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Durch die Straßen von Courtrai wanderte, von einem kleinen Knaben geführt, ein hochgewachsener Mann mit männlich schönem, gebräuntem Gesicht. Ohne Aufenthalt, wie von Ungeduld getrieben, ging er vorwärts, – keines Blickes würdigte er das schöne, gothische Rathaus, keines Blickes die alte Frauenkirche noch sonstige Merkwürdigkeiten der interessanten Stadt, obgleich sein kleiner Begleiter ihn unablässig in breitem Flämisch auf diese Herrlichkeiten aufmerksam machte. Endlich blieb der Knabe vor einem stattlichen alten Hause stehen und deutete auf die in großen Buchstaben über der Thür prangende Firma: Jean Maurice Meunier. »Ah, da wären wir also!« sagte der Fremde französisch. »Du kannst jetzt gehen, mein Junge, ich finde mich nach Deines Vaters Geschäft nachher schon allein zurück. Schönen Dank einstweilen.«
Der Fremde trat in das Haus. Der geräumige, nach dem Hofe offene Flur, den er durchschreiten mußte, war voller Fässer und Kollis und von einem starken Geruch nach Kaffee und Gewürzen durchzogen. Vom Hofe her vernahm man das Klirren von Wagenketten, das Niederfallen der Wagenleitern, die laute, eintönige Stimme eines Angestellten, der etwas zählte und verglich. Aus allem merkte man, daß man sich in einem jener alten Warenhäuser befand, die sich seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn vererben, jede Einzelheit deutete auf das Alter und die Gediegenheit der Großfirma.
»Herr Meunier zu sprechen?« fragte der Fremde einen vom Hofe kommenden jungen Mann. Derselbe führte ihn höflich bis an eine Thür, die die Aufschrift: »Privatcomptoir« führte, und empfahl sich mit einer Verbeugung. Der Fremde klopfte an, und als von drinnen ein » Entrez!« ertönte, trat er ohne Zögern ein. Auch dem Comptoir sah man es an, daß es seit langer, langer Zeit demselben Zwecke diente; es war ein altväterisch ausgestatteter, aber anheimelnder Raum.
»Womit kann ich dienen?« fragte der alte Herr, der beim Eintritt des Fremden von dem mächtigen Contobuch, an dem er gearbeitet, aufsah und sich der Thür zuwandte. »Ich komme im Auftrage der Firma Van Druysen und Comp. in Rotterdam, deren Vertreter und Bevollmächtigter ich auf Sumatra bin,« sagte der Fremde, einige Legitimationspapiere überreichend. »Mein Chef hat mit großem Bedauern bemerkt, daß die langjährigen, ihm so schätzbaren Beziehungen zu Ihrem werten Hause seit einiger Zeit immer weniger lebhaft werden, und ich fand diesen Umstand wichtig genug, um bei einer Reise nach Europa Courtrai zu berühren und die Gunst einer Unterredung mit Ihnen, Herr Meunier, nachzusuchen.«
»In der That viel Ehre für mich,« sagte der Handelsherr sichtlich geschmeichelt und lud den Besucher durch eine verbindliche Handbewegung ein, in einem der gepolsterten breiten Lehnstühle Platz zu nehmen, während er selbst sich in einem zweiten niederließ. »Also Sie sind eigens nach Courtrai gekommen, mein Herr,« fuhr er fort, indem er die schöne, vornehme Erscheinung des jungen Mannes mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtete, – »Um, wenn möglich,« fiel letzterer ein, »den Grund dieser für uns so bedauerlichen Veränderung zu erfahren. Es kann natürlich nicht unsere Absicht sein, Ihre Entschlüsse im mindesten zu beschränken