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13. Kapitel

Es war fast Mittag, als Hedwig erwachte, und im ersten Augenblicke hatte sie beim Anblick der Tageshelle das unruhige Gefühl, etwas von ihren Morgenpflichten versäumt zu haben. Erst der Blick auf ihre Umgebung und das freundliche Gesicht der sie begrüßenden Frau Lindheim erinnerte sie, daß sie dem harten Sklavenleben entronnen und bei guten, liebevollen Menschen war. Rasch sprang sie auf, beseitigte durch frisches Wasser die Spuren der bösen Nacht und brachte, als sie fertig angekleidet war, die Bettstücke an ihren Platz und das Zimmer in Ordnung. Erst als sie dies gethan, nahm sie dankbar das Frühstück an, das Frau Lindheim ihr brachte, betonte aber ganz entschieden, es sei dies das letzte Mal, daß sie sich eine Handreichung von ihr gefallen lasse. »Wenn ich hier bleiben darf,« sagte sie, »dann müssen Sie mir erlauben, Sie zu bedienen. Sie sind eben bei den Zurüstungen zum Mittagsbrot, – bitte, lassen Sie mich das besorgen, ich erzähle Ihnen dabei meine traurige Geschichte.«

Ohne eine Antwort abzuwarten trat sie vor den kleinen Koch-Apparat und besorgte alle noch nicht vollendeten Arbeiten so rasch und geschickt, daß Frau Lindheim ihr ganz verwundert zuschaute. »Constanze hat Ihnen gewiß erzählt,« sagte sie, »daß ich eine träumerische und schwärmende Dichterseele war, die in dem ›alten, romantischen Land‹ mehr Bescheid wußte als in der wirklichen Welt. Aber das ist jetzt anders, – in der harten Schule des Lebens ist mir die Romantik vergangen. Lassen Sie sich nun erzählen – –«

»Nein,« sagte Frau Lindheim, »warten Sie, bis Constanze da ist. Sie hat sich vorgenommen, zur Feier Ihrer Ankunft hierher und wieder zurückzufahren, kann also eine volle Stunde zu Hause bleiben. In dieser Zeit hören wir Ihre Geschichte an und können dann immer noch ein wenig plaudern.«

Der Tisch war zierlich und sauber gedeckt und das kleine Mahl bereit, als Constanze eintrat. Sie war wirklich gefahren und darum ganz frisch und lebhaft. Mit freudestrahlenden Augen begrüßte sie Frau Lindheim, dann Hedwig, und nun ging es zu Tische. Während des einfachen Mahls und nach demselben erzählte Hedwig ihre Geschichte seit der Zeit, wo sie mit den Eltern in O. war, erzählte von ihrem Verhältnisse mit dem Doktor, ihrer eigenen Herzenswandlung und seinem Verrat, von dem Leben bei den Verwandten bis zur letzten, schmachvollen Szene, – alles, alles; nur das, was sich auf den Lehrer bezog, verschwieg sie, – warum, vermochte sie selbst nicht zu sagen.

Ihre Zuhörerinnen fanden kaum Worte, ihrer Entrüstung, ihrem Mitleid Ausdruck zu geben. Beide schlossen sie liebreich in die Arme und Frau Lindheim sagte mit überströmenden Augen: »Und das alles mußten Sie um meines Sohnes willen leiden! Wie viel habe ich da gut zu machen! Ich kann es nur durch rechte, mütterliche Liebe, und die sollen Sie – die sollst Du haben, so lange ich lebe, mein Kind. Komm her, Du gehörst jetzt zu uns in Freud' und Leid, meine Hedwig; sieh, ich sage zu Dir Du, nun nenne mich auch Tante, wie es Constanze thut.«

Wie wohl that der armen Ausgestoßenen das Bewußtsein, nun hier zu Hause zu sein! Es war ein so bescheidenes, armseliges Heim, aber ihr dünkte es ein Paradies durch die Liebe, die ihr hier geboten wurde. Wie einer köstlichen Melodie lauschte sie den in letzter Zeit ungewohnten, sanften Klängen und küßte der mütterlichen Freundin in überwallender Dankbarkeit die Hand. Mit freudiger Geschäftigkeit brachte sie, als das Mahl beendet war, alles in Ordnung, so daß Frau Lindheim lächelnd sagte: »Mein neues Pflegekind wird mich arg verwöhnen, es nimmt mir schon jetzt alle Arbeit ab.« »Und dabei soll es nicht sein Bewenden haben,« sagte Hedwig; »auch ich werde für den Erwerb arbeiten, wie Constanze, und keine Minute zögern, mir solchen zu suchen. Sage mir, Constanze, wie Du zu Deiner Stelle gekommen bist, damit ich bald mit Suchen anfange.«

