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4. Kapitel

Mehrere Wochen waren verflossen, in denen die drei Mädchen sich fast täglich gesehen hatten. Die Antwort aus Courtrai war gekommen und hatte die schlimmsten Voraussetzungen Constanzes bestätigt. Der Vater war außer sich, erklärte die Tochter für unwiderruflich verstoßen, wenn sie ihm in dieser Weise den Gehorsam verweigere, nannte den bloßen Gedanken an eine solche Auflehnung gegen die Familiensatzung einen himmelschreienden Frevel und teilte Constanze mit, daß er, um nötigenfalls den Gehorsam zu erzwingen, gleichzeitig einen Brief an die Oberin gerichtet habe, in welchem er auf den rebellischen Geist der Novize aufmerksam gemacht und verschärfte Aufsicht und Strenge anempfohlen habe. Etwas milder war der Brief der Mutter. Er atmete weniger Zorn als Betrübnis; in rührenden Worten beschwor sie ihr Kind, doch nicht unabsehbares Herzeleid über die Familie, nicht ewige Verdammnis über sich selbst zu bringen, sich nicht für immer den Weg zum Vaterherzen zu verschließen; der Vater sei unversöhnlich, er habe in einer Weise gesprochen, daß Constanze, wenn sie nicht gehorsam wäre, nie mehr vor sein Angesicht treten, sich nie mehr seine Tochter nennen dürfte. Verstoßen, aus seinem Andenken verlöscht wäre sie dann, und auch sie, die Mutter, würde sie nie, nie wiedersehen.

Dieser Brief war es besonders, der Constanze viele Thränen und schlaflose Nächte gekostet hatte. Ihr kindliches Herz litt namenlos unter der Vorstellung, einer so guten Mutter Kummer zu bereiten, – aber trotz allem und allem hatte sich der Entschluß, dem ihr zugedachten Lose zu entfliehen, mit jedem Tage mehr in ihr befestigt. Immer deutlicher erkannte sie, daß das Klosterleben ihrem innersten Wesen widerstrebte, daß ein Verharren darin ein zu schwerwiegendes, zu weitgehendes Opfer wäre, um selbst durch Kindesliebe und Kindespflicht gerechtfertigt zu werden, und wenn sie je wieder schwankend und zaghaft wurde, so erinnerte sie sich der Worte ihres Reisegefährten: »Es ist Ihre Pflicht, den Eltern den ewigen Vorwurf zu ersparen,« und schöpfte daraus Mut und Kraft zum festen Entschlusse.

Für Hedwig war der Verkehr mit Constanze sehr bedeutungsvoll geworden. Die junge Novize, die als Bewohnerin des Klosters beständig die Prosa des häuslichen Lebens, wie es sich in diesen Räumen abspann, beobachten konnte und alles mit hellem, nüchternem Blick, ohne phantastischen Wahn so sah, wie es eben war, nahm mit ihren ungeschminkten Berichten der Schwärmerin eine Illusion nach der andern. Wie schon die eignen Worte ihr den Wert der Klosterherrlichkeiten zweifelhaft gemacht hatten, so begann sie diese vollends mit andern Augen anzusehen, als sie durch Constanze die Einzelheiten kennen lernte. In dem poetischen Garten gab es eine größere Abteilung, in der die guten Nonnen Obst und Gemüse zogen und die nach Constanzes Versicherung sie alle weit mehr interessierte, als die mit Blumen, Busch- und Baumwerk bestandene. Auch der Weihrauchduft sollte an Vormittagen oft ganz auffallend mit dem Geruche von Kohl, Rüben oder einem andern Tagesgericht vermischt sein, endlich erfuhr Hedwig zu ihrem Erstaunen, daß auch das Leben der Nonnen gar nicht so beschaulich war, wie sie gedacht, und daß die frommen Schwestern ganz anderes zu thun hatten, als in Poesie, Musik und holden Träumereien zu schwelgen. Die jüngeren mußten sogar – entsetzlicher Gedanke – wie gewöhnliche Mägde scheuern, kochen, waschen und plätten, und manche scharfe Rüge fiel von den frommen Lippen der aufsichtführenden Schwester, wenn die weißen Schleiertücher nicht richtig gestärkt und geblaut waren. Alles, alles ging so gewöhnlich zu, so alltäglich, Hedwig sah es jetzt selbst, da sie genauer acht gab, und glücklich, daß sie von dem Wahn gesundet war, ehe sie ihm Unwiederbringliches geopfert, wendete sie ihre Teilnahme jetzt voll und ganz der Wirklichkeit, namentlich aber der Sache der neuen Freundin zu.

