Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Kapitel

In dem behaglichen, mit allem Komfort eingerichteten Speisezimmer der Lindheimschen Wohnung in Berlin war seit lange der Tisch gedeckt. Nichts fehlte auf der kleinen Tafel, draußen in der Küche drohte das fertige Essen zu verderben und die Hausfrau wanderte ruhelos und ängstlich hin und her. »Wo nur Max bleiben mag?« wendete sie sich an Constanze, die sichtlich bemüht war, gleichmütig auszusehen und doch, kaum minder unruhig als Frau Lindheim, bald nach der Uhr, bald durchs Fenster blickte; »seit zwei Stunden ist die Börsenzeit vorüber und er pflegt doch sonst so pünktlich gleich nach Schluß der Börse zu Tisch zu kommen.«

»Ei, liebe Tante,« sagte Constanze mit angenommener Sorglosigkeit, indem sie die trauliche Anrede brauchte, die Frau Lindheim sich seit kurzem von ihr ausgebeten hatte, »was giebt es alles für Zufälle, die einen jungen Herrn aufhalten können! Da kommen Freunde, die ihn in Beschlag nehmen und sich nicht abschütteln lassen, ungewöhnliche, unaufschiebbare Geschäfte, Störungen im Straßenverkehr, – wer kann wissen, was alles. Ich bin sicher, Max wird uns in sehr kurzer Zeit selbst erzählen, warum er so unpünktlich gewesen.« »Gebe es Gott!« seufzte die geängstigte Mutter. »Das Ausbleiben würde mir ja an sich nicht bange machen, – Max ist ein erwachsener Mensch und kann wirklich auf ganz harmlose Weise verhindert sein, – wenn er nicht in letzter Zeit so merkwürdig verändert wäre. Bleich und verstört geht er umher, immer voll Hast und Unruhe, immer gereizt, – ich kenne ihn gar nicht wieder. Wenn ich ihn frage, wird er ungeduldig, zornig, oder er nimmt seinen Hut und geht mir förmlich aus dem Wege. Solltest Du denn das alles nicht bemerkt haben?«

Allerdings hatte Constanze mit heimlicher Befremdung und Bangigkeit dieselben Wahrnehmungen gemacht, aber sie suchte trotzdem die alte Dame durch allerlei Trostgründe zu beschwichtigen und überredete sie sogar, sich mit ihr zu Tisch zu setzen und etwas zu genießen. Als abgeräumt war, nahm Frau Lindheim wieder ihre Promenaden durchs Zimmer auf und Constanze spähte durch das Fenster. So kam die Dämmerung, es wurde Abend und das Dienstmädchen brachte die Lampe herein. »Constanze,« rief Frau Lindheim in Todesangst, »das ist nicht natürlich. Ein Unglück muß geschehen sein. Ich halte dies unthätige Warten nicht mehr aus, ich gehe nach seinem Comptoir, ihn suchen –«

In diesem Augenblicke ertönte laut und schrill die Thürglocke. »Gottlob, da ist er!« rief Frau Lindheim aus befreiter Brust und lief zur Thür, dem Heißersehnten entgegen. Aber – o der Enttäuschung! – er war es nicht. Mit linkischem Gruß, eingeschüchtert durch die Pracht der Wohnung, schob sich ein dürftig gekleideter Knabe herein, der nach kurzer Musterung der beiden Damen der älteren einen Brief übergab und dann rasch wieder verschwand.

»Von ihm!« stammelte Frau Lindheim; »o Gott, was werde ich hören!« Sie versuchte das Couvert zu öffnen, aber ihre Hände zitterten zu stark und so reichte sie Constanze den Brief hin. »Lies!« hauchte sie, einer Ohnmacht nahe. Einem unbewußten Impuls folgend, umschlang Constanze wie schützend ihre mütterliche Freundin, ehe sie sich zum Lesen anschickte. Kaum aber hatte sie die ersten Worte überflogen, als sie, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen, die Hand mit dem Briefe sinken ließ. Mit verzweifelter Entschiedenheit griff Frau Lindheim danach und begann nun selbst zu lesen, doch schon nach wenigen Minuten wankte sie und brach mit einem Weheschrei bewußtlos zusammen.