Die Freundin sagte ihr, daß dies durch die Tagesblätter geschehen und verschwieg ihr auch nicht, wie schwer es gehalten hatte, auch nur eine so schlecht besoldete Stelle, wie die ihrige, zu erlangen. Hedwig war etwas betroffen, faßte aber bald wieder Mut. »Vielleicht glückt es mir besser,« sagte sie. »In einer so großen Stadt muß doch wohl Verwendung für eine junge, willige Arbeitskraft sein. Da sind Kinder, die Unterricht, alte Damen, die eine Vorleserin oder Pflegerin, andere, die eine Stütze brauchen, und die vielen Geschäfte müssen auch ihre Hilfskräfte haben. Ich will's versuchen und zwar sogleich; jeder Tag, an dem ich nichts zum Haushalt beitragen kann, ist mir drückend.«

Frau Strauß wurde nun gebeten, wieder, wie für Constanze, ein teilweises Zeitungs-Abonnement zu besorgen; dasselbe bestand darin, daß man von einem nahen Kaufmann gegen kleine Entschädigung eine Zeitung, hier ein vielgelesenes Anzeigeblatt, für die Dauer einer halben Stunde entlehnte und nach Ablauf dieser Frist zur Weitergabe zurückstellte. Schon am nächsten Morgen brachte Frau Strauß das Blatt und Hedwig sah zu ihrer Freude, daß die verschiedensten Stellungen angeboten waren. Mit Feuereifer beantwortete sie die Gesuche, und es kamen auch mehrere Antworten, in denen sie zur Vorstellung aufgefordert wurde; aber so hoffnungsvoll sie hingegangen war, so enttäuscht kam sie zurück: es war nirgends etwas gewesen. In den Familien wies man sie zurück, weil sie keinerlei Empfehlungen, keine Ausweise über ihr Können besaß; in Geschäften, weil sie noch nirgends eine ähnliche Stelle bekleidet hatte, – und zwei der Briefsteller waren Vermittler, die, noch ehe sie ihr eine Aussicht eröffnen konnten, ein Einschreibegeld verlangten. »Vielleicht geht es ein andermal besser,« dachte Hedwig und begab sich, sobald wieder Antworten einliefen, von neuem auf die Wanderschaft. Aber es war um nichts besser, ja sie mußte manches mißtrauische, manches kränkende und grobe Wort an diesem Tage anhören. Constanze hatte ihr ein einfaches, dunkles Straßenkostüm zur Verfügung gestellt und sie sah darin in keiner Weise auffallend, vielmehr bescheiden und doch vornehm aus; aber es war, als ob ihre jugendliche Schönheit vielen als ein Anlaß erschiene, sie zu beleidigen, namentlich waren alle Vermittler darüber einig, ihr nur Stellungen anzubieten, die sie unmöglich annehmen konnte.

Und wieder und wieder begab sie sich auf diese schrecklichen Wege, immer ohne Erfolg. Mitunter kam sie zu Hausfrauen, die ihr eine unbesoldete Stelle als »Stütze«, zu Kaufleuten, die ihr den Posten eines Lehrfräuleins anboten und nicht begreifen konnten, daß sie nicht sofort zur Annahme bereit war, da ja, wie sie ihr vorstellten, die »erste Stelle« eine unerläßliche Stufe zur Erlangung einer zweiten, besoldeten wäre. Gewöhnlich waren diese Brotherren oder -herrinnen solche, die auf gewöhnlichem Wege keine Leute mehr bekommen konnten, weil sie zu verschrieen waren, daher nicht allzu wählerisch sein durften; andere, besser renommierte, wiesen sie sofort ab. Bei den Geschäftsinhabern wußte sie bald den gewöhnlichen Verlauf. »Wo sind Ihre Zeugnisse?« sagte der Herr kurz, und wenn sie dann bekannte, keine zu haben, wandte er sich, etwas von Frechheit und Zeitstehlen murmelnd, ohne weiteres seiner früheren Beschäftigung zu.