Diese war übrigens nicht die einzige, die sie sich erworben, – auch Anna von Rechnitz empfand eine herzliche Zuneigung zu dem von ihr so verschiedenen Mädchen. Das gemeinsame Interesse für Constanze, die Stunden, die sie beide bei dieser zubrachten, der zusammen zurückgelegte Weg, wenn sie aus dem Kloster nach Hause gingen, das alles bildete ein festes Band zwischen ihnen, und da ihre Naturen sich gegenseitig aufs glücklichste ergänzten, wurde die Bekanntschaft zur Freundschaft, die eine lebenslange Dauer verhieß.

Es war an einem schönen Nachmittage des Juni, als Hedwig zum ersten Male, nach vorher eingeholter Erlaubnis der Mutter, Anna nach der Stunde in ihre Wohnung begleitete. Frau von Rechnitz hatte den Wunsch geäußert, die kleine Freundin ihrer Tochter und Verbündete beim Fluchtplan kennen zu lernen, und Hedwig freute sich innig, die Familie ihrer schwärmerisch geliebten Anna zu sehen, besonders den Bruder, der auf Constanzes Leben einen so wichtigen Einfluß geübt hatte.

Die freiherrliche Familie wohnte keineswegs elegant. Durch das stattliche Vorderhaus ging es in den Hof und über denselben fort nach dem kleinen, bescheidenen Quergebäude, hinter dem sich ein Garten erstreckte, aber schon die peinliche Sauberkeit der schmalen Treppe, der Glanz der schön gearbeiteten Stahlplatte mit dem Namen, der an der Thür prangte, gaben der dürftigen Außenseite der Wohnung etwas Zierliches, Gefälliges. Auf Annas Klingeln öffnete ihre zehnjährige Schwester Editha, und es war bemerkenswert, mit welcher Anmut das Kind die Fremde willkommen hieß, ihr in dem kleinen Vorgemach ablegen half und dann sie und die Schwester ins Wohnzimmer vorangehen ließ.

Auch dieser Raum, den Hedwig jetzt betrat, war sehr einfach ausgestattet und fast jeder Gegenstand zeugte von langjähriger Benutzung; aber die ganze Anordnung hatte etwas unsagbar Vornehmes, Distinguiertes, wie die elegantesten Zimmer es oft nicht aufweisen. Jedes einzelne Stück war richtig aufgestellt, man sah, daß hier ein feiner Geschmack gewaltet, der mit bescheidenen Mitteln eine schöne Wirkung zu erzielen verstand.

