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Geheimrat Wöllner war leidender als je. Ohne über einen bestimmten Krankheitszustand zu klagen, fühlte er sich doch in so hohem Grade erschöpft und nervös reizbar, daß eine Unterbrechung der gewohnten Lebensweise, eine Luftveränderung und Erholung dringend geboten erschien. Der Sommer war schon ziemlich weit vorgeschritten, doch konnte man noch immer auf eine Anzahl schöner Wochen hoffen, und so entschloß sich der Geheimrat endlich, mit Gattin und Tochter eine Sommerfrische aufzusuchen. Nach dem Ausspruche des Arztes war keine Badekur notwendig; die Hauptbedingungen zur Hebung der gesunkenen Kräfte: Gute Luft, freundliche Umgebung, Ruhe, konnte jeder hübsch gelegene ländliche Aufenthalt erfüllen, man wählte also das damals noch nicht zum modernen Luftkurort erhobene Dorf O. in der Nähe der Provinzialhauptstadt.
Die Erwartungen, welche die Familie nach den Schilderungen eines heimischen Dichters, der dort sein Tuskulum gegründet, von dem Orte gehegt, wurden aufs reizendste bestätigt. Da fehlte nichts, was eine Landschaft abwechselnd, lieblich, anmutig macht; da gab es buschige, mit wilden Rosen und Heidekraut bewachsene Hügel, einen noch jungfräulichen Wald mit hochragenden Tannen und Laubbäumen, in dem man auf weichem, schwellendem Moose wie auf einem Teppich ging, da gab es Rieseneichen und »sandige Kiefergepüschel«, und drunten im Grunde einen geheimnisvollen, unsichtbaren Bach, der unter überhängenden, verschlungenen Baumwurzeln dahinrollte und nur durch sein Murmeln sein Dasein verriet. Und alles so ursprünglich, so ganz naturwüchsig, noch unentweiht von dem profanen Treiben der sogenannten »frequentierten« Kurorte. Nein, O. war glücklicherweise noch gar nicht frequentiert; in dem Gast- und Kurhause, in dem die Familie Wöllner Wohnung gefunden, hauste noch ein pensionierter Oberstleutnant, im Badehause eine verwitwete Frau Doktor aus G., die jedes Jahr hierherkam, aber wegen ihrer scharfen Zunge gemieden wurde, im Dorfe ein altes adeliges Ehepaar mit einem erwachsenen, unheilbar magenkranken Sohne und hier und da in den Bauernhäusern eine kinderreiche Familie, die die Billigkeit und Ungeniertheit des Ortes angezogen hatte. Das war so ziemlich alles und unsern Freunden mehr als genug.
»Das Schönste hier ist, daß einem gewissermaßen alles gehört«, sagte der Geheimrat, als er sich in den ersten Tagen des Aufenthaltes mit wahrer Wonne dem friedlichen, wohlthuenden Eindruck dieser Umgebung hingab. »Man fühlt sich so allein, so ungestört, niemand macht einem das Terrain streitig. Keine Horden von Naturschwärmern, keine Landpartieen mit Leierkasten und Eßkobern, keine Garnituren von Hängematten an den Bäumen, keine Musik, noch Lärm und Staub, – wie auf einer weltabgeschiedenen Insel der Glückseligkeit kommt man sich vor, – mit einem Wort, es ist himmlisch!«
Der gute Geheimrat sollte seine Insel der Glückseligkeit noch von einer andern Seite kennen lernen. Am ersten Sonntagmorgen war es, als die Familie durch gellende Töne aus dem Schlafe geweckt wurde. Himmel! was war das? Blasinstrumente, und in nächster Nähe, ein wahrhaft ohrenzerreißendes Geschmetter. Mit einem Satz war der Rat aus dem Bett; notdürftig angekleidet eilte er ans Fenster, um sich den Höllenspuk zu besehen, fuhr aber ganz erschrocken zurück. Was war aus dem stillen, vornehmen O. geworden! Auf dem großen Rasenplatze unten wimmelte es von Menschen, die eigens herausgekommen schienen, um hier in Gottes freier Natur einmal so recht nach Herzenslust zu schreien, zu jauchzen, ganz plan- und sinnlos umherzutoben. Die ganze Gesellschaft, die Kinder mit eingeschlossen, war wie berauscht, einzelne mochten es wohl auch thatsächlich sein; und an den Seiten des Platzes, da wo er an den schönen Park grenzte, standen, wie aus der Erde gewachsen, eine Menge Würfelbuden, so daß das Klappern der Würfel und das Geschrei der Ausrufer den Lärm noch übertönte.