 

»Teure, geliebte Mutter!« stand da in eiligen, die höchste Aufregung verratenden Schriftzügen; »fluche mir nicht, obgleich ich Fluchwürdiges gethan habe. Unglückliche Spekulationen und sonstige unerwartete Fehlschläge haben mich in Verlegenheiten gebracht, ich wollte die Verluste einbringen, indem ich weiter spekulierte, endlich wuchs mir die Sache über den Kopf und ich stand vor dem schimpflichen Bankerott! Meine einzig geliebte Mutter, um Deinetwillen wollte ich den Zusammenbruch aufhalten und ich glaubte, es würde möglich sein, wenn ich nur Zeit gewönne. Gott weiß es, ich wollte niemand schädigen, nur Zeit gewinnen und Dir, die Du so vertrauensvoll zu mir gekommen, das Schreckliche ersparen. So griff ich denn fremde Deposita an, – nur leihen wollte ich die Gelder und wenn sie mir über die Katastrophe geholfen, sofort wieder erstatten. Aber es kam anders, – alles schlug fehl, ich konnte das nicht ersetzen, – o Mutter, wie namenlos habe ich gelitten, seit ich über diesen Abgrund wandelte, der mich jetzt verschlungen hat.

Ich muß fliehen, Mutter, – Dein Sohn ist ein Geächteter und das Gesetz wird ihn verfolgen. Man hat mein Comptoir förmlich gestürmt, nur mit Mühe konnte ich fort und habe hier im Osten der Stadt das erste beste unscheinbare Zimmer gemietet, um von da aus meine Flucht anzutreten. Mutter, ich habe Dich namenlos unglücklich gemacht, aber wenn sich in Deinem Herzen noch etwas wie Liebe und Erbarmen für mich regt, dann laß mich noch einmal Dein liebes, teures Angesicht sehen, – dann komme hierher zum letzten Abschied.

Man wird alles aus der Wohnung nehmen, Mutter, – schreckliche Tage stehen Dir bevor, aber was Dein Eigentum ist, dürfen sie nicht antasten, nichts, was Du von N. mitgebracht. Auch Constanze soll ihre Sachen an sich nehmen und das ihr zukommende Jahresgehalt, das ich ihr bisher verwahrte. Im Schreibtisch liegt es; – lasse sie es bald nehmen und die Sachen zusammenpacken, die Ihr behaltet, – auch das Wirtschaftsgeld für mindestens drei Monate müssen sie Dir lassen.

Was habe ich gethan! was habe ich gethan! Du gehst als Bettlerin aus dem Hause, denn auch Dein Vermögen war im Geschäft. Verzeih, wenn Du kannst, und komme, komme zu Deinem unglücklichen Sohne Max.

Ostbahnstr. 72, Hof II, bei Witwe Strauß«.

 

Eine wohlthätige Ohnmacht umfing die Sinne der armen Mutter. Constanze las in fliegender Eile die Unglücksbotschaft und begriff sofort, daß alles, was zu thun war, alle Verantwortlichkeit jetzt auf ihren Schultern ruhte. Ihre erste Sorge war, die Ohnmächtige ins Leben zurückzurufen, dann folgte die viel schwerere Aufgabe, die Erwachte trotz des wiedergekehrten Bewußtseins zu dem schrecklichen Gange, der ihr bevorstand, fähig zu machen. Mit wunderbarem Scharfsinn wählte sie, die Unerfahrene, die nie etwas Anderes als eine engbegrenzte Häuslichkeit und den Frieden des Klosters kennen gelernt hatte, das einzig richtige Mittel: sie machte die Mutterliebe zu ihrer Verbündeten.

»Ermannen Sie sich, liebe Tante,« sagte sie mit fester Stimme, »wir müssen bald fort, – Max wartet auf Sie.« – »Max wartet, – ja, gehen wir sogleich,« rief die Mutter, mit fast übermenschlicher Willenskraft ihre Schwäche überwindend und vom Lehnstuhl aufstehend. »Und da ist noch manches, was wir ihm mitbringen müssen, – was er nötig brauchen wird. Helfen Sie mir, Tante, alles herbeizuholen und einzupacken.« Schon stand Frau Lindheim auf ihren zitternden Füßen, zu allem bereit, was es für den Sohn zu thun gab; und nun packte Constanze, anscheinend mit ihrer Hilfe, die Wäsche und Garderobe des jungen Mannes in einen schönen Reisekoffer, den sie verschloß, entnahm dem Schreibtisch die von Max bezeichneten Summen und erklärte der fieberhaft aufgeregten Frau, die nur der Gedanke an den Sohn aufrecht hielt, daß sie nun fahren könnten. Dem Dienstmädchen, das den Wagen holen mußte, teilte sie in ihrem mangelhaften Deutsch mit, der junge Herr müsse plötzlich verreisen, könne seine Mutter nur noch am Bahnhofe sehen und habe sie schriftlich gebeten, ihm sein Gepäck dahin mitzubringen. Dann empfahl sie dem Mädchen noch, jeden, der etwa in der Zeit ihrer Abwesenheit kommen sollte, zu kurzem Warten zu veranlassen, in höchstens zwei Stunden würden sie wieder da sein. Nach diesen Anweisungen, die sie mit wunderbarer Festigkeit und Umsicht gegeben, stieg sie zu der harrenden Mutter in den Mietswagen, um sie auf ihrem so bitteren Wege zu begleiten.