Von dem Sophasitz erhob sich bei Hedwigs Eintritt eine ehrwürdige Dame, deren schon ergrauten Scheitel ein Blondenhäubchen zierte und streckte ihr mit einigen begrüßenden Worten die feine, aristokratisch geformte Hand entgegen. Ein unwiderstehliches Gefühl trieb Hedwig an, diese Hand an ihre Lippen zu führen, und das mütterlich gütige Lächeln, mit dem die Huldigung abgewehrt wurde, schien ihr ganz bezaubernd. So würde Anna einmal aussehen, meinte sie, diesen Anstand, dieses Edle in jedem Zuge und jeder Bewegung besaß sie jetzt schon. Hedwig hatte schon oft im Verkehr mit Anna das Gefühl gehabt, als mangele ihr selbst etwas; jetzt, in dieser Umgebung und der alten Dame gegenüber erwachte es mit doppelter Stärke. Sie wurde sich bewußt, daß ihr reges Innenleben sie verhindert hatte, die äußeren Umgangsformen, das Gewandte und doch Maßvolle in Benehmen und Haltung, das diese Menschen, selbst die kleine Editha, zierte, sich zu eigen zu machen, und sie beschloß, in dieser Hinsicht mehr auf sich und andere zu achten. Den Eltern war sie immer recht gewesen, Schwester Sophie auch, – und ihre Lehrer, Helmstädt vor allen, mochten bei dem so jungen Mädchen den Mangel übersehen haben; aber nichtsdestoweniger war er vorhanden und sie empfand ihn mit Beschämung, obgleich die Baronin und ihre Töchter sie mit der achtungsvollsten, wohlthuendsten Herzlichkeit behandelten. Als man an dem zierlich gedeckten Kaffeetisch Platz nahm, trat Adalbert ein und wurde, nachdem er Hedwig mit ritterlicher Verbeugung begrüßt, dieser vorgestellt.

Es war ganz natürlich, daß das Gespräch sich auf Constanze lenkte.

»Es ist sonst gegen meine Art,« sagte die Baronin, »zwischen Kind und Eltern zu treten, sei es mit der geringsten Beteiligung am Komplott, aber dieser Fall scheint mir doch eine Ausnahme von der Regel. Wenn wir unthätig zusehen, wie jemand in Lebensgefahr umkommt, wiewohl es in unserer Macht läge, ihn zu retten, so ist das eine Unterlassungssünde, die an Strafbarkeit jeder Thatsünde gleichkommt; nun ist hier ein junges Mädchen von Schlimmerem als dem Tode bedroht und wir wissen darum und können ihr vielleicht helfen, – müssen wir da nicht alle Rücksichten aus den Augen setzen und das Verderben zu verhindern suchen? Wäre das junge Mädchen mit vollem Verständnis und Bewußtsein dessen, was ihr bevorstand, ins Kloster gegangen, wäre der Schritt ein freiwilliger, überlegter, so dürfte man sie ihrem Schicksal überlassen; aber die Erkenntnis ist ihr erst jetzt geworden, wo der Kerker sich für immer hinter ihr schließen soll; sollen, können wir dulden, daß man sie, die ahnungslos hierhergekommen, in Verhältnisse schmiedet, die sie als ihr Unglück erkannt? Es wäre das ebenso, als wenn wir ruhig zusähen, wie an einem Wehrlosen eine Gewaltthat ausgeübt wird.«

»Wie meine liebste Mama mir aus der Seele spricht!« sagte Adalbert, der Mutter dankbar die Hand küssend. »Das Mädchen befindet sich entschieden im Zustand der Notwehr, sie muß zur Selbsthilfe greifen und jeder Gerechte sie darin unterstützen, denn wenn die verblendeten Eltern ihren Irrtum erst einsehen, – früher oder später muß es ja dazu kommen, dann dürfte es zu spät sein, ihn rückgängig zu machen, dann ist die arme Constanze bereits ihrem Eigensinn zum Opfer gefallen.«

»Dieses ›Zu spät‹ eben muß verhindert werden, auch um der Eltern willen,« sagte die Freifrau; »mag das Kind doch später, wenn es in der Lage ist, sich ein Urteil zu bilden und über sich selbst zu bestimmen, immer noch ins Kloster gehen, sobald es zu der Einsicht gekommen, daß dies der Weg zu seinem Glücke, – aber nicht jetzt, nicht jetzt, so einzig dem Zwange nachgebend.«