oder auch nur zu beeinflussen! In dem Augenblicke, wo Sie mir sagen, daß Sie aus irgend einem Grunde, gegen den wir nichts vermögen, es vorziehen, Ihre Waren aus einer anderen Quelle zu beziehen, werde ich, Ihren Willen respektierend, von jeder weiteren Frage und Einrede abstehen. Liegen aber Ursachen vor, die sich bei gutem Willen vielleicht beseitigen lassen, dann bitte ich Sie, werter Herr, mir frei und offen zu sagen, was Sie uns in letzter Zeit entfremdet hat, und Sie sollen erfahren, daß es uns nicht an dem guten Willen fehlt, das Hindernis zu beseitigen.«
Der alte Herr lächelte und schaute den Fremden mit aufrichtiger Bewunderung an. »Druysen und Comp. können sich gratulieren,« sagte er, auf die Tischglocke drückend. »Wozu?« – »Zu ihrem Vertreter,« sagte Meunier und gab dem eintretenden Comptoirdiener einen Wink. Wenige Augenblicke später stand auf dem Tische vor den beiden Herren ein Präsentierteller mit Wein und Cigarren. »Nun bitte, langen Sie zu,« fuhr der alte Herr, dem Gaste einschenkend, fort, »und auch ich will mich bedienen. Der Wein soll ja die Zunge lösen, – so wird das, was ich Ihnen zu sagen habe, sich leichter aussprechen lassen.« – »Es wird Ihnen also schwer, mir Ihre Gründe zu nennen?« sagte der junge Mann herzlich; »o, so verzichte ich lieber auf die Auskunft, – nicht um die Welt möchte ich Sie zu Mitteilungen veranlassen, die Ihnen peinlich sind.«
Er hatte bei diesen Worten eifrig abwehrend seine Hand auf die des alten Herrn gelegt. »Nein nein,« sagte dieser, »lassen Sie nur! Es wird mir gut thun, einmal vom Herzen herunter zu sprechen. Bin sonst, weiß der Himmel, keine weichmütige Natur, im Gegenteil: wir Meuniers sind leider! leider! Eisenköpfe; aber Sie haben so eine Art, junger Herr, so eine besondere Art, – und dann bin ich Ihrer Firma auch zur Aufrichtigkeit verpflichtet, die könnte ja glauben, ich hätte mir einen anderen Lieferanten angeschafft. Also sollen Sie alles wissen.«
In diesem Augenblicke ertönte ein bescheidenes Klopfen an der Thür. »Herr Meunier,« sagte der eintretende Comptoirist, »Bartelet von der Firma George und Van Stroot wünscht Sie in dringender Angelegenheit zu sprechen.« »Ah, fatal,« sagte Meunier, zu seinem Gast gewendet, ärgerlich, »ich muß den Mann empfangen, und so bald geht der nicht fort. Aber ich habe eine Idee. Wollen Sie uns heut Mittag die Ehre geben? Dann sind wir ungestört, meine gute Frau darf alles hören. Punkt drei Uhr erwarten wir Sie, da, schlagen Sie ein!« Er hielt ihm die Hand hin, in die der Fremde mit erfreuter Miene einschlug. »Auf Wiedersehen denn!« – »Auf Wiedersehen!«
Pünktlich um drei Uhr erschien der Geladene und wurde gleich in den mit gediegener, altväterischer Pracht eingerichteten Speisesaal geführt. »Nun, habe ich Dir zu viel erzählt?« rief der Hausherr nach herzlicher Begrüßung des Fremden einer ältlichen Dame zu, die dem Letzteren entgegen ging und die Hand zum Willkomm reichte. Der Fremde küßte die feine Hand ehrfurchtsvoll und warf einen raschen Blick auf das Gesicht der Dame. Die anmutigen Züge erzählten von still getragenem Herzeleid, die schönen Augen von vielen vergossenen Thränen, und doch erinnerte ihn das liebe Frauenantlitz an ein junges, liebreizendes Gesicht, das ihm über alles teuer war.
»Brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß das meine Frau ist,« sagte Meunier gut gelaunt. »Da sie die einzige Dame hier, erlaube ich Ihnen, sie zu Tisch zu führen. Allons donc, wenn ich bitten darf.«
Das in seiner Zusammenstellung einfache, aber vorzügliche Mahl ging unter allgemeinen Gesprächen vorüber, die allerdings den Gast vollends in der Gunst seiner Wirte befestigten, auf das Thema vom Morgen aber keinen Bezug hatten. Endlich brachte Meunier die Rede auf Druysen und Kompagnie. Der Kaffee war samt Zucker und Rum serviert worden und dies gab dem Hausherrn Gelegenheit zu der Bemerkung, daß er auch in seinem Haushalt nur Waren verwende, die von jener Firma herrührten. »So ist's bei uns von Alters her,« sagte er, sich in seinem Stuhle zurücklehnend, »so hielt es mein Vater und Großvater, und wenn ich nicht – ein kinderloser Mann wäre – dann würden meine Kinder und Enkel noch ebenso mit Druysen handeln. Es soll nicht sein,« fuhr er seufzend fort und sah nach seiner Frau hin, die mit Thränen zu kämpfen schien. »Wie Sie mich da sehen, lieber Herr, bin ich auf dem Punkte, mein altes, gutes, von den Vorfahren ererbtes Geschäft eingehen zu lassen, um es nicht fremden Händen übergeben zu müssen. Da haben Sie das ganze Geheimnis: ich brauche keine Waren mehr; das, was eine Firma durch Jahrhunderte aufrecht erhält, das Interesse des jedesmaligen Inhabers, sie groß und blühend dem Nachfolger zu übergeben, ich habe es nicht, – ich habe keine Kinder mehr.«
Die Hausfrau schluchzte leise, der Fremde aber sagte teilnehmend: »Es war Gottes Wille, sie Ihnen zu nehmen, – denn aus Ihrer Rede geht hervor, daß Sie nicht immer kinderlos waren.«
»Nein Herr, ich war ein glücklicher Vater, hatte zwei prächtige Töchter, aber nicht Gottes Wille hat sie mir genommen, sondern – – – doch wozu Sie mit halben Worten hinhalten? Ich habe Vertrauen zu Ihnen gefaßt und will, daß Sie meinen alten Geschäftsfreunden sagen können, warum die Firma Jean Maurice Meunier nichts mehr braucht. So hören Sie denn:
Vor langer, langer Zeit geschah es, daß einem meiner Vorfahren an einer gerade herrschenden Krankheit sämtliche Kinder starben bis auf die jüngste Tochter. Als nun diese auch erkrankte, thaten die Eltern das Gelübde, diese Tochter, wenn sie genesen sollte, dem Kloster zu weihen und es zur Familienregel zu machen, daß jede jüngste Tochter der Meunier'schen Familie ebenfalls den Schleier nehme. Nun ist es hier zu Lande schon an sich etwas ganz Gewöhnliches, daß von mehreren Töchtern eine ins Kloster geht; deshalb wurde an der Regel durch Jahrhunderte treu festgehalten, und es hieß in der Familie, daß ein Zuwiderhandeln Tod und Unglück über die Schuldigen heraufbeschwöre. Lieber Herr, ich bin in dem Glauben aufgewachsen und so schien es mir selbstverständlich, daß unsere Constanze als Jüngste diesen Weg einschlage; auch das Kind wußte es nicht anders, obgleich ihr sonniges Gesichtchen und ihr strahlendes Lächeln wirklich nicht hinter Klostermauern paßten. Aber wie gesagt, wir wußten es alle nicht besser, als daß es sein müßte, – und rissen sie uns vom Herzen – das reizende, zärtliche Kind – und schickten sie nach N., wo schon mehrere aus unserer Gegend waren – –«