Eine ganze Weile setzte sie, aller Enttäuschungen und Demütigungen ungeachtet, ihre Versuche fort, endlich sah sie aber doch ein, daß sie zu nichts führen würden und daß man sie weder zur Lehrerin, noch zur häuslichen Stütze, noch zur Geschäftsdame wollte, eine Stelle für sie überhaupt unerreichbar war. Auf Constanzens Rat wendete sie jetzt den Gesuchen, in denen man Handarbeiterinnen verlangte, ihre Aufmerksamkeit zu und fand, daß sehr verlockende darunter waren. Eine besonders zog sie an, die so lautete: »Junge Damen erhalten leichte, lohnende Handarbeit ins Haus bei Johanna Wilkow, Stralsunder Ufer 35.« Leicht und lohnend, das war es ja, was sie suchte, auf zu Frau Johanna Wilkow!

Das Stralsunder Ufer war sehr entfernt und sie fand sich erst nach langem Fragen und häufigem Fehlgehen zu Frau Wilkow. Ja, es war richtig mit der Arbeit, sie war zu haben, eine leichte Tändelei, wie die Frau versicherte, die jedes kleine Kind machen konnte, nämlich das Aufnähen von Buchstaben in Goldschnur und Wolle auf Lesezeichen von Papierkanevas. Nur ein kleiner Übelstand war dabei – die Dame verlangte zur Deckung für das anvertraute Material und die Lesezeichen eine Kaution von 5 Mark; aber was wollte das bedeuten? Hedwig sollte ein ganzes Gros von den Lesezeichen mitbekommen, dafür gab es eine Mark Arbeitslohn; wie schnell waren also die fünf abverdient, da man, wie die Wilkow behauptete, in einem Tage spielend ein Groß fertig machen konnte! Außerdem blieb einem ja das Pfand, von dem nur dann etwas abgezogen wurde, wenn man die Ware verdarb oder behielt.

Traurig ging Hedwig nach Hause. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie die Arbeit bekommen hätte! Eine Mark täglich! Das war fast so viel, als Constanze verdiente und mehr, als Hedwigs Unterhalt kostete. Sie erzählte Frau Lindheim von dem Erfolge ihres Weges, ohne im geringsten daran zu denken, daß diese ihr die Caution geben könnte; aber zu ihrer großen und freudigen Überraschung bot sie es ihr an. »Ich habe es zur Miete zurückgelegt,« sagte sie, »aber wenn die Arbeit nur halb so einträglich ist, kannst Du bis zum Ersten die fünf Mark, die ich davon nehme, ganz gut schon verdient haben.«

Seelenvergnügt ging nun Hedwig noch einmal die weite Strecke und erhielt nach Erlegung der fünf Mark wirklich das Groß Lesezeichen nebst Material. Nach zwei Stunden war sie wieder zu Hause und setzte sich sogleich an die Arbeit; aber, – war ihre Ungeschicklichkeit schuld? – die Sache, die so kinderleicht sein sollte, erwies sich als außerordentlich mühsam. »Gott schütze dich!« stand auf den Canevasstreifen, und jeder Buchstabe sollte ausgenäht werden, aber die Goldschnur war ungefüge, und immer, wenn ein Buchstabe fertig war, mußte das Ende abgeschnitten und verstochen werden. Dabei war der Papiercanevas so wenig haltbar; sobald man den Faden etwas zu sehr anzog, zerriß der weiche Stoff. Eine Stunde hatte Hedwig bereits gearbeitet und nun sah sie mit Entsetzen, daß von den fünf Lesezeichen, die sie fertig gemacht, zwei zerrissen waren und das dritte so unleserlich, daß man kein Wort erkennen konnte. Also zwei brauchbar in einer Stunde! Sie sah den großen Stoß an, der noch fertig zu machen war und es schien ihr, als müsse sie, ehe die Mark verdient war, über dieser Arbeit wahnsinnig werden.

