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Die vornehmen Säle, die ich sonst immer leer gefunden, waren mit zwanzig oder dreißig Herren angefüllt, die in der besten Laune disputierten, wie Bankdirektoren in ihrer guten alten Zeit taten, wenn sie nach kurzer Sitzung zum langen Frühstück übergingen. Man hatte die Gründung einer Città Academica in Rom beschlossen und schien von dem Empfang beim Staatschef sehr befriedigt.
Als Mussolini die vorgerückte Stunde mit dieser Sitzung entschuldigte, schilderte ich, worüber ich beim Zuschauen nachgedacht hatte: alle diese Besuche, einzelne oder Deputationen, brachten sicher ihr ganzes Ich an seinen Schreibtisch.
– Und doch, fuhr ich fort, sehen Sie immer aus wie einer von den neuen mechanischen Notizblocks, von denen ein Druck alles fortlöscht, so daß sie gleich wieder weiß werden. Wie können Sie das Pathos Ihrer Anfänge über alle Kleinigkeiten hinweg sich erhalten, sozusagen aus einer Leidenschaft eine Ehe aufbauen? Geht denn im Trubel des Details Ihre erste Vision vom Staate nicht unter? –
Er war eine Minute nach der Universitätsstadt vollkommen »weiß«; die plötzliche Wendung vom Praktischen ins Platonische schien ihn heut und an andern Tagen sogar zu erfrischen, wie ein Übergang vom Zimmer ins Freie.
»Diese Gefahr besteht, sagte er jetzt. Die tägliche Praxis kann die Seele sterilisieren. Um das zu vermeiden, muß man sich mit der lebenden, atmenden Natur der Massen und wiederum des Einzelnen dauernd erfüllen: dann bleibt das Dichterische erhalten, und man kann der Unfruchtbarkeit der Bürokratie entgehen. Die ist wirklich geschaffen, um den Geist zu erschlagen. Darunter leiden alle Verwaltungen. Ich suche das durch den Gedanken an das Menschliche zu überwinden, mit seiner Not und Schönheit, seiner Schwäche und Größe.«
– Wenn Sie auf diese ersten Visionen zurückblicken, sagte ich, die nun schon ein Dutzend Jahre hinter Ihnen liegen: ist das, was Sie erreichten, mit dem konform, was Sie planten? –
»Interessante Frage«, sagte er, rückte vor, stützte die Arme auf und dachte eine Weile nach, bevor er erwiderte: »Nein. Es ist nicht dieselbe Straße, die ich vorausgesehen habe. Aber es ist noch derselbe Wanderer. Der Weg hat sich verändert, denn die Geschichte tut es. Das Individuum bleibt dasselbe.«
– Also verändert die Erfahrung beständig den ersten Plan? –
»Natürlich. Das Material des Politikers, der Mensch, ist ja eine lebendige Materie. Das ist anders beim Bildhauer, der Marmor, Bronze oder Stein zu bearbeiten hat. Mein Material ist veränderlich, komplex, dem Einfluß der Toten unterworfen, auch dem Einfluß der Frauen. Die ganze Materie ist derart flexibel, daß die Folgen einer Handlung durchaus nicht immer so sind, wie man vorher dachte.«
– Warum Einfluß der Frauen? fragte ich. –
Er lächelte nie, wenn ich mich mit einer dieser leeren Fragen dumm stellte, um ihn herauszulocken. Ich kannte seine Abwehr gegen die Frauen im Staat aus früheren Gesprächen und schloß aus dieser Hartnäckigkeit, multipliziert mit seiner Phantasie, daß sie ihm problematisch vorkommen.