Meunier versagte die Stimme, die Mutter schluchzte laut. Erst nach einer Pause fuhr der alte Mann fort: »Um es kurz zu sagen, die Patin, die sie begleitet, hat sie richtig an Ort und Stelle gebracht; nach einigen Tagen kommt aber ein Brief von Constanze, in dem sie uns flehentlich bittet, sie nicht ins Kloster einzusperren, sie würde da langsam sterben, es wäre eine Sünde, wenn sie mit solchem Herzen das Gelübde ablegte, – ein Brief zum Steine erweichen, Herr, aber wer nicht weich wurde, das war ich, der Meunier'sche Eisenkopf. Meine Frau fällt mir um den Hals und bittet und fleht, dem Kinde den Willen zu thun, aber das reizt mich nur noch mehr zur Wut und ich schreibe einen Brief voller Drohungen, einen rasenden Brief, in dem ich erkläre, Constanze sei nicht mehr unser Kind, wenn sie nicht gehorche, und sie solle dann nie, nie mehr wagen, uns vor die Augen zu kommen. Ausgelöscht sollte sie sein aus unserem Gedächtnis und so weiter. Und dann schreibe ich an die Oberin, das Mädchen wäre rebellisch und sie möge sie sehr streng bewachen, auch das Noviziat nach Möglichkeit abkürzen. Es hat aber alles nichts geholfen, – kurze Zeit darauf kommt ein Brief von der Oberin, – Constanze ist geflohen und niemand weiß, wer ihr geholfen und wohin sie sich gewendet. Meine arme Manon hier bittet wieder unter tausend Thränen für die Verlorene und grämt sich im Stillen, aber ich verbiete, daß ihr Name genannt werde, ich rase und tobe wieder wie ein Unmensch, wenn ich nur sehe, daß die Mutter um sie geweint hat.
Jetzt haben wir nur noch ein Kind, denke ich, und male mir aus, wie durch unsere Älteste, die Juliette, das Geschäft fortgeführt werden wird, das heißt, durch ihren künftigen Gatten. Den Schwiegersohn habe ich natürlich schon lange ausgesucht, und wenn er auch weder meiner Frau noch Juliette gefällt, so hat das in meinen Augen nichts zu sagen; die Hauptsache ist, daß ich diesmal meinen Willen durchsetze. Der Bewußte ist ein entfernter Verwandter, der auch Meunier heißt, sehr unbedeutend, ziemlich häßlich, dumm und nicht einmal gutmütig, – aber der Name giebt den Ausschlag; es würde doch schön sein, denke ich, wenn die Firma später hieße: Jean Maurice Paul Meunier. Das war also aufs beste ausgedacht, wie ich aber meiner Juliette den Plan mitteile und ihr befehle, gegen den Paul freundlich zu sein, als gegen ihren künftigen Verlobten, gesteht sie mir, sie liebe ihren Musiklehrer und sei mit ihm einig.
Am anderen Tage kommt der junge Mensch, der Lehrer, erklärt mir dasselbe, sagt, er habe sein gutes Auskommen und werde Juliette nach besten Kräften glücklich machen u. s. w. Wie er nun so vor mir steht mit allem Freimut und aller Festigkeit, wie einer, der in seinem guten Rechte ist, übermannt mich wieder der unselige Zorn, ich nenne ihn einen Lump und Schurken über den andern, sage ihm auf den Kopf zu, er hätte es nur auf die reiche Erbin abgesehen und dergleichen mehr. Er beteuert, er wolle auf jeden Geldvorteil verzichten, von Juliette aber nicht lassen, er sei auf bestem Wege in seiner Kunst, habe schon tüchtige Erfolge, – je männlicher und selbstbewußter aber der Lambert wird, desto toller werde ich und weise ihn endlich unter gräßlichen Beschimpfungen aus dem Hause. Am nächsten Tage erkläre ich meiner Tochter, sie möge sich bereit machen, übermorgen ihre Verlobung mit dem Vetter Paul zu feiern. Das Mädchen fällt mir um den Hals und fleht, ich solle es nicht unglücklich machen, es liebe den Lambert und lasse nicht von ihm, – meine Frau bettelt ebenfalls, aber wie gewöhnlich macht mich das nur halsstarriger und ich donnere die beiden an: »Niemals bekommt Dich der Klimperer! Er soll sich hüten, mir noch einmal vor Augen zu kommen, – und übermorgen ist Verlobung.«
Die Juliette ist nun still hinausgegangen; am Morgen des Verlobungstages finden wir aber statt ihrer einen Brief, in dem sie schreibt, daß sie schon am Abend vorher mit ihrem Lambert entflohen sei. Sie wären nach England gereist, um sich da trauen zu lassen, und in dem Augenblicke, wo der Brief gelesen würde, wohl schon Mann und Frau. Sie bitte um Verzeihung, meine Härte habe sie zum Ungehorsam gezwungen; und sie hoffe, es werde die Zeit kommen, wo sich das Elternhaus und Elternherz ihr und dem tiefbeleidigten Manne wieder öffnen würden.
