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Schule der Geschichte

Ich hatte die Prachtausgabe des Macchiavelli zum Geschenk erhalten, die die faschistische Staatsdruckerei sehr luxuriös gedruckt und etwas zu deutlich dem Duce gewidmet hatte. Immerhin ist es besser, ein Staat bekennt sich zu diesem Lehrer der Diktatoren, als daß er seine Theorien heimlich verwirklicht und zugleich das »Macchiavellistische« als Schimpfwort braucht. Als Friedrich der Große noch Kronprinz war, schrieb er seinen moralisierenden »Anti-Macchiavelli«, später wurde er aufrichtiger und handelte umgekehrt.

– Sie haben mit Macchiavelli angefangen? fragte ich Mussolini. –

»Mein Vater las ihn abends vor, sagte er, wenn wir uns an den Resten des Schmiedefeuers wärmten und dazu unseren Landwein tranken. Der Eindruck war tief. Als ich ihn mit Vierzig wieder las, wirkte das Buch noch ebenso stark.«

– Merkwürdig, sagte ich, wie solche Geister auf- und untergehen und dann wieder auf. Es ist, als ob sie Jahreszeiten hätten. –

»Die haben die Völker erst recht, erwiderte er. Ihr Frühling und Winter kommt auch immer wieder. Bis sie eines Tages tot sind.«

– Deshalb hat mich auch niemals der deutsche Winter von heut erschreckt. Goethe hat sich vor hundert Jahren, als es den Deutschen ebenso schlecht ging wie heute, mit Ärger und Spott gegen das Schlagwort vom »Untergang« gewandt. Haben Sie deutsche Gestalten studiert? –

»Bismarck, sagte er sofort. Vom Standpunkt der Realpolitik war er der größte Mann seines Jahrhunderts. Ich dachte mir schon immer, daß er nicht bloß der Mann mit den drei Haaren und dem eisernen Tritt gewesen sein kann. In Ihrem Buch fand ich bestätigt, wie nuancenreich, wie komplex er war. Kennt man bei Ihnen Cavour?«

– Ganz wenig, erwiderte ich. Eher Mazzini. Kürzlich ist mir ein herrlicher Brief vor Augen gekommen, den er, ich glaube 1831 oder 32, an Carlo Alberto geschrieben hat; die Beschwörung eines Dichters an einen Fürsten. Billigen Sie es, daß dieser Fürst ihn darauf einsperren ließ? –

»Der Brief, sagte Mussolini, ist eines der schönsten Dokumente, die je geschrieben wurden. Carlo Albertos Figur steht noch nicht klar vor uns Italienern, erst kürzlich hat man seine privaten Tagebücher publiziert, aus denen seine Psychologie deutlicher wird. Zuerst hat er natürlich an die Liberalen angeknüpft. Als dann Piemont im Jahre 32, – nein, 33, Mazzini verfolgte, geschah das in einer bestimmten politischen Situation.«

Die Vorsicht dieser Antwort veranlaßte mich, in meinem beständig unausgesprochenen Vergleiche der Gegenwart mit der Vergangenheit noch deutlicher zu werden, und ich fragte:

– Das war zur Zeit, als das »Giovane Italia« illegal erschien. Glauben Sie nicht, daß unter allen Zensuren solche Zeitschriften bestehen? Würden Sie Mazzini auch einsperren? –

»Sicher nicht, sagte er mit Festigkeit. Wenn einer Ideen im Kopf hat, so soll er kommen, und wir wollen sie diskutieren. Aber als Mazzini jenen Brief schrieb, war er mehr vom Gefühl als vom Verstand getrieben. Piemont hatte damals 4 Millionen Einwohner und stand dem gewaltigen Österreich mit seinen 30 Millionen machtlos gegenüber.«

– Nun saß also Mazzini im Gefängnis, fing ich wieder an. Bald darauf wurde Garibaldi zum Tode verurteilt, und zwei Menschenalter später wurden Sie eingesperrt. Folgt daraus nicht die höchste Vorsicht für einen Regierenden, wenn er seine politischen Gegner bestraft? –

»Sie meinen vielleicht, wir lassen diese Vorsicht nicht walten?« fragte er lebhaft zurück.