Am zweiten Tage machte sie sich mit Todesverachtung ans Werk und hatte, als sie am späten Abend, vor Anstrengung fiebernd, die Nadel fortlegte, 26 Stück brauchbare Lesezeichen gefertigt und 17 verdorben. Am dritten Tage bekamen die Wollfaden und Goldschnüre in ihren Augen etwas Unheimliches, Schlangenartiges, und als sie sich spät abends mit schmerzendem Kopf und Rücken zu Bett gelegt hatte, verwoben sie sich in ihre Träume und schnappten als giftige, sich ringelnde Nattern nach ihren stichelnden Fingern. Endlich nach einer Woche, in deren Verlauf sie wirklich Anzeichen von Wahnsinn an sich zu bemerken geglaubt, ging sie die Arbeit abliefern.

Frau Wilkow hatte eine große Brille aufgesetzt und prüfte mit kritischem Blick die Leistung. »Aber liebes Fräulein,« rief sie nach vollendeter Musterung, »was denken Sie sich denn? Von dem ganzen Groß sind nur zehn Dutzend zu brauchen, die anderen teils zerrissen, teils miserabel gemacht. Sie bekommen also für die Arbeit – na, ich will nicht so sein – sagen wir 85 Pf. Dagegen haben Sie zu ersetzen – warten Sie 'mal – zwei Dutzend Lesezeichen nebst Material das Stück 15 Pf. macht 3 Mark 60 Pf. Bekommen Sie also, wenn Sie keine Arbeit mehr wollen, von Ihrer Kaution zwei Mark fünfundzwanzig Pfennig heraus.«

Hedwig stand wie vom Donner gerührt. Also darum hatte sie eine Woche wie angeschmiedet gesessen, um noch fast drei Mark von dem anvertrauten Gelde einzubüßen! Bei dem Satze: »Wenn Sie keine Arbeit mehr wollen!« machte sie unwillkürlich eine Bewegung lebhafter Abwehr. »Na, deshalb brauchen Sie nicht gleich die Büchse ins Korn zu werfen,« sagte die Frau begütigend. »Wenn Ihnen die Dinger nicht passen, – es ist ja man Kinderarbeit, aber für manchen etwas pusselig, – dann hab' ich noch anderes. Da, sehen Sie, das sind Stickkästchen für kleine Mädchen, lauter Anfänge: ein Endchen Stickerei, ein Endchen Häkelei u. s. w. in jedem, da giebt's schon fürs Dutzend Kasten 75 Pf. Drei Dutzend gebe ich Ihnen für das Pfand mit.«

Was war zu thun? Hedwig mußte bis zum Ersten die fünf Mark, die an der Miete fehlten, ersetzen, – die Arbeit sah wirklich leicht aus, – sie nahm sie also mit. Aber volle zehn Tage war sie anhaltend beschäftigt, ehe sie sie abliefern konnte, und obgleich diesmal nichts abgezogen wurde, bekam sie doch wieder kein Geld, da noch fünfzig Pfennige an der ursprünglichen Kaution fehlten. Diesmal gab ihr Frau Wilkow, da sie die Anfänge auch sehr mühselig fand, kleine, bunt ausgenähte Theeservietten, das Groß für drei Mark. O diese Großrechnung! Sie scheint eigens erfunden, um die Erbärmlichkeit der Bezahlung zu verhüllen. Für zwei Pfennige waren hier Dutzende von krummen und graden Linien in kleinen Stielstichen sauber auszuführen, eine Bettelbezahlung in der That. Aber Hedwig saß geduldig vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht und stichelte, bis ihre Wangen glühten, die Hand zitterte und es sich wie Nebel vor ihre Augen legte. Zuletzt begannen ihr die Kinderfiguren, die Obst- und Blumenstücke in rot und blau einen wahren Abscheu einzuflößen und sie atmete wie erlöst auf, als sie am Monatsschluß mit Frau Wilkow abrechnen konnte und außer der Kaution noch an drei Mark herausbekam. Es war ein kleiner, aber sauer verdienter Beitrag zur Wirtschaftskasse.