»Das ist mir eine ungeklärte Welt, sagte er jetzt, ihr Einfluß. Weininger hat in der Hauptsache richtig gesehen, auch wenn er schließlich übertrieb. Er hat mir viel klargemacht.«
– Sie scheinen mir, sagte ich, ganz wie die Männer, die ich in der Geschichte studierte, zu sehr Dichter, um in entscheidenden Momenten nicht rein intuitiv zu handeln, wie in einer Eingebung. –
»Das ist wahr, sagte er. Der Marsch auf Rom war durchaus eine solche Eingebung. Am 16. Oktober haben wir ihn in einer Versammlung in Mailand beschlossen. Aber das Datum des 28. wählte ich plötzlich, weil ich fühlte: ein einziger Tag Verzögerung kann alles unmöglich machen. Der Marsch auf Rom war nur an diesem Tage möglich.« Er schwieg, in Erinnerung; dann setzte er auf seine Art, die durchaus lieber zu präzis sein will, als zu pathetisch, hinzu: »Vielleicht.«
– Dann müssen Sie, sagte ich, von Vorgefühlen geleitet und wohl auch gequält werden. –
»Beides. Das sind die unterbewußten Ereignisse, körperlich und seelisch. Im Sommer spüre ich den Herbst voraus. Ich spüre auch Drohungen voraus und fange an manchem Tag eine Sache nicht an. Als ich am 31. Oktober 26 in Bologna war, drückte mich die Atmosphäre derart, daß ich den ganzen Tag etwas Schlimmes kommen sah. Abends kam ein Attentat.«
– Warum haben Sie dann nicht besondere Maßnahmen zu Ihrer Sicherheit getroffen? –
»Weil ich durchaus Fatalist bin.«
– Da müßten Sie logischerweise der Polizei allen und jeden Schutz verbieten, den man für Sie organisiert. –
»Jeder Schutz, sagte er, wirkt nur bis zu einer gewissen Grenze. Ich lasse immer eine große Spalte dem Unvorhergesehenen offen, dem guten und dem bösen.«
– Auch bei Entscheidungen des Staates? –
»Erst recht. Ein Gesetz kann die umgekehrten Folgen haben, als die, die ich vorgedacht.«
– Darin steckt ein Reales, sagte ich, und ein Mystisches. Ich folgere, daß Sie Talismane besitzen. Alle selbstbewußten Naturen gründen sich ihren eigenen Aberglauben. –
Er nickte: »Ich auch. Und ich habe welche.«
– Sie sollen eine Mumie, sagte ich, die man Ihnen geschenkt hatte, auf die Nachricht vom Tode des Lord Carnavon sogleich haben wegtragen lassen, weil dieser offenbar aus Rache für die Öffnung des ägyptischen Grabes gestorben war. –
»In diesem Falle war es kein Aberglaube, sagte er. Man soll die Toten nicht herumschleppen. Das ist eine Profanation des Todes.«
– Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, fragte ich weiter, daß der Glaube an Talismane von der Jugend zum Alter hin zunimmt? Oder hat er bei Ihnen abgenommen? –
– Sie haben sehr schön Ihre Jugend beschrieben, sagte ich. Es ist das Beste, was ich aus Ihrer Feder las. Merkwürdig, genau so geht es bei Trotzki. Vergleiche ich dies mit den Dichtungen Napoleons und anderer Staatsmänner, so scheint es doppelt wahr, daß ohne eine poetische Ader der handelnde Mensch nicht groß wird. –
»Der Politiker, sagte Mussolini, braucht zuerst und zuletzt Phantasie, sonst ist er trocken und kommt auf die Dauer zu nichts. Aber nicht bloß er. Ohne ein dichterisches Gefühl, ohne Phantasie kann doch niemand zu irgend etwas gelangen.«
– Und was schützt Sie heute davor, von der Phantasie beherrscht zu werden? –
»Die Erfahrung.«
– Jedenfalls, sagte ich, bleibt Ihnen die Kunst des Wortes, ohne die ich mir zum Beispiel Napoleons Laufbahn nicht denken könnte. Es gibt Manifeste und Reden von ihm, durch die er faktisch Siege errungen hat. –
»Die Macht des Wortes, sagte er, hat für den Regierenden unermeßlichen Wert. Es muß nur immerfort variiert werden. Zur Menge muß man machtvoll sprechen, logisch vor einer Versammlung, familiär zu kleinen Gruppen. Das ist der Irrtum vieler Politiker, immer denselben Ton anzustimmen. Natürlich spreche ich im Senat anders als auf der Piazza.«