Wie ich das gelesen habe, Herr, bin ich ganz still gewesen, denn ich habe meinen Stolz, die Hoffnung meines Lebens, das gute, alte Geschäft zu Grabe getragen. Meine Frau nahm es ruhiger auf, ich glaube, sie freute sich im Stillen, daß die Kinder ihr Glück durchgesetzt hatten, und den Lambert hatte sie immer sehr hoch gehalten. Aber ich – ich war wie gebrochen. Für wen sollte ich nun das Geschäft noch aufrechthalten? Etwa für den Paul? Oder für ganz Fremde? Wenn ich so eifrig darauf bestanden hatte, den Dummkopf zum Schwiegersohn zu machen, so war's nur Trotz gewesen, nur kindischer Widerspruch gegen die Tochter und den Musiker.
So stehen die Dinge, Herr. Sagen Sie Van Druysen, der alte Meunier wolle, nein müsse seine Firma allmählich ausgehen lassen, wie ein Licht. Glauben Sie, das Herz blutet mir dabei und ich möchte lieber gleich in die Grube fahren, ehe ich das erlebe. Aber was bleibt mir anderes übrig? Selbst wenn ich mich mit dem Lambert versöhnte, würde der Mann doch nie seine Kunst aufgeben und Kaufmann werden, – hat auch gar nicht das Zeug dazu.«
»Und doch sollten Sie noch nicht die Hoffnung aufgeben, das Geschäft Ihrer Familie zu erhalten,« sagte der Gast ermutigend. »Dank Ihrem ehrenden Vertrauen habe ich einen Einblick in die Verhältnisse gewonnen und versichere Ihnen, daß mir die Sachlage durchaus nicht so schlimm erscheint. Nehmen Sie einmal an, Ihre jüngste Tochter kehrte Ihnen wieder, – warum sollte sie es nicht, wenn Sie Ihr verzeihen, ihr liebevolle Aufnahme zusichern? – Und nehmen Sie weiter an, auch dieser Tochter Herz hätte gesprochen und sie führte Ihnen den erwünschten Schwiegersohn, einen wackeren Kaufmann, zu? Könnte da nicht alles noch gut werden?«
»Herr,« rief Meunier, hocherregt aufspringend, »warum spiegeln Sie mir Hoffnungen vor, die sich doch nicht erfüllen können? Ich sage Ihnen, wenn ich unser armes, verstoßenes Kind noch einmal sehen, noch einmal in meine Arme schließen könnte, dann würde ich glücklich sein, auch ohne die Aussicht auf den Schwiegersohn. Nur wiederhaben möchte ich sie, oder doch wissen, was aus ihr geworden ist, – ob sie noch unter den Lebenden ist, oder ob meine Härte – sie – in den Tod getrieben.«
Frau Manon hatte gespannt den Worten des Fremden gelauscht, ihr ahnendes Mutterherz hörte mehr daraus, als der reuevolle Gatte, und eine unbestimmte Hoffnung begann sich leise in ihr zu regen. »Jean,« sagte sie schüchtern, »besinne Dich einmal, – schrieb unsere Constanze nicht von einem Reisegefährten, einem jungen Kaufmann, an den sie immer denken müßte? Schrieb sie nicht in Verbindung damit, es wäre eine Sünde, mit solchen Gedanken ins Kloster zu gehen?«
