig bald mit der Stelle aus gewesen, – Intriguen, Mißverständnisse, Verleumdungen, alles Mögliche kam da zusammen, – kurz, ich bin wieder auf demselben Fleck wie damals, als Dein guter alter Papa mir heraushalf, – vis-à-vis de rien. Nun bietet sich hier wieder eine Aussicht, – wirst Du mir das Vergangene nachtragen, Hedwig, mein süßer Engel? Wirst Du mich verraten? Nein, nein, Du wirst es nicht, dazu hatten wir uns viel zu lieb, und jetzt noch – Du weißt gar nicht, wie reizend Du bist Hedwig, – warum sollen wir uns nicht weiter gut sein, da Du doch im Hause bist – –«.

Glühend vor Entrüstung strebte Hedwig nach dem Ausgange, der Doktor aber hinderte sie, indem er mit ausgebreiteten Armen vor sie trat und sie so zwang, zurückzuweichen. »Nein, Du darfst nicht fort,« sagte er, »bis Du mir versprochen hast, zu schweigen. Ich sage Dir auch,« – hier sank die heisere Stimme zu vertraulichem Flüstern, – »daß ich mir aus Fräulein Bandolf nicht so viel mache, und wenn ich nicht so furchtbar auf dem Trockenen säße, fiele mir's nicht ein, hier den Liebenswürdigen zu spielen. Aber so muß ich froh über die Aussicht sein. Es war ohnehin ein ganz merkwürdiger Zufall, der mich herbrachte. Wie ich die Stelle verloren hatte, gab mir unsere ›komische Alte‹, die mich immer sehr gern hatte, ihr erspartes Geld und eine Empfehlung nach W. an ihren Bruder, den dortigen Theaterdirektor. Auf dem Wege dahin hatte ich Gelegenheit, ein Gespräch im Nachbarkoupée zu belauschen, das sich auf den Fabrikbesitzer Kommerzienrat Bandolf bezog, – man plante eine förmliche geschäftliche Verschwörung gegen ihn. Die beiden Kerls hatten keine Ahnung, daß ich im Koupée war und sprachen zwar leise, aber sonst ungeniert. Kurz und gut, in G. stieg ich aus, suchte mir den Kommerzienrat auf und teilte ihm die Geschichte mit. Natürlich sagte ich ihm nichts von meinen Verhältnissen, sondern gab mich für einen reichen Herrn aus, der sich in hiesiger Gegend ankaufen möchte und sich als Revanche den Rat des Kommerzienrats dazu erbat. Nun, dieser war ganz begeistert von dem Dienst, den ich ihm erwiesen und hatte nichts Eiligeres zu thun, als mich bei seinen Damen einzuführen. Da bin ich nun seit einigen Wochen hochangesehener Hausfreund und wenn Du mir nicht das Spiel verdirbst, bald Gatte und Schwiegersohn. Aber Du wirst Deinem Gustav nicht in den Weg treten, das weiß ich. Denke doch, wie schön das sein wird, – Du bleibst im Hause, vor der Welt als Beschließerin, Gesellschafterin, oder was Du sonst hier bist, – in Wahrheit aber als meine angebetete Herzenskönigin. Komm, Süße, sage, daß Du willst – –«

Er näherte sich wieder mit ausgebreiteten Armen, aber in höchster Empörung stieß Hedwig ihn von sich. »Genug, Elender!« rief sie, »zu lange habe ich Sie angehört. Nie und nimmer werde ich dulden, daß Sie sich, einer giftigen Schlange gleich, in diese Familie schleichen. Noch heut werde ich Sie entlarven.« – »Und ich sage Dir, Du wirst es nicht,« sagte der Erbärmliche mit überlegener Ruhe, »ehe Du Deine Geschichte anbrächtest, hätte ich Dich schon mit einer von mir verfaßten unmöglich gemacht. Aber so weit soll es nicht kommen, – nimm Vernunft an, Liebling, – Du bist mir ja doch gut, wie, meine Hedwig?«

Er hielt sich bei den letzten Worten dicht an Hedwigs Seite, die, seinen ausgebreiteten Armen ausweichend, bestrebt war, den Ausgang zu gewinnen. Der Himmel hatte sich umzogen, einzelne Blitze zuckten durch die Wolken, beide aber merkten es nicht. Schon war Hedwig dem Ausgange nahe, als sie plötzlich stehen blieb und dem Verfolger Gelegenheit gab, ihre Hand zu erfassen. In der Thür standen die Kommerzienrätin und Adolfine, und ihre wutfunkelnden Augen verrieten, daß sie Zeuginnen mindestens dieser letzten Szene gewesen.