– Also glauben Sie, fragte ich, an die Verwandtschaft zwischen Dichter und Staatsmann, die ich im Studium beider Menschentypen so oft bestätigt fand. Halten Sie nun für möglich, daß der Dramatiker dem Staatsmann den Weg bereiten kann? Geht er zum Beispiel im allgemeinen einer Revolution voraus? –
»Entschieden, sagte Mussolini. Als Denker und mit seiner hochentwickelten Phantasie ist der Dichter fast immer Prophet der neuen Zeit. Dante ist dafür ein großes Beispiel. Er zeigte die beginnende Befreiung des Geistes an. Einer bestimmten Revolution, wie Sie zu glauben scheinen, gehen aber die Dichter nicht voraus. Die Linien können sie nicht vorher feststellen, die ändern sich ja immerfort. Denker und Dichter sind wie Vögel, die das Gewitter anzeigen; sie wissen nur nicht, woher es kommt und wie sich's entladen wird. Die Enzyklopädisten zum Beispiel wollten die Befreiung der Klassen, aber die Linie der Entwicklung wußten sie nicht. Mirabeau blieb bis zum Schluß Royalist, sogar Danton hatte solche Gedanken und war zuerst nicht für die Republik. Der Engländer Young, der kurz vor der Revolution durch Frankreich reiste, berichtete: Alle erwarten ein Ereignis. Er hatte mit jedermann gesprochen und nur bemerkt, daß alle irgend etwas kommen sahen, aber nicht was.«
– Als Sie selber Bücher schrieben, sagte ich, hatten Sie das befriedigende Gefühl, etwas zu schaffen, oder nur die Resignation des Schreibenden und die Hoffnung, später zu handeln? –
»Warum Resignation?« fragte er aufmerksam.
– Ich habe es immer als Zurücksetzung empfunden, nur zu schreiben. Erst spät habe ich mich in diese passive Rolle gefunden und mich mit Byron getröstet, dessen Verse jemand verhaltene Parlamentsreden genannt hat. –
Er nickte, sagte aber dann: »Das gilt indessen nicht für die Jugend. Da bedeutet das Schreiben eine Übung des Geistes, wodurch man die Sachen in ihrer Vielseitigkeit sehen lernt. Auch wenn es später von der Wirklichkeit verworfen wird, weil es nicht praktisch war oder weil es die Entwicklung vorwegnahm. Mit 18 schreibt jeder Gedichte. Da ist man fast immer von der Phrase beeinflußt. Die Phrase ist für einen jungen Mann eine schöne Frau, in die er sich verliebt. Mit Vierzig sieht man dann die Fakten.«
– Mögen Sie Ihre Jugendbücher leiden? –
»Die Kardinalsgeschichte, sagte er, ist ein gräßlicher Schmöker, ich habe sie mit politischer Absicht für eine Zeitung geschrieben. Damals war der Klerus wirklich von korrupten Elementen durchsetzt. Das ist ein Buch zur politischen Propaganda.«
– Sie haben sich, sagte ich, aus Ihrer dichterischen Hälfte gewiß eine Kontrolle in die aktive hinübergenommen, eine Art Analyse Ihres Ich. In den entscheidenden Oktobertagen 22 hören und beschreiben Sie zum Beispiel, wie das Echo der Guardia Regia durch die verlassenen Straßen von Mailand hallte. –
Er nickte lebhaft und sagte: »Ich habe dies doppelte Fühlen, von dem Sie sprechen, immer in mir. Ich benutze es zur Prüfung des Bewußtseins.«
– Vielleicht sehen Sie dann auch, forschte ich weiter, Ihre eigenen Taten zu verschiedenen Zeiten in verschiedenem Lichte? Napoleon behauptete als Erster Konsul, er sei durch die Unfähigkeit der Direktoren zur Macht gekommen und habe nur Ordnung machen wollen. Als Kaiser erklärte er sich ganz anders. –
»Natürlich, sagte er. Die veränderte Stellung verändert den Rückblick auf die Wanderung.« Dann fügte er leise grollend hinzu: »Ich für meinen Teil bin übrigens durchaus nicht bloß gekommen, um Ordnung zu schaffen.«
– Darin unterscheiden Sie sich vom reinen Dichter, sagte ich. D'Annunzio gab mir in einem echten Dichterbekenntnis zu, er wäre nach Fiume nur gegangen, um zu handeln. –
»Das ist keine politische Norm, sagte Mussolini. Die Politik ist doch ein Mittel und kein Zweck.«
