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Wirkung auf die Massen

Zwanzigtausend Menschen füllten die Piazza Venezia, ein Dutzend Kapellen paukten gegeneinander, die Lieder, die Rufe, die Schreie der Menschen überstürzten sich, denn es war ein Festtag der Faschisten, und sie wollten ihren Führer sehen. Der Palazzo selber, den ich diesmal nur mit Hilfe eines Offiziers erreicht hatte, sonst in schweigender Vergangenheit ruhend, war heute von Uniformen überfüllt, deren Träger die Treppen und Säle hin und her stürmten.

In seinem großen Saale war der Duce allein, aber er war in Uniform. Ein König hat mir einmal gesagt, in Uniform denke er anders als in Zivil; er meinte, schwächer. Auch hatte ich beobachtet, daß sich ein einzelner Offizier unter lauter Zivilisten ebenso maskiert und deshalb geniert vorkommt, wie ein einzelner Zivilist von hundert Uniformen ringsum irritiert wird. Auch habe ich zwei Offiziere noch nie zusammen philosophieren hören, so wenig ich zwei Denker miteinander boxen sah, obwohl beides möglich wäre.

Mussolini, der mir in Uniform fremder ist als in seinem Jackett, hatte sich in seinem Denken durchaus nicht verändert. Da zu einer gesammelten Unterhaltung der Lärm und die Erwartung draußen doch zu groß waren, erzählte ich ihm etwas aus Abessinien.

– Aber ich gehe, sagte ich plötzlich. Sie müssen ja gleich reden. –

»Fahren Sie fort«, sagte er und setzte seine Wanderung im Saale mit mir fort, bis ein Offizier anfragte, ob die Balkontüren geöffnet werden sollten. Er rief nach seiner Mütze, hieß mich vom Nebenfenster zuschauen und nach der Demonstration zu ihm kommen. Zur letzten Überlegung seiner Rede war ihm keine Minute übrig. Als ich ihn unter den immer erneuten Rufen der Menge auf den Balkon treten sah, erkannte ich in seinem Profil jenen landesväterlich-breiten, zufriedenen Zug wieder, den er zeigt, wenn er von konstruktiven Arbeiten spricht. Indem er in die brausende Menge minutenlang hinuntersah, zeigte er durchaus die Züge des Dramatikers, der ins Theater kommt und seine Schauspieler ungeduldig und parat findet, mit ihm Probe zu halten.

Plötzlich schwieg auf seinen Wink der Lärm, zugleich nahmen seine Züge eine bestimmte Spannung an, mit kräftigem Ansatz warf er der Menge im staccato seine ersten Worte zu, sprach etwa 30 Sätze, deren letzter in neuem Jubel unterging.

Als die Balkontüren geschlossen waren, wurde ganz dicht, offenbar vor der Türe des Saales im Takte »Duce! Duce!« gerufen, er ließ öffnen, und es stürmten etwa 60 faschistische Offiziere herein, die sich um seinen Schreibtisch versammelten. Es waren die Sekretäre der Partei aus ganz Italien. Keine Spur von Ehrfurcht oder gar von strammer Haltung störte dieses familiäre Bild. Sie umringten ihn, und er fing an, mit seiner leisen, dunklen Stimme jeden, nicht etwa bei Namen, sondern beim Namen seiner Stadt aufzurufen, indem er mit dem Finger auf ihn zeigte. Manchmal suchte er, schwankte, ein paarmal ließ er sich von einem helfen, die meisten erkannte er. Alle blickten ihn an wie einen Vater, obwohl einige sein Alter haben mochten. Als er sie dann mit einem römischen Gruß verabschieden wollte, rief einer: »Duce! Photographieren!«

Er lächelte, der Diener rief den Photographen, den die Offiziere schon mitgebracht hatten, sie machten eine Gruppe inmitten des Saales, wobei sich die letzten rasch die beiden Sessel vom Schreibtisch holten, um sich daraufzustellen, es wurde beleuchtet und geknipst: alles voller Heiterkeit, mit Scherzen und komischen Anreden, voller Hingabe und Vertrauen der Gruppe zum Führer, vielleicht auch des Führers zur Gruppe. Schließlich zogen sie sich unter neuem Singen und Rufen aus dem Saal zurück.