Es war ein Glück, daß sie an ihrer Seite geblieben, sonst wäre die Arme dem Jammer der nächsten Minuten erlegen. Dieses erschütternde Wiedersehen, die Selbstanklagen und Bitten des Sohnes, seine völlige Verzweiflung, das alles war mehr, als ein Mutterherz ertragen konnte; aber Constanze fand wiederum das rechte Heilmittel für ihren maßlosen Schmerz, indem sie die Gedanken beider auf die Zukunft richtete. »Was nun?« fragte sie Max, »wohin gedenken Sie sich zunächst zu wenden?« »Als ob ich davon etwas wüßte,« gab Max mit schmerzlicher Bitterkeit zurück, – »ich, der Flüchtling, ich, der Ausgestoßene. Ziellos wandere ich hinaus ins Ungewisse, und je eher die Wanderschaft zu Ende, desto besser für uns beide.« »Sprich nicht so,« flehte die Mutter laut weinend, »laß mich wenigstens hoffen, daß Du Dir eine neue Heimat gründest, wenn Deine Flucht gelungen, eine Heimat, wo meine Gedanken und Wünsche Dich suchen können, – mache Dir einen Plan, Max, sage mir, wo Du hingehst.« – »Mutter, geliebte Mutter, ich wollte, ich könnte es, – aber in diesem Augenblicke – Gott allein weiß, was aus mir werden wird. Nur fort muß ich, das ist gewiß, und zwar sehr bald, – aber wohin – das kann ich nicht sagen, das mag der Zufall bestimmen.«

»Nein, Sie werden nicht nötig haben, so ohne Plan und Ziel in die Welt zu gehen, – ich glaube da raten zu können,« rief jetzt Constanze. »Mein Bräutigam, Baron Rechnitz, hat in Sumatra eine ganz selbständige Stellung als Vertreter der Firma und kann als solcher nach Gutdünken Leute anstellen und entlassen. Wenn ich Ihnen einen Brief an Adalbert mitgebe, worin ich für Sie, den Sohn meiner Wohlthäterin und zweiten Mutter, der noch dazu sein Jugendfreund ist, um Aufnahme und Anstellung bitte, wird er Ihnen mit Freuden einen Wirkungskreis anweisen.« »O Sie rettender Engel,« rief Max und haschte nach Constanzens Hand, um sie zu küssen, – »daß ich daran nicht dachte! Mutter, schreibe auch Du an den Brief, – der alte Freund wird mich nicht zurückweisen, und nun schöpfe ich neue Hoffnung; wenn ich Sumatra glücklich erreiche, kann noch alles gut werden. Schnell, schreibt den Brief, es ist hohe Zeit, daß ich – daß auch Ihr nach Hause kommt, – wer weiß, was da vorgeht.«

Er bedeckte schaudernd das Gesicht mit den Händen beim Gedanken an die Scenen, die seiner armen Mutter bevorstanden. Constanze besorgte indes von der Wirtin Schreibmaterialien und verfaßte in fliegender Eile den Brief an den Geliebten; dann mußte Frau Lindheim daran schreiben; die Buchstaben waren kaum leserlich und vielfach von Thränen verwischt, aber diese sprachen beredter zum Herzen des Empfängers, als die deutlichste Schrift. Von Rührung überwältigt, nahm Max den Brief in Empfang und verwahrte ihn an seinem Herzen, dann ließ er sich noch von Constanze beruhigen, daß sie hinsichtlich des Geldes seinen Weisungen nachgekommen und sein Mütterchen für die erste Zeit vor Not geschützt sei, erklärte seinerseits auf ihre besorgte Frage, daß er das nötige Reisegeld bei sich führe, teilte ihr auch mit, die Wohnungsmiete sei für die Dauer des Kontraktes, die Zimmermiete für einen Monat bezahlt, – und gestand dann mit brechender Stimme, daß der Augenblick des Abschieds gekommen sei.