Meunier gestand, in seiner sinnlosen Wut die Einzelheiten des Briefes gar nicht beachtet zu haben; da aber ging Frau Manon einen Augenblick aus dem Zimmer und kehrte mit dem Briefe, den sie als letztes Andenken an das verlorene Kind sorglich verwahrt hatte, zurück. »Da, es ist so,« rief Meunier, als er einen Blick hineingeworfen hatte; »o ich blinder Thor, was habe ich gethan? Sie, meinen Liebling, meinen Sonnenschein habe ich von mir getrieben, und ein Kaufmann lag ihr im Sinn, vielleicht ein prächtiger, lieber Mensch wie Sie, Herr! O wer sagt mir, wo ich sie finde? Nur eine kleine Spur von ihr, damit ich sie an mein Herz nehmen, alles wieder gut machen kann!«
»Sie werden sie finden,« tröstete der Fremde, »vielleicht früher, als Sie glauben. Wenn Sie ihr nur erlauben, als reuige, zärtliche Tochter zu Ihnen zurückzukehren, und wenn Sie nicht mehr darauf bestehen, daß sie sich selbst der Familiensatzung zum Opfer bringt, dann wird sie kommen, ganz gewiß, denn sie sehnt sich schmerzlich nach Ihrer Verzeihung, Ihrer Liebe.«
»Herr,« rief Meunier außer sich, während Frau Manon erregt näher trat, »was wissen Sie von unserem Kinde? Wollen Sie einen grausamen Scherz mit uns treiben? Nein, Sie sehen nicht so aus, – aber wer sind Sie, daß Sie uns solche Dinge sagen?«
Der Gast war aufgestanden und überreichte jetzt mit tiefer Bewegung dem Hausherrn seine Karte. Frau Manon stellte sich neben ihren Gatten und beide lasen: Adalbert Freiherr von Rechnitz. »Rechnitz, – wo habe ich doch den Namen schon gehört?« fragte Meunier nachdenklich. »Hier sieh,« sagte seine Frau auf den Schluß des Briefes deutend, »Freifrau von Rechnitz in N., das war die Adresse, unter der Constanze unsere Antwort erbat.« »Die Adresse meiner Mutter,« ergänzte Adalbert. »So wissen Sie vielleicht, was aus unserer Tochter geworden, stehen am Ende in Verbindung mit ihr?« – »Gewiß, in einer sehr innigen,« sagte Adalbert, beiden Eltern mit liebevollem Blicke die Hände reichend, »denn ich, ich bin der Mann, den das Schicksal auf der Reise nach N. mit Constanze zusammenführte, der sie von ganzem Herzen lieben lernte und ihre Liebe gewann. Wir sind verlobt und hoffen mit Gottes Hilfe auf eine glückliche Vereinigung, – nur Ihr Segen fehlt uns noch. Vater Meunier, Sie schenkten mir Vertrauen, ehe Sie noch meinen Namen wußten, – werden Sie es auch dem Manne schenken, der als Constanzens Verlobter vor Sie hintritt und Ihnen Ihr Kind zurückführen will?«
Meunier war wie betäubt, er vermochte nicht an sein Glück zu glauben. »Und wer bürgt mir dafür,« fragte er unsicher, »daß alles so ist, daß wir unser Kind wirklich wiedersehen sollen? Sie führten sich als Vertreter von Druysen und Comp. ein – –« »Der ich wirklich bin,« sagte Adalbert, »wie meine Papiere Ihnen bewiesen. Ich habe Sie in keiner Weise getäuscht, auch der geschäftliche Zweck war nicht erfunden, wenn ich Ihnen auch verschwieg, wie hochwillkommen mir die Gelegenheit war, Sie kennen zu lernen, Sie vielleicht zu versöhnen. Daß ich mich nicht sofort als Constanzens Verlobter vorstellte, war von der Vorsicht geboten, – ich mußte ja erst Ihre Gesinnungen erfahren.« – »Und wenn es bei den geschäftlichen Verhandlungen geblieben wäre, wenn ich Sie wie andere kurz abgefertigt hätte, wie dann?