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Über fremde Länder

Ich hatte die Oper bei einer Première besucht und in den Logen mehr Eleganz und Edelsteine gesehen, als in den Opernhäusern von Paris und New York während der letzten Jahre. Die Auffahrt der Wagen, die der Platz nur zur Hälfte aufnehmen konnte, der Aufwand an Dienern, der ganze Tonfall war von einer Art, als läge nicht die Welt im Fieber. Rom schien entschlossen, den Aufruhr der sozialen Elemente zu negieren. Ein paar Wochen zuvor war ich in der Moskauer Oper gewesen, wo man ebenso gut sang und spielte, wo man besser tanzte und auf der Bühne ebensoviel Glanz entfaltete. In Moskau schneite es auf der Bühne (sie spielten »Pique-Dame«), während man in Rom den Garten des Don Pasquale durch Mauern blühender Töpfe suggestiv machte.

Aber der Anblick des Theaters in Moskau mit seinen fünftausend Männern und Frauen wirkte wie die Musik des Komtur mitten im Don Juan. Grau gekleidet, zuweilen eine hellere Farbe zeigend, saßen diese nach Illusion verlangenden Menschen da, hingegeben dem Schein und der Musik, in einer Art aufgesparter Ruhe. Über allen Köpfen hing der Kampf von heut und von morgen, und als sie durch die große Pforte das Haus verließen, stand kein einziger Wagen da; nur zwei Schlitten warteten, ob einer käme, der sie bezahlen könnte. Eine Kette elektrischer Bahnen trug diese vom Tag wie vom Abend erregten Menschen nach Hause, wobei ihnen eine ungeheure Wirklichkeit die phantastischen Bilder der Oper rasch wieder fortwischte.

Trotzdem sind die Ähnlichkeiten zwischen dem Römischen und dem Moskauer System so stark, daß ich Mussolini von den beiden Opern erzählte, um ihn auf das Thema zu leiten. Zuerst sagte er ganz allgemein:

»Die Unterschiede? Wir haben Privateigentum, die Russen keins. Wir haben den Kapitalismus unter Kontrolle gestellt, die Russen haben ihn abgeschafft. Bei uns hängt die Partei von der Regierung ab, dort umgekehrt.«

– In Ihnen, sagte ich, sind beide durch Personalunion verbunden, und bei Lenin war es das gleiche. –

»Ich leugne nicht die Ähnlichkeiten.«

– Vor dem Kriege, sagte ich wieder, haben Sie einmal im »Avanti« geschrieben: »Sozialismus ist keine arkadische, friedliche Angelegenheit. Wir glauben nicht an die Heiligkeit des Lebens.« Ist das nicht Faschismus? –

»Es ist dasselbe.«

– Und über diesen haben Sie geschrieben: »Wenn der Faschismus kein Glaube wäre, wie könnte er Mut und Feuer erwecken?« Ist das nicht Kommunismus? –

»Kümmert mich nicht.«

– Also unterscheidet der Glaube, den Sie und die Russen fordern und finden, beide Systeme von allen andern? –

Er nickte: »Noch mehr. In allem Negativen ähneln wir uns: wir und die Russen sind gegen Liberale, Demokraten, Parlamente.«

– Sie haben im Jahre 19 oder 20 geschrieben, daß Lenin Rußland von der Autokratie befreit hat, und prophezeit, Rußland würde einmal eine der produktivsten Mächte der Erde. –

»Ist es nicht auf dem Wege dahin?« fragte Mussolini zurück.

– Lenin muß Sie gekannt haben. Er soll zu Italienern gesagt haben: Warum habt ihr Mussolini verloren? –

»Daß er das gesagt hat, ist richtig. Ob ich ihn mit den andern in Zürich getroffen habe, weiß ich nicht sicher. Sie wechselten wiederholt ihre Namen. Wir haben damals alle viel disputiert.«

– Mich wundert, daß Sie mit den Russen ausgekommen sind, bei Ihrem antislavischen Temperament. –

»Allerdings, sagte er, kommen die Russen schwer dazu, sich ganz verständlich zu machen. In ihrer Leidenschaft, den Dingen auf den Grund zu kommen, werfen sie die Gedanken oft durcheinander.«

– Sie haben, sagte ich, in der Jugend und auf der Redaktion viel mit Ihren Kameraden philosophiert. Fehlt Ihnen das nicht heute? –

»Heute kann ich nicht mehr philosophieren. Ich muß handeln.«

Diese Antwort gab er kurz, leise und bestimmt; es klang wie der Morseapparat.