Während der Sohn der Wirtin, derselbe Knabe, der den Brief gebracht, einen Wagen besorgte, hielten sich Mutter und Sohn, vor Schmerz fast vergehend, zum letzten Male umfangen. »Gott segne Dich, Gott geleite Dich!« schluchzte die Mutter. »Kannst Du mich denn noch lieben nach all dem Herzeleid, das ich Dir angethan?« »Mehr als ich sagen kann, Du mein Einziger, – Gott segne Dich!« – »So wahr mir Gott helfe, ich werde dieser Stunde gedenken und alles gut machen!« rief Max feierlich und schloß die Mutter nochmals fest in die Arme. Der Wagen war da; Max riß sich gewaltsam los, dankte Constanze mit innigen Worten, empfahl die geliebte Mutter ihrem Schutze und wankte dann hinter dem Knaben, der den Koffer zum Wagen trug, die Treppe hinab.

»Wer weiß, was inzwischen zu Hause vorgeht!« Diese Worte, die Max vorhin gesprochen, wiederholte sich Constanze innerlich und begann, sobald der Wagen davongerollt, dringend an die Heimkehr zu mahnen; aber die Tante, die nur durch die Kraft der Mutterliebe aufrecht erhalten worden, war völlig gebrochen, wie geistig und körperlich gelähmt. Das Zimmer, so überlegte Constanze, war für einen Monat bezahlt, in der bisherigen Wohnung konnten sie nicht bleiben, – wie, wenn sie die Tante hier ließe, ihr die Schrecken der nächsten Zeit ersparte und allein nach der Wohnung zurückkehrte? Sie ging zu der Wirtin hinein, um mit ihr zu sprechen. Frau Strauß schien eine sehr ordentliche, fleißige Frau zu sein; sie erkannte den Damen, obgleich nicht sie das Zimmer gemietet hatten, doch das Recht zu, es für den erlegten Mietspreis einen Monat zu bewohnen, mußte aber Constanzens Frage, ob sie in der Zeit ihrer Abwesenheit, also einen bis zwei Tage, für Frau Lindheim Sorge tragen wolle, entschieden verneinen. Sie wäre Witwe, meinte sie, und müßte, um sich und ihren Jungen durchzubringen, tüchtig arbeiten; sie hätte eine Aufwartestelle, nähme Wäsche im Hause an und was sich sonst fände, – es wäre ihr also unmöglich, nach der kranken Dame zu sehen; sie übernehme nichts, was sie nicht gewissenhaft ausführen könnte. Constanze mußte also diesen Gedanken aufgeben; sie erklärte der Frau nur, sie wünschte die Wohnung, vielleicht auch für länger, zu behalten und erbat sich ihre und ihres Knaben Hilfe zur Herbeischaffung einer Droschke und zur Überführung der hilflosen Kranken in den Wagen.

Welch' eine Heimfahrt! »Wer weiß, was zu Hause vorgeht!« wiederholte sich Constanze beständig mit ängstlich klopfendem Herzen. Bis jetzt hatte eine wunderbare Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit ihr über die schrecklichsten Momente hinweggeholfen, – aber was würde noch geschehen? Mit welchen Menschen würde sie jetzt zu verkehren haben, welche Zumutungen würden noch an ihre so ungeübte Kraft und Besonnenheit herantreten? Der Wagen hielt, der Portier rief auf ihre Bitte das Hausmädchen herunter, damit dieses der Herrin aus dem Wagen und die Treppe hinaufhelfe. Angstvoll forschte Constanze in den Mienen des Mädchens und wagte endlich die Frage: »War jemand da?« Nein, Gottlob niemand! Und jetzt am späten Abend würde auch sicher niemand mehr kommen, er und die Nacht gehörten ihnen noch ungestört, das durfte sie hoffen.

Welcher Art die Schrecknisse waren, die Constanze fürchtete, wußte sie selbst nicht, – keine Ahnung hatte sie von dem Verlauf solcher Dinge, wie sie der Zusammenbruch eines Geschäftes, die Flucht und Strafbarkeit des Inhabers mit sich bringt, aber gerade das Unbestimmte der Gefahr machte sie unsicher und ihre sonst so tapfere Seele völlig kleinmütig und verzagt. Dazu kam der Zustand der Tante, dessen Bedenklichkeit sie sich nicht verhehlte, endlich die Verlegenheit den Dienstleuten gegenüber, wenn man in die Wohnung eindringen und alles fortnehmen würde. Aber mit Sinnen und Fürchten, das sah sie ein, war nichts gethan, – gehandelt mußte werden, planmäßig gehandelt, so lange es noch Zeit war, und die Stille des Abends kam ihr dazu gerade gelegen.