« – »Das weiß ich nicht,« sagte Adalbert. »Ich kam hierher, weil ich meiner geliebten Constanze den Kummer, der ihr allen Frieden raubte, vom Herzen nehmen wollte, und weil wir übereingekommen waren, uns nicht ohne Ihren Segen zu verbinden. Ich wäre auch ohne den geschäftlichen Anlaß gekommen; daß er sich aber bot, betrachtete ich als einen Wink des Himmels. Und wenn Sie, Vater Meunier, mich kurz abgefertigt hätten, so wäre ich zur Mutter meiner Braut gegangen, hätte ihr alles gesagt, an ihre Liebe appelliert –«
»Und nicht vergebens,« sagte die Mutter. »Aber wo ist Constanze? Wann werden wir sie sehen?« Adalbert erzählte alles, auch daß Constanze von seiner Reise nichts wisse und durch die Versöhnung der Eltern überrascht werden solle. Dann sprach er von sich selbst, seiner Stellung und Familie, zeigte Briefe des Handlungschefs, die sein ehrenvolles Verhältnis zu diesem beleuchteten und schloß mit der Bitte, ihn als Sohn anzunehmen. Seine Constanze, sagte er, sei bereit, ihm in die ferne Heimat nach Sumatra zu folgen.
»Nichts da,« rief Meunier, der sich nun in sein Glück zu finden begann, »von Sumatra soll nicht mehr die Rede sein, sobald Sie mein Eidam sind. Oder haben Sie doch nur geflunkert, als Sie mir sagten, Constanze werde mir mit ihrem Manne den Nachfolger ins Haus bringen? Da, Mutter, sieh ihn an, den künftigen Inhaber unserer Firma; ist es nicht, um stolz zu werden? Hierher, Schwiegersohn, Prachtmensch, an mein Herz!«
Und nun folgten glückliche Beratungen. Man beschloß, daß Adalbert noch an diesem Abend abreisen sollte, um Constanze zu den Eltern abzuholen; vorher aber ging ein Brief an seine Mutter und Schwester ab, in welchem sie nicht nur von Adalbert, sondern auch von Herrn und Frau Meunier herzlich gebeten wurden, nach Courtrai zu kommen, damit Adalbert das Zusammensein mit ihnen genießen könne, ohne das Wiedersehen mit der Braut und die Wiedervereinigung des Kindes mit den Eltern durch einen Besuch in N. verzögern zu müssen. Das Ehepaar Meunier bat noch ausdrücklich, sie möchten sein Haus als das ihrige betrachten und sich gleich auf einen recht, recht langen Besuch einrichten.
Bis zum Abend blieb man noch zusammen. Meunier wurde immer entzückter von seinem Schwiegersohn und die Augen seiner Frau hingen mit mütterlichem Wohlgefallen an seiner schönen, männlichen Erscheinung. Adalberts Erwähnung des jungen Lindheim als eines guten Stellvertreters während der Reise erregte große Freude. »Also ein Vertreter wäre schon da?« rief Meunier. »Ei, dann braucht man sich ja kein Gewissen daraus zu machen, Sie eines Tages Druysen und Comp. zu entführen, wenn Sie hier notwendiger sind.«
Am Abend nahmen beide von dem Mann, den sie schon jetzt im Herzen ihren Sohn nannten, auf dem Bahnhofe unter innigen Umarmungen Abschied. »Reisen Sie mit Gott,« rief der Vater ihm noch ins Coupé nach, – »und bringen Sie uns unser Kind, unsere geliebte Constanze!«