An Schlafen war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Die Familie kleidete sich rasch an und Wöllner zog die Klingel, um einen dienstbaren Geist zur Besorgung des Frühstücks herbeizurufen. Das Stubenmädchen erschien. »Was hat der Lärm und das Getreibe da unten zu bedeuten?« fragte der Rat, vor Aufregung zitternd. – »Gnädiger Herr, 's ist halt Sonntag.« – »Wie, was, soll das jeden Sonntag –« – »Ja, natürlich, – am Sonntag ist immer viel Leben hier; da kommen sie aus B. und aus L. und überallher, und da sind sie halt lustig. Aber ich muß fort, es giebt viel zu thun heut.«
In stummer Verzweiflung nahm der Rat sein Frühstück ein, bei jedem Kreischtone der Musik, die unten auf der niederen, an der Vorderseite des Hauses befindlichen Galerie spielte, schmerzhaft zusammenzuckend. Was war da zu thun? Dem Gewimmel der Menschen konnte man nicht entfliehen, denn da war selbst im Walde sicher kein Plätzchen verschont; so beschloß man, wenigstens der Musik einigermaßen aus dem Wege zu gehen, indem man sich aus der Nähe des Hauses begab. Mit einiger Mühe fand die Familie noch einen Tisch in dem seitwärts gelegenen Park, aber die Miene des Vaters verriet sehr deutlich, daß ihm nichts weniger als behaglich zu Mute war, und auch die Damen zeigten sich von dem wilden, lauten Treiben um sie her nicht sehr erbaut.
»Ganz ergebener Diener, meine Herrschaften,« tönte plötzlich eine tiefe Stimme, und ein stattlicher, alter Herr trat mit militärischem Gruße an den Tisch. »Gebe mir die Ehre, mich als Nachbar vorzustellen; mein Name ist Normann, Oberstleutnant von Normann, wohne auf der andern Seite Ihrer Etage.« Der Rat erhob sich, erfreut über die Ableitung seines Unbehagens, und stellte sich und seine Damen vor, worauf er den alten Herrn freundlich bat, am Tische Platz zu nehmen. »Danke bestens,« erwiderte von Normann, »meine Absicht war heut nicht, bei Ihnen hier zu bleiben, sondern vielmehr, Sie mit mir zu nehmen. Ja, nicht wahr, das klingt merkwürdig? Aber es ist mein voller Ernst. Ich glaube nämlich nicht, daß Ihnen hier in dem nichtsnutzigen Trubel besonders wohl ist. So ein alter Haudegen wie ich kann doch einen Puff vertragen, aber mir wird's zu viel, – um wieviel mehr einem Leidenden und zart gewöhnten Damen. Da wollte ich denn die Herrschaften fragen, ob Sie mit mir nach meinem Sonntagsruheplätzchen kommen wollen?«
»Wie, haben Sie denn so etwas – wirklich ein stilles Plätzchen, wo man vor dem Lärm sicher ist?« fragte der Rat. – »Und was für ein hübsches, – ich sage Ihnen, Sie werden staunen!« – »Aber gewiß sehr weit entfernt,« warf die Rätin ein, »ich muß Ihnen bemerken, daß mein guter Mann weite Märsche nicht machen kann, weil er Herzklopfen bekommt.« – »Ganz unbesorgt, meine Gnädige,« beruhigte der alte Herr, »die Entfernung ist eine ganz geringe. Das heißt, wenn Sie an ein zweites Frühstück gewöhnt sind, kann es nicht schaden, wenn Sie sich damit versehen, denn vor Tische wollen wir doch nicht zurückkommen. Auch ein paar Feldstühle wären nicht vom Übel, – die dortige Sitzgelegenheit reicht nicht für so viele.«
Auf einen Wink der Rätin war Hedwig ins Haus geeilt und kehrte nach wenigen Minuten mit einem wohlgepackten Körbchen und zwei Feldstühlen zurück. »So, wenn's Ihnen recht ist, können wir ja jetzt gehen,« sagte der Oberstleutnant, der während Hedwigs Abwesenheit doch Platz genommen hatte, indem er aufstand und trotz Hedwigs Sträuben dieser die Stühle abnahm. »Bitte, vertrauen Sie sich nur unbesorgt meiner Führung an; ich bin ein alter Stammgast hier und weiß alle Wege und Stege, auch solche, die andere nicht wissen. Das Plätzchen z. B., an das ich Sie führe, ist von mir allein entdeckt und Sie sind die ersten, die ich an seinen Annehmlichkeiten teilnehmen lasse.«
»Sehr verbunden,« lachte der Rat, der schon in besserer Laune neben dem Oberstleutnant hinschritt. »Aber in aller Welt – wohin führen Sie uns denn da?« Auch die Rätin und Hedwig waren erstaunt, denn ihr Begleiter ging geraden Wegs hinter das Gasthaus, wo ein ziemlich großer, ganz wüster Platz sich ausbreitete. Es waren da weder Bäume noch Büsche, nur Ginster und sonstiges Unkraut wucherte und eine tiefe Schlucht in der Mitte des Platzes war ganz mit dichtem Brombeergestrüpp überwachsen. Einige Ziegen weideten auf dem hügeligen Boden, und der kleine Hirt sah den vorübergehenden Wanderern nach, augenscheinlich verwundert, daß sich auch hierher einmal Städter verirrten.