Jetzt galt es, andere Arbeit zu suchen, und diesmal gab ihr die Wirtin guten Rat. Sie sagte ganz richtig, daß es immer lohnender wäre, gleich aus erster Hand die Arbeit zu nehmen, anstatt von solcher Frau, die sie zur Verteilung übernehme und an jedem Stück verdiente. Hedwig zeigte ihr also die Gesuche im Blatt, und sie, die kundige Großstädterin, wies ihr darunter die Exportfirmen, die das ganze Jahr Stickereien für In- und Ausland fertigen lassen. »Es bringt ja auch man wenig,« sagte Frau Strauß, »aber Sie arbeiten sich ein und haben dann Ihr Gewisses.«

Hedwig nahm dankbar den Rat an und suchte eines dieser Geschäfte auf. Wieder war der Weg ein sehr, sehr weiter und wieder verlangte man eine Kaution, aber diese betrug doch wenigstens nicht mehr, als das Arbeitslohn für den ersten Posten, den man ihr mitgab. Sie mußte nun freilich die im vorigen Monat verdienten drei Mark wieder dazu und außerdem den Kredit der Tante noch einmal in Anspruch nehmen, jedoch lag es jetzt eher in ihrer Hand, alles schnell zu ersetzen und noch etwas zur Wirtschaft beizutragen.

Und so begann sie mit Eifer ihre Arbeit und zog unermüdlich die Nadel aus und ein, vom frühen Morgen bis in die Nacht. So schaffte sie fast ohne Unterbrechung – kaum für die Mahlzeiten gönnte sie sich eine kleine Pause, kaum den nötigen Schlaf, – bis ihr Gesicht immer bleicher, ihr Auge immer matter wurde. Vergebens versuchten Frau Lindheim und Constanze ihren Fleiß zu mäßigen. »Laßt mich nur,« sagte sie, emsig weiter stichelnd, »ich muß vor allen Dingen diesen Posten fertig machen, um endlich für neue Rechnung zu arbeiten, endlich sagen zu können, daß ich etwas verdient habe. Bis jetzt sind noch immer alte Schulden abzutragen, keinen Pfennig konnte ich der gemeinschaftlichen Kasse geben, nur nehmen, – seht Ihr nicht ein, daß mich das drückt?«

In diesen Tagen kam außer einem freundschaftlichen, herzlichen Briefe von Frau von Rechnitz und Anna, die die früheren Beziehungen durch eifrigen Briefwechsel aufrecht erhielten, auch einer aus Sumatra.

Max schrieb wieder sehr hoffnungsvoll und freudig über seine sich fort und fort verbessernde Stellung, über das wachsende Vertrauen, das er genoß, gleichzeitig aber über eine bevorstehende Reise Adalberts, die ihn, Max, veranlaßte, gleich zwei der gewöhnlichen Geldsendungen auf einmal zu schicken, – weil Adalbert, der sonst als Absender aufgeführt werden mußte, zur Zeit der nächsten Sendung voraussichtlich nicht da sein würde. Max äußerte sich über diese Reise in seltsam unbestimmter Weise, und ebenso auch Adalbert. Ohne etwas über ihren Zweck oder ihr Ziel zu verraten, schrieb er seiner Braut nur, daß er die Reise schon lange geplant habe, aber erst jetzt, wo Lindheim ihn so vorzüglich in allen Stücken vertreten könnte, dazu gekommen sei, seinen Vorsatz auszuführen. Constanze möge bis auf weiteres keinen Brief von ihm erwarten, noch einen an ihn richten.

Wie ein Nachtfrost die Frühlingsblüten, so traf dieser Brief das Herz der armen Constanze erkältend, niederschlagend. Was konnte dieses Schreiben bedeuten? Adalbert, der die Briefe seiner Braut stets für seine liebste Freude und Erquickung erklärt hatte, er verzichtete jetzt freiwillig darauf, ja er machte durch das Verschweigen seines Reiseziels jeden brieflichen Verkehr unmöglich. Warum das? Was war geschehen? War sie ihm plötzlich gleichgiltig geworden?

Sie konnte bei allem Grübeln das Geheimnis nicht durchdringen, aber das wußte sie: etwas ging vor, das man ihr verschwieg, – sie hatte also sein Vertrauen verloren. Und nun war es auch vorbei mit ihrer Kraft, mit der inneren Heiterkeit und Zuversicht, die sie in ihrem mühevollen Leben noch stets aufrecht gehalten; der einzige Sonnenblick, der ihr dies Leben verklärte, die liebevollen, hoffnungsfreudigen Worte ihres Adalbert, sie mußte ihn auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer entbehren, und nun hatte sie nichts, worauf sie sich freuen konnte, alles war öde und traurig um sie her. Dabei konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß dieses Leid ihr vom Himmel geschickt sei als Strafe für ihren Ungehorsam gegen die Eltern. Dies durch Schuld erkaufte Liebesglück wurde ihr wieder genommen, sie erkannte das als gerechte Vergeltung und erwog in schlaflosen Nächten ernstlich den Gedanken, zu den Eltern heim zu reisen und ihnen reumütig ihren Entschluß mitzuteilen, jetzt noch und zwar für immer ins Kloster zu gehen.