– Ich habe neulich in Moskau zwei Dinge bei allen Leuten gefunden oder doch bei fast allen, sagte ich: Arbeit und Hoffnung. Ist es hier ähnlich? –

»Ähnlich. Nur können wir nicht für alle Arbeit finden.«

– Sie haben mit den Arbeitslosen großartige Dinge aufgebaut. Unsere Bedenken gegen die Diktatur treten im Anblick Ihrer Konstruktionen zurück. –

»Und einer unserer besten Ingenieure, sagte er, Omodeo, der den Stausee des Tirso in Sardinien gebaut hat, baut jetzt am Dnjepr die größten Stauwerke.«

– Ein Symbol, sagte ich. Sie bauen, verbessern, konstruieren wie die Russen. Sie zwingen die Banken die Fabriken zu stützen und die Fabriken, die Arbeiter zu behalten. Ich weiß nicht, ob das Staatssozialismus ist, der Name macht es nicht. –

»Hier muß man sich genau verstehen, sagte Mussolini, rückte vor und legte die beiden Arme auf, da er etwas genauer erklären wollte. Der faschistische Staat dirigiert und kontrolliert die Unternehmer von der Fischerei bis zur Schwerindustrie in der Val d'Aosta. Dort ist der Staat Eigentümer der Minen und Gruben. Der Staat macht die Transporte, denn ihm gehören die Bahnen. Dem Staat gehören viele Werkstätten. Trotzdem ist das alles kein Staatssozialismus, denn wir wünschen kein Monopol, worin der Staat alles macht. Wir nennen das Intervento des Staates. Das steht alles in der Carta del Lavoro definiert. Wenn etwas nicht funktioniert, kommt der Staat dazwischen.«

– Befindet sich diese Entwicklung im Crescendo? fragte ich. Und wird das Kapital immer gehorchen? –

»Durchaus Crescendo, erwiderte er. Das Kapital wird bis zum höchsten Punkte gehorchen. Es hat kein Mittel zum Widerstande. Das Kapital ist kein Gott, es ist ein Instrument.«

– Aus alldem haben wir den Eindruck, sagte ich etwas vorschnell, als kehrten Sie, wenn nicht zu Ihren Anfängen, so doch in die Nähe früherer Ideen zurück. –

»Im allgemeinen verbrenne ich die Schiffe hinter mir. Aber die alten Erfahrungen benutze ich.«

Da ich sah, daß er sich in diesem Punkte nicht weitertreiben ließ, ging ich auf Frankreich über und sagte:

– Sie sprachen neulich von der Unwahrscheinlichkeit der Republik in Italien. Halten Sie sie in Frankreich für gesichert? –

»Sie hat den Krieg gewonnen. Das ist die Grundlage.«

– Man hat die Franzosen die Chinesen Europas genannt: so verschließen sie sich hinter ihren Mauern und ignorieren mehr oder weniger Europa. Zugleich sind sie aber für Macht und Gloire so empfänglich. Wie kommt es, daß der kleinbürgerliche Geist mit dem repräsentativen zusammengeht? –

»Hier tritt man in eine typisch französische Psychologie, erwiderte Mussolini. Auf der individualen Basis ist der Franzose klein, auf der nationalen ist er groß. Natürlich. Er hat Jahrhunderte eines geeinigten nationalen Lebens hinter sich, eine Reihe großer Könige. Das fehlt uns Italienern.«

– Sie haben persönlich viel von französischer Kultur gewonnen? –

»Sehr viel. Renan in den philosophischen Problemen, Sorel für Syndikalismus und andere aktuelle Fragen. Und dann vor allem der Riese Balzac!«

– Man hat die Engländer, sagte ich ohne Übergang, die modernen Römer genannt. Sie sind der berufene Experte für diese Frage. –

»Die modernen Römer? Nein. Aber sie haben einige Eigenschaften der alten Römer: Empirismus, Zähigkeit, Geduld.«

– Mich wundert, sagte ich, England hier so wenig beliebt zu finden. Liegt das daran, daß es die stärkste Stütze der Demokratie ist, die Sie negieren? –

»Nicht die Engländer sind bei uns unpopulär, sagte er, die Fremden sind es im allgemeinen. Alle Sympathien nach außen haben abgenommen. Eine neue Bewegung, wie die unsrige, geht den überlieferten Phrasen auf den Leib. Da hat man ein halbes Jahrhundert gesagt: die traditionelle Freundschaft zwischen uns und England. Wir beklopfen das Problem und fragen: gibt es die? Oder die ›lateinische Brüderschaft‹. Sind die Franzosen Lateiner und haben sie ihre Brüderschaft bewiesen? Diese Revisionen sind ganz faschistisch.«

– Ich habe Sie in Amerika populärer gefunden als irgendwo, sagte ich. In hundert Interviews fragte man mich: How do you like Mussolini? Und doch ist man dort gegen jeden Diktator gestimmt. –