– Und doch, insistierte ich, haben Sie in der Jugend wiederholt geschrieben: »Das Ende der Schlacht kommt in zweiter Reihe. Der Preis liegt für uns im Kampf, auch ohne Sieg.« So redet der schöne Wahnsinn, der Dichter, der Jüngling. Glauben Sie das heute nicht mehr? –
Mussolini war mir mit Kopfnicken gefolgt, jetzt schob er auf seine Art Kinn und Lippe vor, blickte dunkler und entschlossen drein, als wollte er sich die Ideale seiner Jugend nicht rauben lassen und sagte:
»Durchaus! Da sind wir sogar wieder im Kern der faschistischen Philosophie. Als neulich ein finnländischer Philosoph mich bat, ihm den Sinn des Faschismus in einem Satze zu geben, schrieb ich in deutscher Sprache: Wir sind gegen das bequeme Leben!«
– Also sehe ich recht, fragte ich weiter, daß Sie Ihre Handlungen symbolisch verstehen? –
»Das geht auf die Formen zurück, in denen sich das Leben abspielt. Ohne Symbol wäre das Leben zufällig, indifferenziert.«
– Sie würden Napoleons Abschiedswort annehmen: Welch eine Ballade war mein Leben! –
»Wundervoll!«
– Und glauben Sie heute, nach so langer Erfahrung, die Menschen besser schildern zu können, wenn Sie wieder zu schreiben anfingen? –
»Viel besser! sagte er lebhaft. Übrigens, wie würden Sie sie einteilen?«
– In Handelnde und Betrachtende, sagte ich. –
Er setzte sich an den Tischrand, legte die Arme auf und machte sein ironisches Gesicht, wobei er sagte:
»Ich unterscheide sie zunächst in solche, die mich anziehen, und solche, die mich abstoßen. Das ist mir sofort klar: physiognomisch. Dann gibt es eine Menge anderer Kategorien, zum Beispiel die Optimisten, unter denen ich wieder eine Menge Sekten unterscheide. Dann gibt es die Mit- und Anempfindenden, die die Wirklichkeit mit derselben Finesse anfassen, wie die Biene den Honig aus der Blume saugt. Wieder andere lassen sich von der Wirklichkeit zerdrücken, bevor sie sie verstanden haben. Ich habe Erfahrungen gemacht. – Da bemächtigt man sich dann der Wirklichkeit.«
Solche entscheidende Dinge sagt er gern als Nachsatz, leise, zum Abschluß einer Gedankenreihe; dann sieht er einen groß an, lächelt und scheint zu fragen: sind jetzt alle Welträtsel gelöst? Ich ließ in solchen Augenblicken nicht merken, daß ich seine Ironie begriff, sondern fuhr mit besonderem Ernst fort.
– Haben Sie nur aus der Wirklichkeit gelernt? fragte ich diesmal. Neulich sprachen wir von der Macht der Dichtung. Wenn Sie heut aus Ihrer Loge Antonius auf der Bühne agieren sehen oder Cäsar, lächeln Sie dann oder studieren Sie sie mit Vorteil? –
Mussolini drehte sich nach einem mit Büchern bedeckten Tisch hinter sich um und nahm das oberste Buch, es war aufgeschlagen.
»Da liegt grade der Cäsar, sagte er, indem er in einem französischen Shakespeare blätterte. Eine große Schule für Regierende! Ich dachte eben wieder, wie er in seinen letzten Tagen doch ein Opfer der Phrase geworden ist.«
– Der historische oder der dramatisierte? –
»Ich fürchte, auch der historische, sagte er nachdenklich. Warum beachtete er nicht die Liste der Verschworenen, die man ihm doch in die Hand drückte? Oder läßt er sich vielleicht töten, weil er fühlt, er ist fertig? Da höre ich freilich aufmerksam zu im Theater und mache meine Vergleiche, hier, mit diesem Tisch. Die großen Probleme der Macht sind doch immer dieselben geblieben: wie man regiert und wie man mit der geringsten Reibung regiert.«
– Empfinden Sie diesen Römer als ein Vorbild? –
»Keinen bestimmten«, sagte er, machte das Buch zu und legte es weg. »Aber die ganze Praxis der lateinischen Tugenden schwebt mir vor. Sie stellt ein Vermächtnis dar, das ich zu nützen suche. Die Materie ist dieselbe. Und da draußen, das ist noch immer Rom.«
Und er wies auf den Lichtschein, der von der lampenreichen Piazza durch die grünlichen Glasfenster hereindrang.