– Sie haben die Todesstrafe wieder eingeführt. –

»Sie besteht in allen Kulturstaaten, in Deutschland wie in Frankreich und England.«

– Aber von hier, durch Beccaria, insistierte ich, ist die Abschaffung der Todesstrafe ausgegangen. Warum haben Sie sie wieder aufgenommen? –

»Weil ich Beccaria gelesen habe«, sagte Mussolini, ließ aber keine Ironie in seinen Zügen sehen, sondern fuhr ernst fort: »Er schreibt nämlich nicht das, was die meisten glauben. Zudem hatten in Italien die schweren Verbrechen erschreckend zugenommen: wenn in England 100 begangen wurden, waren es bei uns 500.«

– Also haben Sie nicht ethische, nicht religiöse Gründe dazu bewogen? –

»Religiöse? fragte er erstaunt. Die Religion kann diese Strafe doch nicht anerkennen.«

– Kommt darauf an, welches Testament, sagte ich. Das Alte sagt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Und Masaryk, dessen philosophische Höhe Sie mir einmal bestätigten, ist aus reiner Ethik für die Todesstrafe. Er hat mir sogar erklärt, daß mit ihr die Kapitalverbrechen doch nicht abgenommen haben, daß er also keinen sozialen Schutz damit aufstellen, sondern nur die Blutschuld rächen will. –

»Dann machen wir dasselbe aus verschiedenen Gründen, sagte Mussolini. Ich lasse mich in dieser Frage nur vom sozialen Gedanken leiten. War es nicht der heilige Thomas, der sagte, man solle einen brandigen Arm abschneiden, damit der ganze Körper gesunde? Dabei verfahre ich mit der größten Vorsicht und Nachsicht: nur eingestandene und brutale Fälle werden de facto mit dem Tode bestraft. Vor zwei Jahren hatten hier zwei Kerle einen Jungen vergewaltigt und dann umgebracht. Beide wurden zum Tode verurteilt. Ich hatte den Prozeß genau verfolgt. Im letzten Augenblicke kamen mir Zweifel: der eine war ein älterer, vorbestrafter, geständiger Verbrecher, der andere ein junger unbestrafter, nichtgeständiger Mensch. Da habe ich 6 Stunden vor der Exekution die Ausführung aufgehalten und den jüngeren begnadigen lassen.«

– Gehört in das Kapitel: Vorteile der Diktaturen, sagte ich. Er griff diese Unvorsichtigkeit lebhaft auf, indem er spöttisch sagte:

»Das andere ist eine Staatsmaschine, die automatisch immer weiter läuft und die kein Arm plötzlich zum Stillstehen bringt.«

– Haben Sie Lust, fragte ich, von diesem gefährlichen Gebiete sich zunächst zu Napoleon zu begeben? –

»Vorwärts!«

– Ich bin mir trotz früherer Unterhaltungen nicht klar, ob Sie ihn eigentlich als Vorbild ansehen oder als Warnung. –

Er setzte sich zurück, machte sein dunkelstes Gesicht und sagte mit verhaltener Stimme:

»Als Warnung. Ich habe mir Napoleon nie zum Vorbild genommen, denn ich bin mit ihm gar nicht zu vergleichen. Seine Aktivität war eine ganz andere als die meinige. Er hat eine Revolution abgeschlossen, ich habe eine angefangen. Sein Leben hat mir die Irrtümer angezeigt, denen man schwer entgeht und zwar (an den Fingern herzählend): Nepotismus. Kampf mit dem Papst. Mangelnder Sinn für Finanz und Wirtschaft. Er sah beinah nur, daß nach seinen Siegen die Rente stieg, das war alles. Und dann – er machte eine Pause, rückte ins Lampenlicht vor, gab mir mit den Augen ein ironisches Zeichen und fuhr fort: – Und dann habe ich etwas Großes von ihm gelernt. Er hat mir im Vorhinein alle Illusion zerstört, die ich mir über die Treue der Menschen hätte machen können. In diesem Punkte bin ich hieb- und stichfest.«