Sobald sie die Tante, die völlig apathisch war und nur manchmal konvulsivisch zusammenschauerte, mit Hilfe des Hausmädchens zu Bett gebracht, wartete sie noch eine Weile, bis alles im Hause still war und begann dann eine eifrige Thätigkeit. Körbe, Kisten und Reisetaschen brachte sie in die geräumige Garderobenkammer, die nichts enthielt, als Frau Lindheims und ihre eigenen Kleider, dann holte sie aus allen Gemächern und Gelassen die Gegenstände, die der Tante und ihr gehörten und packte alles sorgfältig ein. Zuletzt fand noch der Messingkäfig mit dem alten Kanarienvogel, den Frau Lindheim aus N. mitgebracht, seinen Platz auf einem Korbe und damit war das Eigentum der beiden Frauen in transportfähiger Verpackung beisammen. Constanze kehrte jetzt an das Bett der Tante zurück, die im Halbschlummer Vergessenheit ihrer Lage gefunden hatte, und begann, todmüde von den gehabten Aufregungen und Anstrengungen, über das zunächst Notwendige nachzudenken. Daß man sie heut noch ungestört gelassen, erschien ihr als ein Wunder, aber morgen in aller Frühe, das wußte sie, würde man kommen und zu furchtbaren Maßregeln schreiten. Dann durften die Dienstboten nicht mehr im Hause sein, sie mußte sie schon vorher entlassen, – es galt also, einen Vorwand dafür zu ersinnen. Aber welchen? – Ach, wozu eine Unwahrheit sagen?

Die Sprache stand ihr schlecht zu Gebote, sie hatte also Grund, jedes überflüssige Wort zu vermeiden und konnte sich mit ganz kurzer Erklärung begnügen; den Leuten aber mußte es recht sein, wenn sie bis zum Ablauf ihrer ausbedungenen Zeit an Lohn und Kostgeld entschädigt wurden. Nur früh mußten sie fort, ganz früh, ehe die unbekannten Schrecklichen kamen, Constanze durfte also in dieser Nacht nicht zu Bette gehen, um das erste Erwachen des Lebens im Hause nicht etwa zu verschlafen.

Furchtbar lang dehnte sich die Nacht, in der Constanze sich nur hin und wieder, den Kopf an das Kissen der fiebernden Tante geschmiegt, einige Augenblicke leichten Schlummers gönnte. Endlich wurde es Tag und allmählich erwachten auch die Hausbewohner und gingen an ihre Geschäfte. Die Hauslieferanten kamen, der Bäcker zuerst, die Mädchen bewegten sich in gewohnter Weise umher, – jetzt war es Zeit. Constanze ging nach der Küche, wo beide Mädchen sich gerade befanden. »Ich habe von der lieben Tante, die leider recht krank ist, den Auftrag, Ihnen etwas mitzuteilen. Gestern ist Herr Lindheim verreist, er bleibt lange fort, und heut, noch diesen Morgen, verlassen auch wir die Wohnung. Vorher sollen Sie beide fort, jetzt gleich, – es ist durchaus notwendig. Sie erhalten volle Entschädigung für Kost und Lohn.«

Die Mädchen waren ganz bestürzt und konnten sich in die sonderbare, schleunige Entlassung nicht finden. Das Hausmädchen fragte weinend, was es verbrochen habe, die Köchin erklärte trotzig, sie brauche sich das nicht gefallen zu lassen; Constanze aber schnitt ihren Protest mit der Frage ab, wie viel ihre Ansprüche betrügen und wiederholte, daß nur die dringende Notwendigkeit sie zwinge, so zu verfahren. Endlich gaben die beiden ihren Widerstand auf, die Aussicht, bei vollem Lohngenuß eine Zeitlang feiern zu können und mehr noch die instinktive Ahnung, daß hier sehr ernste Umstände vorlägen, die keine guten Zeiten in der Familie verhießen, machte ihnen das Gehen selbst wünschenswert und so willigten sie in alles. Eine Viertelstunde später hatten sie ihre Sachen gepackt, ihr Geld und ein französisch abgefaßtes Zeugnis erhalten und Wohnung und Haus verlassen.