»Ich glaube kaum,« sagte Adalbert lächelnd, »daß sie bei freier Entschließung je eine solche Wahl treffen wird. Aber gleichviel, wir sind darüber einig, daß ihr geholfen werden muß, – nun ist es auch die höchste Zeit, das ›Wie‹ zu besprechen, sonst haben wir uns am Ende ein ›Zu spät‹ vorzuwerfen.« – »Sehr wahr,« bemerkte Anna; »Constanze hat durch Zufall erfahren, daß neuerdings ein Brief vom Vater angekommen ist, in welchem dieser bestimmt, den Termin der Einkleidung möglichst zu beschleunigen. Er vermute, daß seine Tochter auf der Reise zu den rebellischen Gedanken gekommen sei und wünsche die Einflüsse, die da thätig gewesen, ein für allemal wirkungslos zu machen. Constanze hat es uns beiden, Hedwig und mir, unter Thränen erzählt; sie weiß den Tag der Festlichkeit nicht, aber aus verschiedenen Zeichen schließt sie, daß schon Vorbereitungen getroffen werden – –« – »Und Schwester Sophie hat mir gestern Andeutungen über eine bevorstehende Feier gemacht und versprochen, ich solle dieselbe vom Kirchenchor aus mit ansehen,« fügte Hedwig bei, »eine Feier, die mich ganz besonders interessieren werde. Sie glaubt nämlich – –« Hedwig brach errötend ab; sie wollte von ihrer thörichten Klosterschwärmerei und noch thörichteren Absicht, die Schwester Sophie als noch vorhanden vorausgesetzt, nicht reden.

»Dann muß ohne Aufschub gehandelt werden,« rief Adalbert. »Je näher der Termin rückt, desto sorgfältiger wird man sie überwachen, auch ist meine Zeit bald um, und ihr dürftet doch meiner bei Ausführung des Fluchtplanes bedürfen. Sie muß in den nächsten drei Tagen die Mauern des Klosters hinter sich haben –« – »Aber wohin bringen wir sie?« fragte die Baronin. »In dem Augenblicke, wo wir unsre Hand zu einer so eigenmächtigen Umgestaltung ihres Schicksals bieten, übernehmen wir für dasselbe die Verantwortung und sind verpflichtet, für ihr Fortkommen zu sorgen. Bei uns kann sie nicht bleiben, – überhaupt nicht in dieser Stadt –«

»Sollte es nicht Pensionate geben,« wendete Hedwig schüchtern ein, »in denen ein solches Mädchen Aufnahme fände?« – »O gewiß,« antwortete die Baronin, »aber jede Vorsteherin verlangt Ausweise über die Herkunft und Familie der Angemeldeten, wir könnten ihre Aufnahme also nur durch falsche Angaben erreichen, – und zu diesen, liebes Fräulein, würde ich mich nie verstehen. So geht es also nicht, wir müssen etwas Andres erdenken.«

In diesem Augenblick ertönte draußen die Klingel. Die kleine Editha, der das Pförtneramt übertragen schien, sprang auf und eilte hinaus, um bald darauf mit einer würdig aussehenden alten Dame zurückzukehren. Alle erhoben sich von ihren Sitzen, die Baronin ging der Angekommenen mit einem Freudenausruf entgegen und umarmte sie herzlich. »Meine einzige, liebe Jugendfreundin, Frau Lindheim,« sagte sie, zu Hedwig gewendet, nachdem sie diese vorgestellt. »Wahrlich, ein lieber Besuch; wir glaubten Dich längst, nach Deinen Äußerungen beim vorigen Hiersein schließend, in der Sommerfrische, sonst wäre Adalbert längst zu Dir gekommen.« –

»Adalbert, ist's denn möglich? Dieser stattliche Mensch mit dem gebräunten Gesicht – – aber ich muß wohl sagen: Herr Adalbert, mindestens!« Adalbert protestierte dringend gegen die Anrede und erbat sich die altgewohnte als eine Gunst. »Freilich, freilich,« sagte Frau Lindheim, »wir kennen uns schon ziemlich lange. Als ganz kleiner Bursche waren Sie schon der Busenfreund meines Max, – mein seliger Mann pflegte immer zu sagen, Sie müßten Moritz heißen, dann wäre das Seitenstück zu Max und Moritz fertig, – gerade so unzertrennlich wäre das Pärchen und so einig bei allen Streichen. Später wurden Sie Kadett und kamen nur in den Ferien nach Hause, und als Sie dann als Fähnrich zurückkamen, trat mein Max in ein Bankgeschäft; das ließ denn ein häufiges Beisammensein nicht mehr zu.« – »Aber ich habe den Freund, so sehr mich das Schicksal herumwarf, nie vergessen,« sagte Adalbert. »Bitte, erzählen Sie mir von ihm! Er hat sich in Berlin etabliert, – ist Inhaber eines Bank- und Börsengeschäfts, – wie geht es ihm?«