Ich hütete mich, über einen Punkt mehr zu fragen, den er nur selber aufbringen durfte, kam auf die Geschichte zurück und fragte, als ob ich es nicht wüßte:

– Woran ist er zugrunde gegangen? Die Professoren behaupten, an England. –

»Unsinn, sagte er. Er ging zugrunde, so wie Sie es darstellen, am Widerstreit in seinem Charakter. Woran jeder am Schlusse zugrunde geht. Die Krone zu nehmen! Eine Dynastie zu gründen! Als Erster Konsul, ja, da war er groß! Mit dem Kaisertum begann die Décadence. Beethoven hatte ganz recht, ihm die Widmung der Eroica wieder zu entziehen. Die Krone zwang ihn zu immer neuen Kriegen. Sehen Sie dagegen Cromwell an: ein großer Gedanke, Macht des Staates – und doch kein Krieg!« Da hatte ich ihn bei einem der wichtigsten Punkte.

– Es gibt also Imperialismus ohne Imperium? –

»Es gibt ein halbes Dutzend Arten von Imperialismus, erwiderte er mit belebter Stimme. Ein Kaisertum braucht es dazu wahrhaftig nicht, es ist sogar gefährlich. Je mehr es sich ausbreitet, um so mehr verliert es an organischer Kraft. Trotzdem ist die Tendenz zum Imperialismus eine der elementaren Kräfte der menschlichen Natur, eben als Wille zur Macht. Jetzt haben wir den Imperialismus des Dollar, ein andermal einen religiösen, einen künstlerischen. In jedem Fall sind es Zeichen der menschlichen Lebenskraft. Solange einer lebt, ist er Imperialist. Wenn er tot ist, nicht mehr.«

In diesem Augenblick sah Mussolini verteufelt napoleonisch aus, und zwar ähnelt er dann dem Stich von Lefèvre aus dem Jahre 1815. Die Spannung seiner Züge wich, er änderte seinen Ton, als er schloß:

»Natürlich hat jedes Imperium seinen Zenith. Da es stets eine Schöpfung von Ausnahmemenschen ist, liegen die Gründe des Unterganges schon darin. Wie alle Ausnahmen hat es etwas Ephemeres in sich. Das kann ein oder zwei Jahrhunderte dauern oder zehn Jahre. Wille zur Macht.«

– Zu erhalten nur durch Kriege? – fragte ich.

»Durchaus nicht nur, erwiderte er und setzte sich auf seine Art vor, die Arme auflegend, wie um zu dozieren. Throne brauchen Kriege, um sich zu erhalten, Diktaturen durchaus nicht immer. Es gibt welche, die davon abstrahieren können. Die Macht einer Nation ist das Resultat von einer Menge von Elementen, nicht bloß von dem militärischen. Allerdings, muß ich hinzufügen, ist bisher die Stellung einer Nation in der allgemeinen Auffassung von ihrer Kriegsstärke bestimmt worden. Man hält die militärische Kraft bis heute für die Synthese aller nationalen Kräfte.«

– Bis gestern, sagte ich. Und morgen? –

»Morgen! wiederholte er skeptisch. Ein sicheres Kriterium ist das nicht mehr, das ist wahr. Man braucht deshalb für morgen eine zwischenstaatliche Instanz. Die Einheit mindestens eines Kontinentes. Nach der Einheit der Staaten muß man nach der Einheit der Erdteile hinstreben, das ist aber in Europa verdammt schwer, weil jedes Volk ein besonderes Gesicht hat, Sprache, Sitten, Typen. Ein gewisser Prozentsatz, sagen wir X, bleibt in jedem Volke vollkommen original und widersetzt sich zunächst dem Zusammenschluß. In Amerika ist es freilich leichter, 48 Staaten mit derselben Sprache ohne Jahrhunderte lange Geschichte zusammenzuhalten.«