»Lassen Sie nur,« sagte der Führer zuversichtlich, »Sie werden bald sehen. Auf jeden Fall müssen Sie jetzt schon bemerken, daß es in die Einsamkeit geht.« – »Ja, wir sind schon mitten drin,« lachte der Rat, »aber entzückt bin ich noch nicht.« – »Wird schon kommen,« tröstete der alte Herr und schritt unverdrossen weiter, immer nach links haltend, bis sie an einem sandigen Wall ankamen, der, mäßig erhöht, den wüsten Platz abschloß. »Da müssen wir hinauf,« sagte der Oberstleutnant, »sehen Sie, es ist der Waldesrand, und mein ganzes Geheimnis besteht darin, daß ich Sie nicht über den gewöhnlichen Weg hineinführe, sondern hier von der Seite, wo es keinem Sterblichen bisher eingefallen ist, etwas zu suchen. So, kommen Sie, – o, es geht ja ganz gut, diese knorrigen Wurzeln sind wie Treppenstufen, – so, – so, – nun, da wären wir ja; und nun sagen Sie, ist es hier nicht schön?«
Es war in der That überraschend schön, eine Waldeinsamkeit, wie sie ursprünglicher, feierlicher und erhebender nicht gedacht werden konnte. Kein Laut menschlichen Verkehrs drang bis hierher, nur süßer Vogelgesang tönte aus den Zweigen der herrlichen Laubbäume. In hohen, dichten Büscheln prangte das üppige Farrenkraut, es duftete lieblich und kräftig nach wilden Rosen und dem Harz der Fichten und Tannen, – man schritt über weichen Moosteppich immer tiefer in eine wundervolle, entzückende Welt.
Und jetzt blieb der Führer stehen. »Wir sind am Ziel,« sagte er und wies auf eine natürliche Rasenbank, die sich an eine phantastisch zerklüftete, von nackten Baumwurzeln überhangene Hügelwand lehnte. Ein Ausruf des Entzückens entschlüpfte Hedwigs Mund und auch die andern standen voll Bewunderung da. Der Boden war hier terrassenförmig; nur wenige Schritte von der Rasenbank schoß eine silberklare Quelle fast unmittelbar unter dem Boden hervor und sprang in lustigen Sätzen über den Abhang, um unten als schmales, vergißmeinnichtumsäumtes Bächlein weiterzufließen. »Die Wolfgangsquelle!« sagte Normann mit dem Stolze eines Entdeckers, »das heißt, ich war so frei, sie so zu nennen, – heiße nämlich Wolfgang von Normann.«
Unter lebhaftem Ausdruck des Dankes und Entzückens lagerte man sich, und während Hedwig einen großen Strauß von Waldblumen pflückte und im Genuß der herrlichen Natur schwelgte, plauderten die Älteren sehr gemütlich. Nur zu schnell war die Mittagsstunde herangekommen und man mußte den Heimweg antreten; es wurde aber beschlossen, gleich nach dem Essen wieder herzukommen. »Von einem rechtschaffenen Mittagsschlaf kann bei dem Geschmetter und Geschrei zu Hause doch nicht die Rede sein,« sagte der Oberstleutnant, »da ist's schon besser, wir flüchten wieder. Für einen reicht übrigens die Rasenbank zum Schlafen, wenn Sie also, Herr Rat, Ihre Siesta nicht entbehren wollen, dann können Sie auch diese hier haben.«
Am Nachmittage bewegte sich wirklich wieder der kleine Zug nach der Wolfgangsquelle und man hatte außer kaltem Abendbrot und den Feldstühlen auch Plaids mitgenommen. Am Ziel angekommen, ließ der Rat sich wirklich zu einer kleinen Mittagsruhe bewegen, während der Oberstleutnant mit der Rätin plauderte und Hedwig kurze botanische und zoologische Entdeckungsreisen machte. Im Laufe des Nachmittags zog Normann ein Spiel Karten hervor. »Wie wär's mit einem Robber Whist?« fragte er einladend. »Prächtige Idee,« rief Wöllner, »aber Hedchen versteht nichts davon.« – »So spielen wir mit dem Strohmann,« erklärte der Oberstleutnant. Eine unvorhergesehene Schwierigkeit ergab sich noch aus dem Fehlen eines Tisches, aber sie wurde dadurch beseitigt, daß die Rätin den größten der Feldstühle ausgespannt zwischen die Spielenden setzte. Es war nicht ganz bequem, aber das Spiel nahm doch seinen muntern Verlauf. Als man spät abends nach Hause ging, war die Familie mit dem liebenswürdigen alten Herrn schon so vertraut, als wäre er ein langjähriger Bekannter, und man trennte sich mit großer, aufrichtiger Herzlichkeit.