Mussolini ging an seinen Arbeitsplatz zurück, blieb vor dem Kamin stehen, sah einen Orden, den einer der Leute im Gedränge verloren, hob ihn auf und setzte sich. Dann klingelte er und fragte den Diener über den 20 Meter breiten Abgrund hinweg, wo ich wäre. Jetzt trat ich aus der dunklen Fensternische, er lächelte, und ich dachte, wie leicht ihn einer an meiner Statt ermorden könnte. Es ist unrichtig, daß der Duce wie ein Zar bewacht wird. Er selber wollte, als wäre nichts geschehen, nach seiner Volksrede und nach dem Empfang seiner Offiziere unser Gespräch genau an derselben Stelle aufnehmen, wo er es vor einer halben Stunde abgebrochen: bei meinem Bericht über Abessinien. Ich widerstrebte, sprach von meinen Beobachtungen und fügte hinzu:

– Mich bewegt das Gleichnis dieser beiden Szenen. Am liebsten wüßte ich, was Ihnen dergleichen bedeutet. –

»Einen Beweis des Enthusiasmus«, erwiderte er leise.

– Und doch, fuhr ich fort, haben Sie grausame Worte über die Menge geschrieben: man müsse Seine Heiligkeit, das Volk vom Altare reißen. Und ein andermal, wenn ich mich der Worte recht entsinne: »Wir glauben von der Menge nicht, daß sie uns Geheimnisse entschleiern könnte.« Wenn also die Masse Ihnen nichts entschleiert, wie kann sie dann auf Sie wirken? Ohne Gegenseitigkeit kann ich mir eine Wirkung zwischen einem Mann und 20 000 Männern nicht vorstellen. Können Sie die Steigerung und Spannung, als die man den Faschismus definiert hat, von der Menge verlangen? Und wie lange hält ein solches Pathos überhaupt vor? –

Mussolini lehnte sich in den Schatten zurück, und als die Ketten und Orden darin verschwanden, hatte ich wieder den Denker vor mir, den ich suchte. Die kalte Glut, die er in seinen starken Momenten ausströmt, schlug zu mir herüber. Er schien einen allgemeinen Gedanken an Stelle der direkten Antwort zu verfolgen, denn er machte eine Pause, bevor er sich langsam erklärte:

»Die Masse ist nichts für mich als eine Herde Schafe, solange sie nicht organisiert ist. Ich bin keineswegs gegen sie. Ich negiere nur, daß sie sich selbst regieren kann. Führt man sie aber, so muß man sie an zwei Zügeln führen: Enthusiasmus und Interesse. Wer nur eins von beiden verwendet, kommt in Gefahr. Die mystische und die politische Seite bedingen einander. Das eine ohne das andere ist trocken, das andere ohne das eine zerblättert im Winde der Fahnen. Der Menge kann ich das unbequeme Leben nicht zumuten, das ist nur für die Wenigen. Grade darin besteht die Wechselwirkung, von der Sie sprechen. Heute habe ich nur ein paar Worte zur Piazza gesprochen, morgen können sie Millionen lesen, aber die hier unten standen, haben einen tieferen Glauben an das, was sie mit Ohren und, ich möchte sagen, mit Augen hörten. Jede Rede zur Menge hat den zweifachen Zweck, die Lage zu klären und der Masse etwas zu suggerieren. Deshalb ist auch die Volksrede zur Erregung eines Krieges unentbehrlich.«

– Vielleicht sind Sie heute der größte »Experte« für Massen, sagte ich. Was bleibt denen, die kein Interesse an die Bewegung bindet? –

»Denen bleibt die Hoffnung und der Gedanke, einer schönen Sache zu dienen. Ich kenne die Masse seit 30 Jahren. In Mailand nannten sie mich den Barbarossa. Da konnte ich die Straßen leermachen!«

Ich habe Mussolini niemals etwas mit Stolz erzählen hören, nur jetzt klang seine Stimme stolz, als er sagte: die Straßen leermachen.

