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Schule der Armut

– Und der Hunger? fragte ich. Hat auch der Hunger Sie erzogen? –

Er sah mich, als ich ihn so fragte, aus seinen dunklen Augen an, die aus dem Halbschatten in ihrer samtigen Schwärze herüberglänzten, schob auf seine Art Kinn und Unterkiefer vor und schien sich mit schweren Gefühlen seiner Jugend zu erinnern. Dann sagte er in dumpfem Ton, mit kurzen Pausen:

»Das ist ein guter Erzieher, der Hunger. Beinahe so gut wie das Gefängnis und die Feinde. Meine Mutter verdiente als Lehrerin 50 Lire, mein Vater verschieden, was eben das Schmiedehandwerk brachte. Wir hatten zusammen zwei Zimmer. Fleisch gab es beinah nie. Es gab leidenschaftliche Debatten, Kämpfe und Hoffnungen. Mein Vater kam wegen sozialistischer Umtriebe ins Gefängnis. Als er starb, folgten tausende von Parteigenossen seinem Sarge. All das gab mir einen starken Impuls. Mit einem andern Vater als Vorbild wäre ich anders geworden. So konnte ich meinen Charakter schon zu Hause bilden. Wer mich damals näher betrachtet hätte, der hätte in mir mit 16 Jahren schon erkannt, was ich bin, mit allem Licht und Schatten. Daß ich aus dem Volke kam, das hat mir im Leben die größten Atouts gegeben.«

Er sagte das mit seiner dunklen Stimme, die klingt, wie wenn in der Ferne ein Gong angeschlagen wird. Ich habe diese Stimme in zwei Tonlagen gehört: auf der Piazza hallend von militärischer Schärfe, ähnlich wie Trotzki zur Menge sprach, sonst aber leise, mit entschiedener und bewußter Niederhaltung aller Kraft. So spricht er nicht bloß im Zimmer, so habe ich ihn auch zu einem Haufen von zwanzig Arbeitern sprechen hören, die ihn im Kreise umstanden. Hier liegt ein Sinnbild seines Wesens: Mussolini spart sich die äußere Darstellung seiner Kraft für seltene Gelegenheiten auf, er hält sie meist im eigenen Bann.

– Sie haben, sagte ich, mit Ihrem konstruktiven Sinn Freude an Maschinen. Geht das auf Ihre Kindheit zurück, als Sie in der Schmiede die Elemente kennenlernten? Und glauben Sie an einen produktiven Einfluß des Handwerks auf die geistige Arbeit? –

»An einen enormen Einfluß, erwiderte er lebhaft. Diese Eindrücke bleiben tief im Menschen bis zum Tode. Vor dem Hammer und vor dem Feuer gewinnt man eine Leidenschaft für die Materie, die man nach seinem Willen biegen möchte und muß. Noch heute fühle ich mich zu einem Maurer hingezogen, den ich ein Fenster machen sehe, ich möchte's am liebsten selber machen.«

– Ich habe einmal, sagte ich, einen rechten Jünglingsbrief von Ihnen gelesen, in dem Sie heut vor 30 Jahren einem Freund über Ihre Fahrt nach der Schweiz berichteten und ungefähr schrieben, diese Nacht im Gotthard habe Ihr Leben in zwei Teile geschnitten. –

»Das tat sie, jene Nacht, sagte Mussolini. Ich weiß es genau. Man ist 19, schreibt Verse und will die Welt probieren. Ich war so ungeduldig nach der Welt, daß ich meinen Lehrerberuf hinwarf, meinen Vater im Gefängnis ließ, wo ich ihn doch nicht herausholen konnte, und ohne Geld als Arbeiter in die Schweiz fuhr. Da ist man einmal begeistert und einmal verzagt. Hauptsächlich aber ist man empört. Die Leiden meiner Eltern hatte ich vor mir, im Seminar war ich gedemütigt worden, so bin ich mit den Hoffnungen der Enterbten als Revolutionär aufgewachsen. Was hätte ich anders werden können als Sozialist à outrance, Blanchist, eigentlich mehr Kommunist? Ich hatte immer eine Medaille von Marx in der Tasche. Ich glaube, das war eine Art Talisman.«

– Und was würden Sie heute beim Anblick seines Bildes denken? –

»Daß er ein großer kritischer Geist war, antwortete er, teilweise sogar ein Prophet. Damals, in der Schweiz hatte ich wenig Gelegenheit, über diese Sachen zu reden. Ich war unter uns Arbeitern der gebildetste, hatte übrigens den ganzen Tag zu schuften: 12 Stunden in der Schokoladenfabrik von Orbe oder auch 120 mal an einem Tag zwei Stockwerke hoch Bausteine schleppen. Und doch hatte ich schon damals ein dunkles Gefühl, das alles ist nur eine Schule für später.«

– Auch im Gefängnis? –

»Besonders dort, sagte er. Da lernt man Geduld. Das ist wie auf einer Seefahrt: an Bord und im Gefängnis muß man Geduld bewähren.«

Ich brachte ihn auf seine Gefängnisse.

Er rückte in den Lichtkreis der hohen Stehlampe vor, legte die beiden Arme auf den Tisch, wie er zu tun pflegt, wenn er etwas erklären, aufzählen oder sonst klar festlegen will. Dann wird er zutraulicher, drückt das Kinn an, schiebt den Mund vor und versucht vergeblich, eine durchaus gutartige Stimmung hinter den Augenbrauen zu verstecken, die er paradoxerweise gerade dann zusammenzieht.

»Es waren 11, sagte er jetzt, und zwar in 4 Staaten. Ich habe in Bern, Lausanne, Genf, in Trento, in Forli gesessen, und in manchem Orte mehrere Male. Jedesmal war es eine gesunde Erholungspause, die ich mir sonst nicht hätte leisten können. Daher ist auch kein Groll gegen die Länder in mir zurückgeblieben. Einmal habe ich den Don Quichotte gelesen und mich herrlich dabei amüsiert.«

– Also schicken Sie vielleicht deshalb Ihre politischen Feinde ins Gefängnis? fragte ich ironisch, und er lächelte. Macht Sie die Erinnerung an Ihre Gefängnisse bei diesen Urteilen nicht stutzig? – Er sah mich groß an, als könnte er mich gar nicht verstehen.

»Durchaus nicht, sagte er ruhig. Ich finde das ganz logisch. Erst haben sie mich hineingesteckt. Jetzt stecke ich sie hinein.«


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