»Man hat doch einen! sagte er lebhaft. Die Stellung des Präsidenten ist beinah allmächtig, garantiert durch die Verfassung.«

– Er könnte es sein. –

»Nein, er ist es!«

– Ich habe Hoover und Borah im vorigen Sommer gesprochen. Die Verschiedenheit der Charaktere und so auch der politischen Anschauung ist noch größer, als sie erscheint. Auch über die Schulden äußerten sie zweierlei Meinungen. Kann Amerika die Schulden gänzlich streichen? –

»Man muß sie streichen.«

– Ich möchte Ihnen jetzt die drei Fragen stellen, die mir drüben immer gestellt wurden. –

»Die erste ist die Kameradschaftsehe?« fragte er. Ich lachte und er fuhr fort: »Ein Irrtum. Sie löst das Problem nicht. Ein schwieriges Problem, auch von der bürgerlichen und kirchlichen Ehe nicht gelöst. Der alte ist aber immer noch der beste Weg, alles in allem. Die zweite ist über die Prohibition?«

– Natürlich. –

»Ein Verhängnis, sagte er. Ich trinke selber beinahe nichts, aber was ist geschehen! Nach Jahrhunderten haben sie die Natur des Menschen verletzt, der zu allen Zeiten den Wein gebaut und getrunken hat. Als Folge haben sie jetzt einen weit schlimmeren Alkoholismus. Und die dritte?«

– Technik und Rekord, sagte ich. Den literarischen Hochmut, der sich gegen die Technik wendet, habe ich nie geteilt. Als ich vor Jahren las, daß Sie Ihre erste amtliche Fahrt durch Sizilien am Steuer Ihres Autos gemacht haben, wurde ich, damals voller Skepsis gegen alles, was hier geschah, aufmerksam, denn da war zugleich die Leistung und das Symbol. Offenbar wollten Sie den Bürgern zeigen, was es heißt: steuern. –

Er nickte und sagte: »Die Vorwürfe gegen die Technik sind meistens ungerecht. Dieses Produkt des menschlichen Geistes hat große Resultate erzielt. Wo wären ohne sie die großen Schiffe, Brücken, Tunnels, Flugzeuge? Soll die Humanität einen Sprung zurückmachen, und wieder den Karren des Altertums ziehen, wenn man das Auto hat, das schneller, bequemer und sogar sicherer ist? Die Torheit liegt nur in der Sucht, immerfort den andern übertreffen zu wollen: wer sitzt am längsten auf den Bäumen oder wer tanzt am längsten?«

– Ist es nicht erstaunlich, sagte ich, wie wenig politisches Interesse die Bürger eines Landes wie Amerika nach 150 Jahren Demokratie besitzen? –

»Da sehen Sie, erwiderte er lebhaft, wie der Kapitalismus die Politik vertilgt. Das am höchsten kapitalistische Land ist das unpolitischeste in der Welt. Alle vier Jahre regen sie sich einmal auf beim Wählen, ob mehr oder weniger getrunken wird oder dergleichen, und dann drahtet der geschlagene Kandidat dem erwählten Präsidenten seinen Glückwunsch. Das ist vielleicht fair play, aber kein Kampf.«

– Ist das aber rein amerikanisch? fragte ich. Warum gibt es in der Welt überhaupt so wenig fähige Staatsmänner in einem Augenblick, wo sie am nötigsten wären? –

»Weil die Politik heute viel komplizierter ist als früher. Und dann hat der Kapitalismus das politische Interesse aufgefressen: alle Welt interessiert sich nur noch für Geldfragen, für die eigne und für die der andern. Wo sind denn die Zeiten, als ganz Europa den Reden von Peel oder Disraeli lauschte, sogar noch denen von Jaurès und Clemenceau! Heute hört man sich ein paar Sätze im Radio an, stellt es ab, und niemand studiert sie. Die Leute wollen heut nicht regieren, sie wollen regiert werden und ihre Ruhe haben. Gäbe es mehr große Staatsmänner in Europa, so gäbe es weniger Parteiung.«

Ich ging auf Deutschland über und verglich Fleiß und Tüchtigkeit bei den Deutschen und bei den Amerikanern.

»Die Deutschen haben in diesem Jahrzehnt Großes geleistet«, sagte Mussolini.