– Und was bedeutet darin die Musik, was bedeuten die Frauen? Die Gesten und Embleme? –

»Ein festliches Element, sagte er im gleichen schwingenden Ton. Musik und die Frauen lockern die Menge auf und machen sie leichter. Der römische Gruß, alle die Lieder und Formeln, die Daten und Erinnerungsfeiern sind unentbehrlich, um einer Bewegung das Pathos zu erhalten. So ist es schon im antiken Rom gewesen.«

– Was halten Sie von Coriolan? fragte ich, angeregt durch sein letztes Wort. –

Er fing an zu lächeln, und zwar vor sich hin, machte eine große Pause, wie sie bei ihm sehr selten ist, dann sagte er nur:

»Das ist eine legendäre Gestalt. Das beste daran ist Shakespeares Drama.«

Nach dieser eleganten Ausflucht verließ ich das Thema und fragte unvermittelt:

– Sie sagten mir, daß Sie Ihre Reden monatelang vorbereiten. Was kann dann also der Anblick der Menge noch ändern? –

»Das ist wie der Bau amerikanischer Häuser, erwiderte Mussolini. Erst baut man die ganze armatura auf, die Konstruktion aus Stahl. Dann wirft man Beton hinein oder Ziegel oder gebraucht kostbares Material, je nachdem. Für meine Rede zu unserem Oktoberfeste habe ich heute schon das Gerüst. Dann aber wird es von der Atmosphäre der Piazza, von den Augen und Stimmen der Tausende abhängen, ob ich Travertin hineinwerfe oder Ziegel oder Marmor oder Beton oder alles zusammen.«

Mir gefiel dies Gleichnis aus seiner frühesten Beschäftigung als Maurer. Ich sagte, Lenin mochte es ähnlich gemacht haben, und er rühmte Lenins Kunst, die Masse zu disziplinieren.

– Der Faschismus, sagte ich darauf, spricht so oft von Disziplin. Wir haben in Deutschland eher zu viel davon gehabt. Wir, die wir die Italiener seit 30 Jahren studieren, fürchten, sie könnten für die Last der neuen Bewegung zu leichte Schultern haben und unter der Disziplin weniger glücklich sein, sogar vielleicht ihren Charme verlieren. –

Jetzt wurde er lebhaft und ging, angegriffen, mit echter Fechterkunst gleich in die Offensive über:

»Wenn Sie zu viel davon zu Hause empfangen haben, so muß ich sagen: wir tendieren dazu, aus Italien nicht grade eine Nachahmung des alten Preußen, aber ein ebenso stark diszipliniertes Volk zu machen. Wir haben eine synthetische Konzeption der Nation, keine analytische. Wer marschiert, wird nicht weniger, wie Sie und Ihre Freunde gern schreiben, sondern wird multipliziert durch alle, die mit ihm marschieren. Wir sind, wie in Rußland, für den kollektiven Sinn des Lebens, diesen wollen wir auf Kosten des persönlichen Lebens stärken. Dabei kommen wir nicht an den Punkt, aus den Menschen Zahlen zu machen, aber wir erfassen sie doch hauptsächlich in ihrer Funktion im Staate. Das ist ein großes Ereignis in der Psychologie der Völker, denn es wird von einem Volk des Mittelmeeres gemacht, das dafür als ungeeignet galt. Dort, im kollektiven Leben liegt der neue ›Charme‹. War es anders im antiken Rom? In der Republik hatte der Bürger nur das Staatsleben, und mit den Kaisern, als sich das änderte, kam eben die Décadence. Ja, das ist es, was der Faschismus aus der Menge machen will: ein kollektives Leben organisieren, gemeinsam leben, arbeiten und kämpfen, in einer Hierarchie, ohne Herde. Wir wollen die Menschlichkeit und Schönheit des gemeinschaftlichen Lebens. Freilich, das wundert die Fremden! Der Mensch wird im 6. Jahre in gewissem Sinn der Familie schon entführt und wird ihr vom Staate im 60. Jahre zurückgegeben. Der Mensch verliert nichts dabei, glauben Sie nur: er wird multipliziert!«