– Gibt es nicht aber, fragte ich wieder, in jedem Volk einen andern gewissen Prozentsatz Y, der rein europäisch ist? –

»Der liegt außer der Macht jeder Nation. Napoleon hat ein Europa gewollt. Das war sein großer Ehrgeiz, es zu einigen. Heut ist es vielleicht eher möglich, aber nur in einer Art Konzeption, wie es Karl der Große oder Karl V. angestrebt hat, vom Atlantik bis zum Ural.«

– Also nicht bloß bis zur Weichsel? –

»Vielleicht auch nur bis zur Weichsel.«

– Und Sie haben sich dies Europa unter faschistischer Führung gedacht? –

»Was ist Führung? fragte er lebhaft zurück. Unser Faschismus ist, wie er ist. Es gibt aber einige Elemente darin, die auch andere annehmen könnten.«

– Wenn man Ihnen zuhört, sagte ich, so findet man Sie immer maßvoller als die meisten Faschisten. Sie würden staunen, was ein Fremder in Rom alles anhören muß. Wahrscheinlich ist es mit Napoleon auf seiner Höhe ähnlich gewesen. Können Sie sich übrigens erklären, warum er seine Hauptstadt nie ganz eingenommen hat, warum er immer le fiancé de Paris geblieben ist? –

Jetzt lächelte Mussolini doch. Dann sagte er französisch:

»Ses manières n'étaient pas très parisiennes. Vielleicht hatte er doch etwas Brutales an sich. Überdies waren die Jakobiner gegen ihn, weil er die Revolution erstickt hatte, die Legitimisten, weil er ein Usurpator war, die Religiösen wegen seines Kampfes gegen den Papst. Die einzigen, die ihn liebten, das war das niedere Volk: die hatten zu essen unter ihm und sind auch am empfänglichsten für den Ruhm. Denn der Ruhm ist logisch nicht zu begreifen, er ist eine sentimentale Sache.«

– Sie sprechen beinah mit Mitgefühl von Napoleon, sagte ich. Ihr Respekt vor ihm hat sich also während Ihrer Regierung, wo Sie ihn ein wenig kontrollieren konnten, nicht verringert? –

»Vergrößert.«

– Als junger General hat er einmal gesagt, ein leerer Thron ziehe ihn an, sich daraufzusetzen. Was halten Sie davon? –

Mussolini machte sein ironisches Gesicht, wobei er die Augen aufzureißen pflegt, aber dazu lächelt:

»Inzwischen, sagte er, haben die Throne an Faszinationskraft merklich abgenommen.«

– Wirklich, erwiderte ich, niemand will mehr König sein. Als ich kürzlich zu König Fuad von Ägypten sagte, Könige müßten geliebt, Diktatoren aber gefürchtet sein, rief er aus: »Wie gern wäre ich ein Diktator!« Gibt es in der Geschichte einen Usurpator, der geliebt wurde? –

Mussolini, in dessen Miene sich die Stimmung jeder Antwort vorausverkündigt, sofern er sie nicht verheimlichen will, wurde wieder ernst, ließ alle Willenskraft los, wobei er jünger aussieht, und sagte nach einer Pause und auch dann noch zögernd:

»Vielleicht Cäsar. Cäsars Ermordung war ein Unglück für die Menschheit.« Dann setzte er leise hinzu: »Ich liebe Cäsar. Er allein hat in sich den Willen des Kriegers mit dem Genie des Weisen vereinigt. Im Grunde war er ein Philosoph, der alles sub specie aeternitatis ansah. Ja, er liebte den Ruhm, aber sein Ehrgeiz trennte ihn nicht ab von der Humanität.«

– Also kann ein Diktator doch geliebt werden? –

»Er kann, sagte Mussolini jetzt mit wieder gewonnener Festigkeit. Wenn ihn die Menge zugleich fürchtet. Die Menge liebt die starken Männer. Die Menge ist ein Weib.«


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