Der Verkehr, der sich von diesem Tage an entwickelte war für alle Teile sehr angenehm und vorteilhaft. Die Unterhaltung mit dem neuen Freunde bot dem Leidenden willkommene Ablenkung von dem eignen Zustande, seiner Gattin Zerstreuung, beiden Genuß und Anregung. Hedwig aber konnte, da sie die Eltern so wohlversorgt wußte, stundenlang in Wald und Feld umherschweifen oder an besonders schönen Plätzen sich seliger Träumerei hingeben. »Ich wollte, meine Olga wäre hier,« sagte der Oberstleutnant einmal bedauernd, als er Hedwig so sich selbst überlassen sah, »aber ich habe das Mädel seit dem Tode meiner guten Frau in Gnadenfrei in der Herrenhuterpension, da ist sie besser aufgehoben, als bei dem alten Haudegen von Vater. Jetzt freilich hätte sie hier gute Gesellschaft, und Ihnen, Fräuleinchen, wäre sie auch willkommen, denke ich.«
Hedwig hatte hierüber ihre eignen Gedanken; die unbekannte Olga war ihr gar nicht wünschenswert, ihr reiches, von begeisterter Liebe zur Natur erfülltes Gemüt genügte in dieser Umgebung sich selbst. Mit einem Körbchen, das ein gutes Buch, Zeichenmaterial, Trinkbecher und etwas Mundvorrat enthielt, begab sie sich, sobald die Eltern in ihr Kartenspiel oder Geplauder mit dem Freunde vertieft waren und sie sich überflüssig wußte, auf Entdeckungsreisen. Nach allen Richtungen durchstreifte sie den Wald, glückselig im ungestörten Anschauen der Schöpfungswunder, und war sie müde, dann ordnete sie ihre Blumenschätze, las, skizzierte oder ließ in müßigem Träumen die Eindrücke der Umgebung auf sich wirken.
Am häufigsten und liebsten ging sie nach der Wolfgangsquelle, denn nirgends schien ihr das Alleinsein mit der erhabenen, herrlichen Natur so gesichert, wie hier, nirgends ließ es sich so wunderschön träumen, wie hier auf der Rasenbank, am kleinen, sprudelnden Quell.
Es war an einem sonnigen Nachmittag, als sie nach langem Spaziergang wieder hier rastete. Allerlei Bilder zogen an ihrem Geiste vorüber; sie dachte an Schwester Sophie, an das Kloster, an Constanze, der sie die Genesung von ihrer gefährlichen Schwärmerei verdankte, an Anna. Beide Freundinnen wechselten Briefe mit ihr und Constanze hatte viel Schönes von ihrem Heim, ihrem Leben bei Frau Lindheim erzählt und versichert, zu vollständigem Glücke fehle ihr nur die Versöhnung mit den Eltern und – Adalberts Anwesenheit. Wie schön mußte es sein, so zu lieben und geliebt zu werden! Trotz der herrlichen Stunden, die sie hier genoß, fühlte sie sich doch in gewisser Hinsicht einsam, auch ihr fehlte etwas zum Glücke, – der teure, unvergeßliche Lehrer. Wo mochte er weilen? Dachte er noch an sie oder hatte er das kleine, kindische Schulmädchen längst vergessen? Sicher das letztere.