»Gottlob recht gut,« sagte Frau Lindheim heiter. »Alle seine Briefe sind zufrieden und hoffnungsvoll, er schreibt von sehr glücklichen Erfolgen, namentlich der letzte Brief – liebe Rechnitz, ich muß Dir nur sagen, daß er die Veranlassung meines heutigen Besuches ist. Ich komme nämlich, um Abschied zu nehmen.«

»Abschied, wie das?« rief die Baronin. »Ah, ich verstehe, Du willst ins Bad gehen oder eine Vergnügungsreise unternehmen, vielleicht gar mit Deinem Sohne irgendwo zusammentreffen?«

»Stimmt nicht ganz,« sagte die alte Dame lächelnd, »zu meinem Max will ich allerdings, aber nicht zu kurzem Zusammensein, sondern um für immer bei ihm zu bleiben. Höre, wie das so gekommen ist. Schon einigemale schrieb er mir, wie gut sein Geschäft ginge, wie er Unternehmungen an der Hand hätte, die ihn nach menschlicher Berechnung binnen kurzem zum reichen Manne machen müßten, wie reizend und traulich er sich eingerichtet hätte und wie ihm jetzt nichts zum Glücke fehlte, als sein liebes Mütterchen. Jetzt im letzten Briefe tritt er nun direkt mit seiner Bitte hervor; er beschwört mich, zu ihm zu kommen, klagt, wie einsam er sich trotz allen Komforts in der schönen Wohnung fühle und meint, selbst wenn die Trennung von N. mir sehr schwer fiele, traue er meiner Mutterliebe zu, daß ich ihm das Opfer bringe, bei ihm zu leben. Nun sage, liebe Aurelie, hat er nicht recht? Was hindert mich, seinem Rufe zu folgen? Du und Deine Mädchen, Ihr werdet mir fehlen; aber ich besitze doch nur diesen Sohn, soll ich nicht froh sein, mit ihm zusammenleben zu können?«

Während alle der alten Dame beipflichteten und zu den Erfolgen des Sohnes, wie zu dem bevorstehenden Wechsel des Wohnortes Glück wünschten, dachte Hedwig nach, wo sie den Namen Lindheim schon gehört hatte. Endlich fiel ihr ein, daß ihr Vater denselben genannt. Mit einem Zirkular in der Hand war er vor einiger Zeit zur Mutter gekommen und hatte dieser dasselbe mit den Worten gezeigt: »Sieh da, ein junger Landsmann, der sich in Berlin als Bankier niedergelassen, Max Lindheim, schickt mir hier sein Geschäftszirkular und erbietet sich, etwa disponible Gelder sehr vorteilhaft anzulegen, resp. zu verwalten. Die Referenzen, die er aufgiebt, sind gut, sehr gut, mein Freund, der Justizrat Heinrich, ist auch dabei; – übrigens kenne ich die Familie Lindheim; der Vater war ein durch und durch ehrenhafter, vermögender Mann, die Mutter lebt hier als Witwe in ganz geordneten Verhältnissen – hm, die Sache ist gar nicht so schlecht; wenn ich je unsre kleinen Fonds arbeiten lasse, dann soll es bei dem jungen Lindheim sein.« In dieser Weise hatte der Vater sich geäußert, und es war dann weiter nicht von Lindheim die Rede gewesen. Hedwig erinnerte sich der Szene deutlich, und als sie zu diesem Resultat ihres Nachdenkens gelangt war, wendete sich ihre Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zu.