– Worin erkennen Sie den Grund des Zusammenbruches? –

»Deutschland ist von einer Weltkoalition geschlagen worden.«

– Und in den fünfzig Jahren vorher, fragte ich, sehen Sie keine indirekten Gründe? –

Er machte eine Pause, sah mich forschend an und sagte dann langsam und bestimmt: »Alles, was Bismarck in dreißig Jahren geschaffen hat, war Deutschland nützlich. Bei einem Staatsmann macht es durchaus auch die Länge der Zeit, in der er regiert. Was Sie neulich von Beethoven und Shakespeare behauptet haben, gilt auch hier, und Bismarck hatte Zeit. Aber alles, was nachher kam, die 25 Jahre unter Wilhelm dem Zweiten haben das vorige untergraben. Das war keine Politik mehr. Ich glaube, Sie haben das richtig dargestellt. Mit dem Kaiser war deshalb auch jeder Frieden unmöglich.«

– Halten Sie, fragte ich weiter, die deutsche Politik der Erfüllung in den ersten Jahren nach dem Kriege historisch gesehen für richtig? –

»Es war die einzige Möglichkeit. Eine andere hätte in den ersten Jahren bei den großen Leidenschaften und der noch bestehenden Kriegsallianz gegen Deutschland die schwersten Folgen für das geschlagene Land gehabt. Rathenau, den ich im Jahre 22 kennenlernte, war einer der feinsten Geister und durchdringendsten Köpfe, die Europa im letzten Vierteljahrhundert besaß. Wieviel ich von Stresemann hielt, habe ich bei seinem Tode geschrieben. Er hat fünf Jahre vor dem vertraglichen Datum den Rhein befreit.«

– War er nicht der umgekehrte Mussolini? fragte ich und fuhr auf seinen erstaunten Blick hin fort: Vom Nationalismus zum Internationalismus! –

»Aber die Lage beider Männer war verschieden«, sagte er.

– Weil es der Charakter beider Völker ist, erwiderte ich. Der Faschismus zitiert häufig die altpreußische Zucht, und doch hatte Preußen die stärkste sozialistische Partei. –

Er lächelte, zog die Brauen und machte sein schlaustes Gesicht: »Es steckt viel Preußentum im deutschen Sozialismus. Ich glaube sogar, dort liegt der Schlüssel für seine Disziplin.«

– Also kann man den Faschismus nach Deutschland exportieren? –

»Nach keinem Lande, sagte er. Das ist ein italienisches Gewächs. Aber einige seiner Konzeptionen würden nach Deutschland passen: die Organisation der Berufe als Gruppen und dieser Gruppen in Beziehung zum Staate. Das korporative System ist dort durch die großen Organisationen schon vorbereitet und würde nur einen Schritt weiter bedeuten. Ferner die Kontrolle des Kapitals und der Arbeit.«

– Sie sagten mir einmal, erwiderte ich, die Italiener wären zu lange kritisch gewesen, jetzt sollten sie deshalb gehorchen lernen. Die Deutschen dagegen haben ein paar Jahrhunderte lang gehorcht, für sie ist es höchste Zeit, endlich einmal kritisch zu werden. Das ist der Grund, warum wir 500 Mittelmäßigkeiten im Reichstage einem überragenden Führer vorziehen. Die Deutschen haben die Leidenschaft, zu gehorchen, deshalb wollen wir dort keinen Faschismus. Auch zeigt der völlige Mangel an Führern Ihrer Art, daß das »Volk der Denker« zwar die großen Lehrer der Diktatoren hervorbringt, Marx, Hegel und Nietzsche, nur keine Diktatoren. Das ist auch der Grund, warum die Deutschen nie Revolution machen. –

»Und Luther?« fragte Mussolini.

– Der einzige, der Erfolg hatte. Um aber das ominöse Wort zu meiden, wird seine Revolution etwas verschämt Reformation genannt. Revolution, durfte Bismarck sagen, als Napoleon III. ihn in den sechziger Jahren fragte, ob keine zu erwarten stünde: Revolution machen in Preußen nur die Könige. –

Mussolini kam auf einem mir nicht mehr gegenwärtigen Wege auf die Diktatur zurück und sagte:

»Deutschland zieht unter allen möglichen Formen der Diktatur die vor, die durch eine mächtige Bürokratie ausgeübt wird, gut organisiert und immer etwas abgetrennt von der Welt. Auch drückt sich die Diktatur dort nicht in einem Mann aus oder in einer Reihe von Männern, die sichtbar im Schaufenster stehen. Zuweilen findet sie in Form der Aktien-Gesellschaft statt, reicht also von den Kartellen bis zu den Geheimräten: Holstein auf der einen, Krupp oder Thyssen auf der andern Seite.«

– Wir litten in der Weltmeinung, sagte ich, unter dem Begriff des doppelten Deutschland. Das eine haben Sie eben skizziert. Das andere ist jenes, das der Welt die beiden größten Geister des Jahrhunderts geschenkt hat, Goethe und Nietzsche. Haben Sie im Kriege innerlich den Zusammenhang mit diesem anderen Deutschland verloren? –

»Niemals. Ich kann ihn nicht verlieren.«


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