Sie zog ein goldnes Medaillon hervor, das an elastischer Schnur um ihren Hals befestigt war, – das Geschenk ihrer Eltern zur Konfirmation. Zwischen den Bildern der letzteren lag ein kleines Blättchen; sie entnahm es dem Medaillon und las: »Ihr seid Gottes Ackerwerk«; und dann weiter: »Sie allein vermögen der Bedeutung dieses Bibelwortes nachzudenken; leben Sie ihm auch nach. – – Wie, durfte sie sagen, daß sie ihm bisher nachgelebt? Nein, nein, sie durfte es nicht, sie hatte der Mahnung überhaupt nicht gedacht und nichts gethan, nichts geleistet. Zu unfruchtbaren, kindischen Träumereien hatte sie ihre Gaben mißbraucht, als erwachsenes Mädchen war sie noch fremd in der praktischen Welt, müßig unter den Arbeitenden. Aber wo war denn ihr Wirkungskreis, wo war der Acker, den sie bebauen konnte? Zu Hause bedurfte man ihrer Hilfe nicht, die Mutter besorgte den Haushalt allein mit der alten Dienerin, des Vaters Pflege konnte nur in zarter Rücksicht und Schonung bestehen; was sollte sie thun? O, daß er hier wäre, der kluge, herrliche Freund, ihr zu raten! O, daß sie wieder seine Stimme hören, ihn sehen dürfte!
»So gedankenvoll, mein schönes Fräulein?« tönte plötzlich eine etwas heisere Stimme in nächster Nähe. Hedwig fuhr erschrocken auf und barg eiligst das Medaillon an seinem Platze. Vor ihr stand ein Herr, anscheinend in mittleren Jahren, der sie durch funkelnde, goldgefaßte Brillengläser lächelnd betrachtete. Er hatte den niederen Hut abgezogen und nahm jetzt ohne Umstände neben ihr auf der Rasenbank Platz. »Ich hatte das Unglück, Sie zu erschrecken,« sagte er; »verzeihen Sie mir und gestatten Sie einem müden Wanderer, daß er einige Augenblicke an Ihrer Seite ausruht.«
Hedwig machte dem Fremden in seltsamer Verwirrung Platz und wagte erst nach einer Weile, ihn verstohlen anzusehen. Seine Gestalt war untersetzt, sein Haar hellblond und glatt gescheitelt, seine Kleidung etwas fremdartig, fast quäkerhaft, aber gut und anständig. Sie konnte nichts Auffallendes an ihm bemerken, nur die Art, wie seine hellblauen und doch durchdringenden Augen durch die blitzenden Gläser zu ihr hinschauten, – nicht geradeaus, sondern von der Seite und ein wenig von unten herauf, – die Art, wie er sie halb schalkhaft, halb spöttisch anlächelte brachte sie aus der Fassung. Wer war der seltsame Mann?
Als habe er ihre Gedanken erraten, zog er ein Ledertäschchen hervor und überreichte ihr seine Karte, sich gleichzeitig vorstellend: »Doktor Gustav Weiße aus Hamburg, gestern hier eingetroffener Kurgast, der die Nachwehen eines leichten Halsleidens« – er hüstelte etwas – »durch Waldluft und Ruhe hier loszuwerden gedenkt.«
»Dasselbe wünscht auch mein Papa,« fiel Hedwig ein, ihre Scheu vergessend, »das heißt, sein Leiden ist andrer Art, aber Waldluft und Ruhe sind ihm ebenfalls verordnet. Und nirgends wohl sind so alle Bedingungen zur Genesung erfüllt« – – »Dann darf ich ja meinen Glücksstern preisen, daß er mich hierher geführt, ja ich preise ihn schon jetzt seit dem Augenblicke, wo ich hier am rieselnden Quell die reizendste aller Waldnymphen entdeckt habe.«
Wieder flog der eigentümlich lauernde Blick des Mannes zu ihr herüber, ein Blick, der mit Bewunderung ihre Gestalt umfing, aber gleichzeitig nach dem Eindruck der Worte spähte. Hedwig saß mit erglühenden Wangen in steigender Verlegenheit. Sie fühlte, daß der Fremde mit Worten und Blicken eine kecke, ja unziemliche Sprache redete und daß sie etwas thun müsse, um ihn in seine Schranken zu weisen, aber es fehlte ihr die Macht dazu. Die merkwürdigen Augen hielten sie in einem unerklärlichen Bann und die dreiste Huldigung wirkte auf sie wie ein berauschendes Gift. Noch nie hatte man ihr gesagt, daß sie schön sei, selbst Helmstädt schien ihr Äußeres nie beachtet zu haben, und es war ihr nie eingefallen, auf Schmeicheleien, die demselben galten, einen besonderen Wert zu legen, aber die unverhohlene Bewunderung, die gleichsam unwillkürliche Begeisterung des Fremden traf sie wie eine überraschende, aufregende Entdeckung. »Die reizendste aller Waldnymphen!« Er hätte es nicht sagen und sie es nicht anhören sollen, das fühlte sie, aber daß er zu den Worten hingerissen worden und wie er sie gesprochen, wie er sie dabei angesehen, hatte doch einen neuen, ganz eigentümlichen Reiz, und mit einer Art Neugierde wünschte sie mehr über den Eindruck, den sie hervorzurufen imstande war, zu erfahren.
