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– Gibt es gute und schlechte Völker? –
Meine Frage blieb in der Luft hängen, wie ein kleines weißes Schrapnellwölkchen sah ich sie von meinen Lippen langsam über den mächtigen dunklen Tisch zu ihm hinüberschweben, um über seinem Kopfe haltzumachen. Hatten die Wände dieses geschichtenreichen Saales eine so komische Frage je vernommen? Und würden die Päpste, die hier hausten, darüber gelacht haben? Vielleicht aber war sie gar nicht so töricht, vielmehr die moralische Grundfrage der äußeren Politik, wenn diese größer betrachtet wurde als durch die Brille eines Botschafters, der sein Land für das beste der Welt und seine Laufbahn für den Zentralzweck seines Landes hält.
Mussolini lachte nicht, noch gab er die grobe Antwort irgendeines Imperialisten. Dieser Schüler Nietzsches, obwohl selber Condottiere, analysiert die Dinge, Cesare Borgia hat es auch getan.
»Es gibt keine guten und schlechten Völker, sagte Mussolini. Aber es gibt Völker, deren Temperament anziehender ist als andere. Natürlich eine subjektive Auswahl.«
– Wird der Wert eines Volkes, das, was es anziehend macht, durch seine Siege in der Schlacht bestimmt? fragte ich weiter. –
»Nicht bloß durch seine Siege, erwiderte er. Aber sie sind ein Fundament seines Wertes. Sie waren es! Wir leben in einer Krise dieser Ideen. Alle Nationen haben gezeigt, daß sie zum Opfer bereit waren. Sehen Sie heute China: wer hatte von ihm diesen opfermutigen Widerstand erwartet!«
– Ich höre Sie, sagte ich, die Kriegsbereitschaft wiederholt als einen Beweis des Opfers bezeichnen. –
»Das ist ein Teil von ihr«, warf er ein.
– Ich weiß, fuhr ich fort, daß Sie sich zu Zeiten am Siege berauscht haben: Sie erfaßten das, was uns heldenlos vorkommt, den technischen Krieg, mit dem Pathos eines Turniers. Im Weltkrieg, in dem wir nur zwei zufällige, unlogische Koalitionen und dann nach Jahren den zahlenmäßigen, geistlosen Maschinensieg der einen über die andern erblicken, sahen Sie den Lorbeer als Kampfpreis des Stärkeren, vielleicht auch Tapfereren und priesen »la vittoria senza misura«: eine dichterische Transposition. Als Sie aber ein paar Jahre später selber regierten und in einem Vertrag auf die Dritte Zone von Dalmatien verzichteten, sagten Sie in der Kammer: »Ein besserer Vertrag war nicht zu haben.« Ein weiser und dabei männlicher Satz! Bismarck, der sich auch einmal am Siege berauscht hat, nannte bei ruhigem Blute die Politik die Kunst des Möglichen. –
»Gut definiert«, fügte er ein.
– Vergleiche ich eines mit dem andern, soll ich dann schließen, daß Sie sich in diesen zehn Regierungsjahren nach der Seite der Mäßigung entwickelt haben? –
»Ich glaube«, sagte er mit seiner ruhigen, dunklen Stimme.
Es war nicht das erstemal, daß ich Mussolini in unseren Gesprächen auf diesen Punkt lenkte; dies scheint mir für Europa wichtiger, als alles, was er im Innern Italiens aufbaut. Daß in solchen Antworten an einen Privatmann keine Garantien liegen, weiß ich wohl. Da ich aber aus seinem Charakter seine Entschlüsse ableite, die in diesem Falle für 42 Millionen Menschen entscheidend sind, so versuchte ich, ihn von verschiedenen Seiten vor dies Problem zu stellen, dessen Entscheidung im letzten Grunde keine Frage der Notwendigkeit oder der Nützlichkeit ist, sondern eine Charakterfrage.