Während Constanze so ihrem Gram nachhing, war Hedwig unermüdlich thätig und hatte durch einen Fleiß, der thatsächlich über ihre Kräfte ging, doch die Genugthuung erworben, ein kleines Sümmchen allmonatlich zum Haushalt beizutragen. Der Winter war darüber vergangen und an den Sträuchern und Bäumen des Tiergartens, an dem sie vorüberging, wenn sie ihre Arbeit ablieferte und neue holte, sproßte es grün hervor. Diese Wege begannen jetzt ihre Freude und Erholung zu bilden; mit einigem Wohlgefallen atmete das bleiche Mädchen die balsamische Frühlingsluft und lauschte den hellen Stimmen der Kinder, die bereits die Gänge und Rondels des Parks zu bevölkern anfingen.

Es war ein wundervoller, sonniger Frühlingstag, so einer, an dem die Mühseligsten und Beladensten den Glauben an eine bessere Zukunft wiederfinden, als Hedwig auf dem Rückwege vom Arbeitgeber wieder am grünenden Park entlang ging. Ein unwiderstehliches Verlangen wandelte sie an, da drinnen ein wenig auf einer Bank zu rasten. Sie war so müde, das Packet so schwer, – wenn sie sich ein Viertelstündchen gönnte, ein einziges Viertelstündchen, dann würde ihr die Arbeit nachher um so besser von statten gehen. Ja, sie wollte sich die Extravaganz erlauben.

Sie mußte ziemlich tief hineingehen, ehe sie eine leere Bank fand, denn schon waren die vorderen mit Kinderwärterinnen dicht besetzt. Aber das gefundene Plätzchen war schön, sehr schön und einsam, man hörte nur aus den Nachbarrondels die Stimmen der spielenden Kinder, sonst drang das Treiben der Menschen nicht bis hierher.

Es ließ sich schön träumen in dem lauschigen Versteck, umspielt von den Frühlingslüften. Sie dachte an die Tage in O., an ihre sonnige, wohlbehütete Kindheit, an die traurigen Wechselfälle ihres Lebens. Noch war sie jung, sehr jung und hätte ein Recht an Freude und Genuß gehabt, aber Gegenwart und Zukunft lagen grau in grau vor ihr. Immer dasselbe, Faden aus, Faden ein, bis das Auge sich trübte und die Hand erlahmte. Immer dasselbe, Stunde auf Stunde; ihr einziges Ziel, einige Groschen zu den nötigsten Anschaffungen zurückzulegen, ihre einzige Abwechselung und Erholung der Weg hierher. Und wie lange noch das alles? Wenn Constanze ihrem Verlobten, Frau Lindheim aufs neue ihrem Sohne folgte, – sie wußte, daß Mutter und Sohn sich nach Wiedervereinigung sehnten, – dann war sie wieder allein auf der weiten Welt. Sie zog das Medaillon hervor und betrachtete bewegt die Bilder der Eltern. Warum, warum hatten sie ihr Kind nicht mit sich genommen? Aber jetzt fiel ihr das Blättchen entgegen und sie meinte Helmstädts klangvolle Stimme zu hören: »Warum, fragst Du? Weil Deine Aufgabe auf Erden noch nicht gelöst ist. Ihr seid Gottes Ackerwerk; und wenn es dem Höchsten gefiel, Dir jetzt nach dem steinigen Boden einen dürren, sandigen zuzuweisen, so mußt Du auch ihn bestellen, freudig, willig, im Dienst eines höheren Willens. Auch glaube nicht, daß Du allein und freundlos bist. Mein Bild umschwebt Dich überall, mein Geist ist bei Dir, wenn ich auch ferne bin, ratend, tröstend, stützend.«

Ja, so war es, so sollte es sein. Ohne Klage wollte sie ihr Los, das ja jetzt nur freudenarm und mühselig, nicht hart und grausam mehr war, aus Gottes Hand nehmen und tragen, so lange es ihm gefiel. Auf ein Wiedersehen des Geliebten hoffte sie nicht mehr; sie hatte sich in den Gedanken gefunden, nur im Geist und in der Erinnerung mit ihm zu verkehren, ein weiteres erwartete dies junge Wesen nicht mehr vom Leben.