»Sie schweigen, schönes Fräulein?« fuhr die verschleierte Stimme fort. »So zürnen Sie mir wohl, daß ich Ihre Einsamkeit gestört habe? Bitte, sagen Sie mir, sind Sie mir böse?« Die Frage klang so demütig abbittend und schmeichelnd, und die hellblauen Augen sahen von unten herauf mit so schalkhafter und doch eindringlicher Frage zu ihr empor, daß sie nicht anders konnte, als ihre Rechte in seine ihr entgegengestreckte zu legen und durch Kopfschütteln zu verneinen. »Ah, das wußte ich ja,« fuhr er fort, indem er die zitternde Hand fest umschloß und an seine Lippen führte, »solch' holdselige Feen sind immer gütig, und so darf der müde Wanderer auch einige Minuten an Ihrer Seite verweilen. Wie süß muß es sich hier plaudern! Allein mit Ihnen, ganz allein in dieser Waldeinsamkeit – nein, erschrecken Sie nicht, meine Gnädige; ich bin ein alter Mann, könnte ganz gut Ihr Vater sein –«
Lauernd, schalkhaft glitzerte es wieder unter den Brillengläsern hervor, als wolle der Blick die Worte Lügen strafen; zugleich erschienen um den Mund des Mannes kleine Falten, daß es aussah, als spielten Schlänglein darum, – das ganze Wesen des Fremden war Hedwig unverständlich, rätselhaft, erfüllte sie mit banger Scheu, – aber wenn sie jetzt dem Antriebe folgte und fortging, so gab sie damit zu, daß sie sich fürchtete, und dies wollte sie um keinen Preis. Es wäre einesteils unnütz gewesen, denn der Fremde besaß, wenn er wollte, die Macht, sie zurückzuhalten, zu verfolgen; dann aber mochte sie sich nicht schwach, nicht kindisch zeigen. Sie überging also den letzten Teil seiner Rede vollständig und sagte möglichst gleichgiltig: »Ja, der Platz ist schön; ich wundere mich nur, daß Sie als Fremder ihn aufgefunden haben, da er bis jetzt selbst von dem Strom der Sonntagsgäste unentdeckt geblieben.«
»Mein Glücksstern, wie ich Ihnen sagte,« erwiderte er. »Plan- und ziellos durchwanderte ich die Gegend und kam hier in den Wald ohne eine Ahnung, welch herrliches Frühlingsbild ich hier finden werde. Vielleicht – o verzeihen Sie dem alten Mann die thörichten Gedanken, die mich seit einigen Augenblicken umschmeicheln, – vielleicht ist auch meinem Leben ein neuer Frühling aufgegangen. Ich bin alleinstehend, freundlos; das Schicksal hat mich viel umhergeworfen, aber ob ich im fernen Weltteil als Missionär den Heiden das Gotteswort verkündete, ob ich mich im Schoße der zivilisierten Welt befand, – nirgends schlug mir ein teilnehmendes Herz, nirgends war eine sanfte Hand bereit, mir die Kummerfalten von der Stirne zu wischen. Wenn ich nun denke, daß es möglich wäre – daß es vielleicht der Zukunft vorbehalten ist – – aber nein, mein Los ist dunkel und muß es bleiben. Nicht wahr, mein Fräulein, der alte Mann ist lächerlich, wenn er noch an Teilnahme, an das Glück, verstanden zu werden glaubt?«
Hedwig hatte atemlos zugehört. Ein Unglücklicher also, ein Unverstandener, vom Schicksal und den Menschen Mißhandelter, und ein Missionär obendrein! O wie hatte sie vor solchem Manne Furcht empfinden können! Tief im Herzen bat sie ihm ab und war ganz von dem Wunsche erfüllt, ihm zu zeigen, daß seine Hoffnung keine trügerische, daß er ihrer innigen Teilnahme gewiß sein könne. »Warum sollten Sie dieses Glück nicht finden?« fragte sie mit begeistertem Aufblick; »ich denke es mir als eine herrliche Aufgabe, einem Manne wie Sie, der so viel Gutes gewirkt, so viel erfahren und gelitten hat, den Glauben an die Menschen und an eine bessere Zukunft wiederzugeben.«