»Alles ist bereit,« sagte Frau Lindheim, »in drei Tagen reise ich ab, d. h. wenn es mir gelingt, bis dahin noch das eine zu besorgen, was ich unbedingt mitnehmen muß.« – »Und welches ist das so notwendige Requisit?« fragte die Baronin, »vielleicht kann man Dir dazu verhelfen?« – »Das glaube ich kaum,« sagte Frau Lindheim, »es sei denn, daß Du mir Annchen mitgiebst, die ja ohnedies, seit mein Max denken kann, der Gegenstand seiner schwärmerischen Verehrung und zahlloser Gedichte ist. Brauchst nicht so rot zu werden, Kind, ich hab's ganz zufällig herausbekommen, wie ich sein kleines Pult, das schadhaft geworden, zur Ausbesserung ausräumen mußte. Du wirst mir deshalb nicht den Gefallen thun, mitzukommen, das weiß ich schon, – obgleich Du den Max auch immer gern leiden mochtest. Das ›unentbehrliche Requisit‹, wie Deine Mama sagt, ist nämlich ein junges Mädchen, das mich nach Berlin begleiten und mir dort Stütze, Gesellschafterin, Tochter, mit einem Wort in jeder Weise zur Seite bleiben soll. Ich bin in letzter Zeit nicht immer so ganz taktfest und Max besteht auch darauf, daß ich nicht allein reise, – aber ich sehe schon, eine Person, wie ich sie gern möchte, wird schwer, sehr schwer oder gar nicht zu finden sein. Ich habe schon Schritte gethan und viele haben sich gemeldet, aber ich sage Dir, liebe Aurelie, mir graut bereits vor der Sorte. Die eine war so fein und selbstbewußt, daß sie nichts thun wollte, als beständig Rücksichten beanspruchen, die andere war wieder zu schmiegsam und biegsam, eine echte Dienstbotenseele, der die Falschheit aus jeder Miene guckt, eine dritte plump und unmanierlich, eine vierte verdächtig kokett in Anzug und Wesen, – kurzum, ich konnte mich noch zu keiner Wahl entschließen und stehe jetzt, so nahe vor der Abreise, noch auf dem alten Fleck.«

Die Blicke, die alle unter einander austauschten, zeigten, daß ihnen derselbe Gedanke bei den Mitteilungen der alten Dame gekommen war. »Und wenn wir Ihnen doch, auch ohne Annas Begleitung, aus der Verlegenheit helfen könnten,« rief Adalbert triumphierend, »wenn wir ein junges Mädchen wüßten, das weder anspruchsvoll noch charakterlos ist, weder plump noch kokett, sondern ein wunderliebliches, kindliches Wesen, das Ihnen gern eine Stütze und Tochter sein wird?« – »Ei, ei!« rief Frau Lindheim, mit dem Finger drohend, »wie enthusiastisch! Und solch ein Juwel hätten Sie für mich?« – »Allerdings,« bestätigte die Baronin. »Ich kenne die Kleine von einmaligem Sehen und aus den Schilderungen meiner Anna, – die Adalberts darf ich nicht rechnen, da ich sie nicht ganz für unbestochen halte –, und glaube, daß sie Deinen Wünschen vollständig entsprechen wird. Freilich ist sie Französin und spricht gar nicht deutsch, aber das wird Dich ja nicht stören, die Du noch als Frau Deine alte französische Gouvernante im Hause hattest. Bedenklicher sind Dir vielleicht die eigentümlichen Verhältnisse des Mädchens. Laß Dir dieselben kurz erzählen, soweit ich sie selbst kenne.«