Sie steckte das Medaillon fort und griff, nicht ohne einen bedauernden Seufzer, nach ihrem Packet, um den Heimweg anzutreten, als sie plötzlich erschrocken zusammenfuhr. Ein großer Gummiball hatte ihren Hutrand getroffen, war von diesem abgeprallt und hüpfte jetzt in lustigen Sprüngen über den kleinen freien Platz. »Hat er Dir weh gethan?« fragte in diesem Augenblicke eine silberhelle Kinderstimme dicht bei ihr und ein paar große graue, von dunkeln Wimpern beschattete Augen blickten mit dem Ausdruck ernster Besorgnis zu ihr auf. Diese Augen, mahnten sie sie nicht an den Mann, der eben noch ihre Gedanken beschäftigt? Thorheit! Eben weil sie an ihn gedacht, erinnerte sie alles an ihn, auch das kleine, kaum fünfjährige Mädchen, das da vor ihr stand. Und doch – die Augen glichen den seinigen, und mit diesem Blick ernster Frage hatte er sie beim Abschied angeschaut. »Hat er Dir weh gethan?« fragte das Kind noch einmal und legte wie abbittend das Ärmchen um Hedwigs Nacken; »sei nicht böse, es thut mir so sehr leid!«

»Nicht doch, Du liebes, kleines Mädchen,« sagte Hedwig, »der Ball hat mir gar nichts gethan, und böse wäre ich Dir auch dann nicht, wenn er mich getroffen hätte. Wie heißest Du denn?« »Hedwig,« sagte die Kleine. »Ei sieh!« rief Hedwig überrascht, »so heiße ich ja auch; aber Du hast noch einen anderen Namen, weißt Du den auch?« »O ja, von Sarneck hieß mein Papa und ich heiße ebenso; aber mein Papa ist schon lange im Himmel und meine Mama auch.« »Armes Kind,« sagte Hedwig und streichelte die Kleine, die sich zutraulich zu ihr gesetzt hatte. »Jetzt habe ich aber einen anderen Papa,« fuhr diese nach Kinderweise triumphierend fort, »der ist auch mein Onkel und mein Taufpate, alles zusammen, und gut ist er, so gut!« – »Bist Du allein hier?« fragte Hedwig. »O nein, meine Bonne ist hier, aber die bleibt immer auf der Bank bei den anderen und zu mir sagt sie nur: ›Geh, spiele jetzt!‹ Da kann ich laufen, wohin ich will, sie sieht es nicht; ich bleibe aber immer in der Nähe, denn wenn ich mich verlaufe, hat mein Papa Angst.« – »Du bist ein liebes, verständiges Herzchen,« sagte Hedwig aufstehend. »Aber ich muß nun leider fort, – lebwohl, meine Kleine!« – »O Du willst schon gehen!« klagte das Kind ganz bestürzt, »und willst gar nicht mehr wiederkommen?« »Doch wohl,« sagte Hedwig; »mein Weg geht hier sehr oft vorbei, und wenn es gutes Wetter ist, so daß ich denken kann, ich treffe Dich wieder hier – –.« »Aber gewiß!« jubelte die Kleine, vor Freude in die Hände klatschend, »ich werde immer hier sein, alle Tage, die Bonne geht auch am liebsten hierher. Wie ich mich freue! Du bist so schön und so gut! Du hast mich gestreichelt, – meine Mama that es auch, aber seit sie im Himmel ist, thut es niemand mehr, auch Papa nicht. Ich werde meine Reifen mitbringen und die große Puppe, dann spielen wir. Aber Du kommst doch?«

»Ich komme,« sagte Hedwig, das Kind zärtlich an ihr Herz drückend, »und ich bleibe bei Dir, so lange ich kann. Nun ein Küßchen, Du herzige Kleine, – und jetzt auf Wiedersehen!«

Als wäre ihr plötzlich ein großes, wunderbares Glück geschehen, so von innerer Freudigkeit getragen, so leicht und elastisch schritt Hedwig mit dem mächtigen Packet durch die Laubgänge des Parks, über Straßen und Plätze der kleinen Heimstätte an der Ostbahn zu.


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