»Ist's möglich? Sie wollten – – o Dank, Dank, Sie holdes Kind! Aber wenn Sie sich meiner entmutigten, von tausend Schicksalsschlägen verwundeten Seele annehmen wollen, dann darf diese Begegnung nicht die letzte sein, dann müssen wir uns wiedersehen, – und Sie müssen Vertrauen zu mir haben. Können Sie das?« – »Wie sollte ich nicht! Ein Mann, der sich solchen Beruf erwählte, der wohl auch sein gegenwärtiges Leiden den Strapazen des Missionsamtes verdankt, ist sicher vertrauenswürdig. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wer ich bin, nichts von meinem Leben, das allerdings keine interessanten Erlebnisse wie das Ihrige aufweist; aber Sie sollen doch auch wissen, wem Sie Ihr Vertrauen geschenkt haben.«
Hedwig erzählte nun offen alles sie Betreffende und verschwieg nur ihre Beziehung zu Helmstädt; es war ihr doch, trotz ihrer achtungsvollen Teilnahme für den Fremden, als dürfe sie diesen Augen, diesem sarkastischen Munde gegenüber von einem so zarten, idealen Verhältnisse nicht sprechen, als sei dasselbe etwas Heiliges, Unantastbares, das gerade hier nicht einmal die Erwähnung vertrage. Dr. Weiße hörte ihre Mitteilungen über die kleinen Erlebnisse ihrer Jugend und über die Wandlungen ihres Herzens ziemlich gleichgiltig an, als aber Hedwig die Stellung ihres Vaters nannte, horchte er auf und entlockte der Erzählerin unbemerkt die genauesten Einzelheiten über dessen amtliche Beziehungen, über die Verhältnisse und Lebensweise der Familie.
Die Schatten wurden länger, als Hedwig endlich darauf bestand, den Heimweg anzutreten. Wie träumend ging sie an der Seite des Mannes, der ihr vor wenigen Stunden noch fremd gewesen und jetzt ihr ganzes Denken beschäftigte. Sie sah nichts von der Schönheit ringsumher, sie fühlte nur den unerklärlichen, dämonischen Zauber dieser Persönlichkeit. Er erzählte im Gehen von allerlei überstandenen Gefahren und Abenteuern, deutete wieder auf dunkle Schicksale, Enttäuschungen und trübe Erfahrungen verschiedener Art hin und pries seinen »Glücksstern«, der ihn endlich, endlich mit einem Engel des Friedens zusammengeführt.
Am Waldrande blieb er stehen. »Sie haben mir ein Wiedersehen versprochen,« sagte er; »ich komme morgen Nachmittag wieder zur Quelle; werde ich Sie finden?« – »Meine Eltern gehen nur an Sonntagen an diesen Platz,« sagte Hedwig; »an allen übrigen Tagen sind wir im Park, in der Nähe des Hauses.« – »Aber Sie waren heut allein hier, – was hindert Sie, morgen wiederzukommen? Ja, Sie müssen kommen, mein Fräulein, wenn ich nicht glauben soll – –« »Was glauben?« fragte Hedwig, vor seinem finsteren Blick erzitternd. »Daß ich mich geirrt habe, – daß Sie ebenso sind, wie die anderen, ebenso engherzig, ebenso vorurteilsvoll, ebenso in leeren Formen befangen. Ich komme also, und je nachdem ich Sie treffe oder nicht, werde ich wissen, ob ich noch auf einen Glücksschimmer hoffen darf, oder« – hier brach seine Stimme wie im Schmerz, – »ob ich abermals das Opfer einer schönen Illusion, eines süßen Wahnes gewesen.«
Mit weltmännischer, fast übertriebener Höflichkeit schwenkte er seinen Hut und verschwand, ohne Hedwigs Antwort abzuwarten, in der entgegengesetzten Richtung. Während sie den kurzen Weg nach Hause zurücklegte, waren alle ihre Gedanken mit dem seltsamen Manne beschäftigt. Was hatte sie gesagt, daß er so augenscheinlich im Zorn von ihr ging? War sie wirklich engherzig und kleinlich, wenn sie es vermied, morgen allein mit ihm zusammenzutreffen? Er konnte doch nicht erwarten, daß ein junges Mädchen sich nach so kurzer Bekanntschaft sofort dazu entschließen werde? Ohne Zweifel wollte er sie nur auf die Probe stellen, wollte sehen, ob ihr Wille, ihm den Glauben an die Menschen wiederzugeben, stark genug sei, um sie dahin zu bringen, sich über das Hergebrachte hinwegzusetzen. Ja, er hatte sie prüfen wollen, und sie, – wie hatte sie die Prüfung bestanden?