»Was geht hier vor?« rief die empörte Frau, rasch ins Zimmer tretend, »Doktor, reden Sie, was soll das heißen?« – Hedwig hatte sich der Tante genähert. »Höre mich, Tante, um Gotteswillen!« begann sie, aber schon hatte der Doktor seine Fassung wiedergefunden. »Ich bin entzückt, gnädige Frau,« rief er, »Sie in Sicherheit zu sehen. Sie wissen, eine Besorgnis, die sich inzwischen als begründet erwiesen hat, trieb mich hierher, um schützende Hüllen für Sie zu holen; wie schrecklich war es mir nun, sie Ihnen nicht bringen zu können!« – »Und warum konnten Sie es nicht?« fragte die Kommerzienrätin spitz, »was in aller Welt hinderte Sie?« »Keineswegs mein Mangel an gutem Willen,« sagte der Doktor in biederem Tone. »Sie werden alles erfahren, – so peinlich mir die Sache ist, weil ich gezwungen bin, die junge Dame hier – in ein etwas sonderbares Licht zu bringen –« »Tante,« flehte Hedwig mit aufgehobenen Händen, »Du mußt mich anhören; dieser Mann ist – – –«.

»Natürlich ein Bösewicht,« höhnte Weiße, »der leibliche Gottseibeiuns u. s. w. Nun denn, wenn das Fräulein sich nicht scheut, mich hier zu verdächtigen, so habe ich keinen Grund mehr, mit der Wahrheit zurückzuhalten. Ich kam also nach den Tüchern und wendete mich an das Fräulein hier, dieses aber –« »Nun?« fragten beide Damen. »Nun, – aber Sie dürfen der Sache nicht zu viel Gewicht beilegen; lieber Gott, die Jugend neckt sich gern, – das Fräulein also, statt mir die Sachen zu geben, beginnt mit mir zu schäkern, sucht mich mit allerlei Koketterien aufzuhalten, bis ich, von Besorgnis für Sie erfüllt, hinauseilen will, um mir von anderer Seite die Umhänge zu verschaffen. Da sucht sie mir denn den Weg zu vertreten, bis ich alle Galanterie bei Seite setze und sie zurückdränge – –«.

»Tante, er lügt! Alles ist erlogen!« rief Hedwig außer sich. »Wenn Du mich doch anhören wolltest, nur einen Augenblick – –«.

»Schweige!« herrschte die Tante, »Nichtswürdige! Ich habe es gesehen, ja, mit diesen meinen Augen, wie über alle Begriffe schmachvoll Du Dich benommen hast. Das ist der Dank für meine Wohlthaten! Pfui der Schande, entartetes Geschöpf!« – »Mit Lügen will sie sich rein waschen,« mischte sich Adolfine ein, »den guten Doktor in Verdacht zu bringen, weil er auf ihre Koketterien nicht eingegangen. O gehen wir, ich mag nicht länger eine Luft mit ihr atmen, – komm, Mama, kommen Sie lieber Doktor!«

Mit einem Sprunge war der Gerufene an ihrer Seite und bot ihr mit zärtlichem Blicke den Arm. Das Paar wendete sich zum Gehen und die Kommerzienrätin wollte ihm mit einem verächtlichen Blicke auf Hedwig folgen, als diese, rasch entschlossen, ihnen den Weg vertrat. »Nein,« rief sie, »ich lasse Euch nicht fort, bis Ihr mich gehört habt. Dieser Mann ist ein Lügner und Betrüger, er war es, der mich zurückhielt, er – –« »Was untersteht sich die Person?« rief die Tante, ihrer selbst kaum mehr mächtig, »das geht zu weit! Zurück, Mädchen, gieb den Weg frei, und kein Wort mehr, oder Du verlässest in dieser Stunde, auf der Stelle mein Haus!« »Ich weiß überhaupt nicht,« mischte sich Adolfine wieder ein, »wie ich es möglich machen soll, mit diesem Geschöpf noch zu verkehren. Du bist zu langmütig, Mama, – sieh doch, sie bietet Dir ja Trotz!« Hedwig hatte sich mit dem Rücken gegen die Thür gestellt und faßte beschwörend die Hand der Tante, um sich endlich Gehör zu verschaffen. Damit war aber die Aufregung der Frau zum Gipfel getrieben. »Du wagst es, wie?« kreischte sie, sinnlos vor Wut und riß, indem sie Hedwig mit heftiger Bewegung von sich stieß, die Thür weit auf. »Hinaus denn, ehrloses Geschöpf, hinaus aus diesem Hause, das Du durch Deine Gegenwart besudelst.« – Noch einmal erhob Hedwig flehend die Hände, als aber auf ein nochmaliges, gebieterisches »Hinaus!« der Doktor sich ihr näherte, um sie aus dem Zimmer zu führen, entfloh sie, vor seiner Berührung zurückschaudernd, hinaus in die sinkende Nacht.

Es regnete, das Gewitter hatte sich noch nicht ausgetobt; durch die Straßen der Stadt aber eilte im Hauskleide ohne Plan und Ziel ein heimatloses Mädchen in die weite, unbekannte Welt.


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