»Das alles läßt sich in kein System bringen, fuhr er nach einer Pause fort. Systeme sind Illusionen, Theorien sind Gefängnisse. Ich sehe zum Beispiel in dem Netz von Freundschafts- und Zollverträgen, die ich geschlossen habe, eine größere Garantie des Friedens als in großen Allianzen und selbst im Völkerbund.«
– Auch Verträge sind Gefängnisse, sagte ich. –
»Durchaus nicht, sagte er lebhaft. Ich habe Verträge einmal Kapitel der Geschichte genannt und bestritten, daß sie Epiloge wären. Diese Aufstellung hat nichts zu tun mit dem bekannten ›Chiffon de papier‹ von Bethmann Hollweg. Sie sagt nur, daß die Pariser Verträge, wie hundert andere vorher, modifiziert werden können und müssen.«
– Italien hat soeben auf der Abrüstungskonferenz weitreichende Vorschläge gemacht. Churchill, von dem Sie mir einmal sagten, Sie schätzten ihn hoch, hat die französische Riesenarmee eine Garantie des Friedens genannt. Stimmen Sie überein? –
»Im Gegenteil.«
– Und trotzdem erziehen Sie die Kinder kriegerisch! –
»Ich bereite sie für den Kampf des Lebens vor, sagte Mussolini. Auch für den der Nation.«
– Wir haben, sagte ich wieder, als Kinder noch 25 Jahre nach dem Siebziger Kriege jedes Jahr in der Schule den Sieg bei Sedan gefeiert. Diese Gewohnheit hat den Groll der Franzosen wachgehalten; heut machen sie das gleiche mit der Marneschlacht. Warum wiederholen auch Sie solche Feiern, die den Feind von gestern verletzen müssen? –
»Wir feiern den 24. Mai, an dem der Krieg begann, nicht als Triumph über den Besiegten. Das zeigt Ihnen meine ganze politische Haltung. Wir halten diesen Entschluß für ein revolutionäres Datum: damals hat das Volk gegen den Willen der Parlamentarier entschieden. Damit begann die Faschistische Revolution.«
– Schwer für die Kinder, diesen bedeutenden Unterschied zu begreifen. Siegesfeiern gehen ins Blut. Kinder sind grausam gegen Tiere und daher leicht zum Kriege zu erziehen. –
»Blut! sagte er mürrisch. Die Leute merken den Krieg immer erst, wenn Blut fließt. Haben wir heute keinen Zollkrieg? Alle Welt kauft den Fordwagen, weil er billiger ist, und schimpft dabei auf Amerika.«
– Also ist der Zollkrieg eine Gefahrenquelle für den Frieden? –
»Deshalb bin ich ja gegen die Zölle, sagte er, und habe sie weniger als die andern erhöht. Mit diesen neuen chinesischen Mauern kehren wir mitten im Lichte des 20. Jahrhunderts zum Mittelalter, zur Stadtwirtschaft zurück.«
– Präsident X, der einen der mächtigsten Staaten der Welt leitet, hat mir vorigen Sommer erklärt, dies wäre nur eine Krise wie andere vorher und wäre bald überwunden. –
»Ich halte sie vielmehr, sagte er, für eine Krise des kapitalistischen Systems. Das ganze System steht auf dem Spiele.«
Ich hatte schon lange Marquis-Posa-Gefühle im Herzen, jetzt ergriff ich den Anlaß und sagte:
– Wenn Sie all dies glauben, warum gründen Sie nicht Europa? Napoleon hat es versucht, Briand hat es versucht. Briand ist tot, und auf eine paradoxe Weise fällt die Erbschaft grade Ihnen zu. Sie scheinen dieser Idee heute näher als vor fünf Jahren! Grade Ihre Entwicklung würde uns den Ernst dieses großen Unternehmens verbürgen, denn wer sich langsam zu einem höheren Punkte hinaufgearbeitet hat, steht oben fester. Mussolini als Gründer Europas: Sie könnten der erste Mann des Jahrhunderts werden! –
Ich sprach viel länger auf ihn ein, denn diese Sache ist für mich Religion. Er betrachtete mich wie König Philipp den sonderbaren Schwärmer. Dann erwiderte er leise und kalt:
»Ja, ich bin dieser Idee näher als vor fünf Jahren. Aber die Zeit ist noch nicht reif. Man muß die Krise erst noch tiefer auswirken lassen. Neue Revolutionen werden kommen. Diese werden erst den neuen Typus des Europäers formen.«