Gedankenvoll, unruhig, mit sich selbst in Zwiespalt, schritt sie dahin und war auch zu Hause zerstreut und träumerisch; ein wilder Kampf aber entspann sich in ihrem Innern, als sie ihr Lager aufgesucht hatte. Was der fremde Mann verlangte, konnte nicht geschehen, – ihre anerzogenen Schicklichkeitsbegriffe, ihr mädchenhafter Stolz, ihre Scheu vor seinen dreisten Schmeicheleien und seltsamen Blicken, – alles in ihr sträubte sich gegen die heimliche Zusammenkunft, und doch erwartete er sie, und der Gedanke, daß er in seiner Enttäuschung sie geringer achten, sie den anderen »engherzigen, vorurteilsvollen« Mädchen zugesellen könnte, schien ihr unerträglich. Was sollte sie thun? Wer riet ihr das Rechte? Der Mutter durfte sie von der Begegnung nichts sagen, sie würde unbedingt ihr Benehmen gegen den Fremden tadeln, die Freiheit ihrer Bewegungen einschränken und jedes Wiedersehen hintertreiben. Ihren Rat konnte sie also nicht einholen, aber da war noch einer, ein Entfernter zwar, aber ein zuverlässiger Freund, – seine Meinung sollte ihre Richtschnur sein. Sie rief das Bild des Lehrers in ihr Gedächtnis zurück, sah im Geist seine ernsten, gradausblickenden, treuen Augen mit liebevoller Mahnung auf sich gerichtet und hörte ihn sagen: »Wir sehen uns wieder, Hedwig!« Und dann fragte sie sich: »Was würde er dazu sagen? Wie würde ich es in der Stunde des Wiedersehens vor ihm verantworten können, dem Wunsch des Fremden nachgekommen zu sein?«
Und nach dieser Frage schwanden plötzlich alle ihre Zweifel. Sie sah die Zumutung des fremden Mannes im rechten Lichte, als etwas Unerhörtes, als eine Beleidigung ihrer Mädchenwürde; zugleich erkannte sie den Unterschied zwischen dem versteckten, rätselhaften Wesen des neuen Bekannten und der edlen, offenen Art des Lehrers, die selbst in der Vorstellung noch erhebend, wohlthuend auf sie wirkte.
Der Zweifel war geschlichtet, aber ihre Ruhe kehrte auch am anderen Tage nicht wieder. Unaufhörlich mußte sie an den Fremden denken, eine angstvolle Spannung hatte sich ihrer bemächtigt. »Werde ich ihn wiedersehen?« fragte sie sich immer wieder und sah erwartungsvoll nach der Gegend, aus der er kommen konnte; und wenn von ungefähr ein nahender Tritt sich hören ließ, schrak sie zusammen und wechselte die Farbe. Ihre Spaziergänge hatte sie eingestellt, aus Furcht, ihm zu begegnen, und saß nun still mit ihrem Buche, in dem sie jedoch nicht las, bei den Eltern. Zuletzt fiel diesen die Veränderung doch auf. »Wenn ich nicht wüßte,« sagte der Vater, »daß es hier an einem passenden Objekte ganz und gar fehlt, selbst an Orgelmännern, Bärenführern und Originalen, so würde ich glauben, unser Mädel sei verliebt. Aber wenn wir nicht gerade annehmen wollen, daß unser guter Oberstleutnant oder gar der Kellner es ihr angethan hat, muß dieser Gedanke zurückgewiesen werden. Jedenfalls ist das Kind ganz sonderbar in den letzten Tagen.«
»Auch mir ist sie aufgefallen,« sagte die Mutter, »aber ich glaube, daß einzig die Langeweile diese veränderte Stimmung hervorgebracht hat. Wenn etwas Bedeutsames zu Grunde liegt, so wird sie, – das hoffe ich zuversichtlich – aus freien Stücken zu mir kommen und mir ihr Herz ausschütten; handelt es sich aber um bloße Launen und Gemütsverstimmung, so ist es am besten, dieselben anscheinend gar nicht zu beachten, bis sie von selbst vorübergehen. Warten wir ab, ob unser Kind uns etwas mitzuteilen hat, oder ob es von selbst das Gleichgewicht ihrer Seele wiederfindet. Drängen wir uns nicht in das Vertrauen unserer Hedwig, – ich bin überzeugt, wir dürfen sie gewähren lassen.«