Die Baronin berichtete, häufig von Adalbert und Anna unterstützt, die ihre Mitteilungen in eigner Weise ergänzten. Frau Lindheim stutzte zuerst; der Gedanke, zu einem so gewaltsamen Schritte, zu der Widersetzlichkeit eines Kindes gegen die Eltern die Hand zu bieten, widerstrebte ihr, die ganze Entführungsgeschichte erschien ihr so abenteuerlich, der Eingriff in das Schicksal einer Fremden so gewagt und eigenmächtig, daß sie ihre sonst so taktvolle und überlegte Freundin gar nicht begriff. Als aber alle die Sache eingehend erklärten und in der richtigen Beleuchtung darstellten, als man ihr klar machte, daß es sich um die Verhütung eines unwiderruflichen Gewaltaktes handelte, wurde sie doch allmählich für den Plan gewonnen und teilte die Hoffnung der andern, daß es früher oder später gelingen werde, die Eltern zu versöhnen. »Wenn sie frei bleibt,« sagte sie, »kann noch alles gut werden, darin habt Ihr ja recht. So sorgt denn, daß sie aus dem unseligen Kreuzherrnstifte entwischt und am Donnerstag Abend zur Stunde der Abreise oder möglichst schon früher bei mir eintrifft, um mich als mein Faktotum, – wenn's uns beiden bei näherer Bekanntschaft so paßt, als mein Töchterchen zu begleiten.«

»Herrlich, herrlich!« jubelten die Geschwister und Hedwig. Auch die Baronin sprach ihre Genugthuung aus, den jungen Schützling, für dessen Wohl und Wehe sie nun einmal mit die Verantwortung übernommen hatte, so vortrefflich versorgt zu wissen, und sie dankte der Freundin im voraus mit herzlichen Worten. Während die alten Damen noch plaudernd auf dem Sopha blieben, zogen sich die Mädchen mit Adalbert in die Nähe des Pianos zurück, um zunächst den Fluchtplan zu besprechen. Hedwigs Freiheit, zu jeder Zeit im Kloster ein- und auszugehen, kam dabei besonders in Betracht und machte, daß ihr eine Hauptrolle überwiesen wurde; Adalbert übernahm die Aufgabe, den Flüchtling sogleich in Empfang zu nehmen und zu Frau Lindheim zu bringen. »Ich habe ihr versprochen,« sagte er, »vor meiner Abreise noch ein Wiedersehen zu ermöglichen, und ich werde mein Wort halten. Den ersten Anlaß zu dem ernsten und bedeutungsvollen Schritte, den sie unternimmt, habe ich gegeben, auf mich fällt der größte Teil der Verantwortung, und so ist es billig, daß ich sie in das neue Leben geleite, ihr Worte des Trostes und der Beruhigung mitgebe und sie meines – wollte sagen: unsres dauernden Schutzes versichere.«

Erst als alles bis in die kleinsten Einzelheiten besprochen war, ließ man das Thema fallen. Es wurde nun musiziert; Adalbert hatte eine herrliche Baritonstimme, Anna begleitete ihn auf dem Piano, dann sangen alle vier einige Lieder, endlich ließ Hedwig sich erbitten, allein zu spielen. Ehe die jugendliche Gesellschaft es dachte, war der Abend hereingebrochen. Hedwig wollte sich, als die brennende Lampe ins Zimmer gebracht wurde, verabschieden, doch weder die Baronin noch deren Kinder wollten davon hören. Mit freundlicher Überredung nötigte man sie zum Bleiben, und während Adalbert sie, nicht ohne Absicht, am Fensterplatz in ein längeres Gespräch verflocht, verschwanden Anna und Editha lautlos und unbemerkt aus dem Zimmer. Als sie sich nach einiger Zeit Hedwig wieder zugesellten, geschah es, um sie zu Tische abzuholen; die beiden Schwestern hatten, während Hedwig, vom übrigen Teil des Zimmers abgewendet, mit Adalbert geplaudert hatte, schnell und geräuschlos den Tisch gedeckt und mit verlockender Zierlichkeit die kalte Abendmahlzeit arrangiert.

Es war spät am Abend, als man sich trennte. Adalbert begleitete erst Frau Lindheim, dann Hedwig nach Hause, und der kurze Weg wurde von den beiden jungen Leuten benützt, die Einzelheiten des Fluchtplanes noch einmal endgiltig festzustellen.


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