Jetzt atmete Constanze auf; was auch kommen mochte, dünkte ihr minder schwer, da sie die Zeugenschaft dieser Mädchen nicht zu fürchten hatte. Sie bereitete geschickt das gewohnte Frühstück für sich und die Tante, nötigte dieser, die erwacht war, mit sanfter Überredung etwas auf und stärkte sich selbst, dann erfrischte sie das überwachte Gesicht mit kaltem Wasser und kleidete sich um. Sie hatte nur eben dies Geschäft beendet, als die Thürglocke hastig und ungestüm gezogen wurde. »Sie sind's!« dachte sie und ging mit wankenden Knieen und wild pochendem Herzen hinaus, um zu öffnen.

Mehrere Herren, anscheinend Beamte, überschritten sofort, ohne ihre Aufforderung abzuwarten, mit kurzem Gruße die Schwelle. »Was wünschen die Herren?« fragte Constanze zitternd. »Wir möchten Herrn Lindheim sprechen.« – »Herr Lindheim ist nicht hier,« stammelte das Mädchen. »Davon werden wir uns selbst überzeugen,« sagte der Herr, »und ich muß bitten, unser unangenehmes Geschäft nicht durch falsche Angaben zu erschweren! Zunächst – Wer sind Sie?« – »Die dame de compagnie von Frau Lindheim.« Der Beamte nickte kurz und nahm im Wohnzimmer Platz, wo er mitgebrachte Schreibmaterialien auf den Tisch vor sich hinlegte, während zwei seiner Begleiter sich in die anderen Gemächer begaben.

»Nicht hier hinein, bitte!« rief Constanze mit flehend erhobenen Händen, als der eine der Männer auf das Schlafzimmer zuschritt, in dem Frau Lindheim ruhte; »da liegt eine kranke, alte Dame, sie würde zum Tode erschrecken, wenn Sie hineingingen.« Der Beamte sah den Herrn im Wohnzimmer fragend an, doch dieser zeigte gebieterisch nach der Thür. »Nur vorwärts, vorwärts!« befahl er und fügte höhnisch auflachend hinzu: »Das kennen wir; in den Zimmern, wo die Gesuchten am sichersten zu finden sind, liegen merkwürdigerweise immer Schwerkranke.«

Constanze eilte dem Manne voran an das Lager der Kranken. Sie saß, von dem Klingeln erschreckt, aufrecht, jetzt gewahrte sie den Fremden, der in das Zimmer drang, und als sie, ihm entsetzt zuschauend, sah, wie er die Möbel vom Platz rückte, die Spinden öffnete, die Vorhänge untersuchte und selbst unter ihr Bett blickte, faßte sie sich mit einem wilden Schrei an die Schläfen und sank dann bewußtlos in die Kissen zurück.

Was dann folgte, entzog sich ihrer Kenntnis, da sie länger als vierundzwanzig Stunden in dumpfer Betäubung dalag. Sie wußte nichts von der gerichtlichen Siegelung der ganzen Wohnung, nichts von den Verhören, denen Constanze unterworfen wurde, noch von den Schwierigkeiten, die man ihr machte, als sie verlangte, daß ihre und der Tante Sachen von der Beschlagnahme ausgeschlossen wurden; alle diese Dinge waren erledigt, von der armen Constanze durchgefochten, als die Kranke aus ihrer Lethargie erwachte, und niemand hinderte die beiden Frauen mehr, den Schauplatz der schrecklichen Scenen mit ihren Habseligkeiten zu verlassen.

Der Portier des Hauses, dessen Frau der armen Constanze an dem Tage geholfen hatte, wo sie inmitten der gesiegelten Sachen am Bett der Kranken ausharren mußte, war freundlich behilflich, als es galt, Frau Lindheim in den Wagen zu bringen, der sie dem neuen, dürftigen Heim zuführen sollte. Bei der Ankunft mußte Constanze Frau Strauß, die Wirtin, herunterholen. Mehr einer Leiche als einem lebenden Wesen glich die Dulderin, als sie endlich, von beiden Seiten geführt, die Schwelle des Zimmers überschritt, – aber doch dünkte es Constanze, als sei sie nach all den harten Kämpfen in einen Hafen der Ruhe eingelaufen, als werde hier das arme, verwundete Mutterherz Heilung finden. Und sie selbst, Constanze, sie war so sterbensmüde, so erschöpft, daß jedes stille Plätzchen, an dem sie Ruhe erhoffen durfte, ihr wie ein Paradies erschien.


 << zurück weiter >>