Er war lebhafter geworden als sonst, denn er war bei seinen Lieblingsgedanken. Da standen wir also an der Barriere, die einen leidenschaftlichen Individualisten von Rom wie von Moskau trennt. Es war unnötig, meine Gefühle dagegen zu entwickeln, er hatte sie gelesen; wie sollte ich mir auch einbilden, einen solchen Führer nach zehn Jahren leidenschaftlichen Kampfes aus seinen Grundvisionen zu reißen! Deshalb sagte ich nur:

– Die heutige Jugend begeistert sich an diesem Gedanken, und nicht bloß in Rom. Wir andern möchten lieber nicht multipliziert werden. Wenn Sie aber auf das antike Rom als Beispiel zurückgreifen, wenn Sie die Menge unverändert nennen, wie steht es dann mit dem sogenannten Fortschritt der Menschheit? –

»Schwer zu definieren, sagte Mussolini in ganz erkaltetem Ton. Vielleicht eine Spirale. Sorel leugnet den moralischen Fortschritt ganz, er statuiert nur einen mechanischen. Ich glaube indessen, es besteht ein moralischer, aber er ist großen Gefahren ausgesetzt. Sein Schritt ist langsam und oft ist er müde. Und dann, was ist Fortschritt? Auch im kaiserlichen Rom gab es Dichter und Philosophen. Es gab großartige Anstalten zur Volkshygiene.«

Er holte aus seiner Mappe einen Zettel hervor und reichte ihn mir herüber; ich las die genauen Zahlen, die er sich notiert hatte, wieviele öffentliche Bäder und Brunnen es im Dritten Jahrhundert hier gegeben hat.

– Nur keinen Marconi, sagte ich, der heute Tausende aus dem Sturme zu retten vermag. –

»Nein, den gab es nicht,« sagte er kurz, und ich erkannte aufs neue, daß dieses alte Gespräch immer unfruchtbar bleibt, weil jeder etwas anderes unter dem Fortschritt der Menschheit versteht. Ich kehrte deshalb zur Menge zurück:

– Sie haben einmal geschrieben, die Masse solle nicht wissen, sondern glauben. Halten Sie diesen Grundsatz der Jesuiten wirklich noch heute für praktikabel, mitten zwischen allen Instrumenten der Technik? –

Er sah entschlossen drein.

»Nur der Glaube versetzt Berge, sagte er, nicht die Vernunft. Sie ist ein Instrument, aber sie kann niemals der Motor der Menge sein. Heut weniger als früher. Die Leute haben heute weniger Zeit zu denken. Die Bereitschaft des modernen Menschen zu glauben ist unglaublich. Wenn ich dann die Masse in meinen Händen fühle, wie sie glaubt, oder wenn ich mich unter sie mische und sie mich beinahe zerdrückt, dann fühle ich mich ein Stück dieser Masse. Und doch bleibt zugleich ein Stück Aversion, wie sie der Dichter gegen die Materie faßt, die er bearbeitet. Zerschlägt der Bildhauer nicht manchmal aus Wut den Marmor, weil er sich unter seinen Händen nicht genau nach seiner ersten Vision gestaltet? Hier steht sogar die Materie zuweilen gegen den Bildner auf!« Er machte eine Pause, dann schloß er: »Alles hängt davon ab, die Masse wie ein Künstler zu beherrschen.«


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