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Gründe zum Kriege

Im Luftministerium hatte mir Balbo sein ganzes Reich gezeigt, buchstäblich vom Keller, der Wirtschaftsräume nach Art der großen Dampfer einschließt, bis zum Dach, auf dem die Beamten abends Tennis spielen. Die konstruktive Leidenschaft, die auch die jungen Italiener heute beherrscht, ist hier mit dem angebornen Sinn für Schönheit vereint. Dieser Bau, der jüngste und schönste, auf den sie alle stolz sind, ist halb russisch, halb amerikanisch. In Moskau habe ich ein paar Tausend Menschen genau so praktisch, rasch und hygienisch zusammen essen sehen wie hier, wo die halbe Stunde des Lunch mit Musik, und wo die Wände mit Karikaturen aus dem Flugwesen erhellt werden. Nur gibt es in Moskau drei Klassen zu verschiedenen Preisen, während hier alle, vom Minister bis zur jüngsten Sekretärin nebeneinander dasselbe essen, aber gemäß ihrem Gehalt zwischen 2 und 8 Lire dafür zahlen. Balbo war auf die Rohrpost, mit der er in alle Büros einen thermophorisch heiß gehaltenen Kaffee schicken kann, stolzer als auf seinen Flug nach Südamerika.

– Er scheint ein halber Dichter, schloß ich meinen Bericht. Sentenzen und Orakel umgeben ihn an allen Wänden seines Saales. –

»So sind die meisten Flieger, sagte Mussolini. Er hat auch ein Buch geschrieben, ist überhaupt äußerst fähig.«

– Schade, sagte ich, daß 90 Prozent Kriegsfliegerei in diesem Hause verwaltet werden und nur 10 Prozent zivile. Die Freude an der Technik wird einem heute beständig durch diese Gedanken verdorben. –

»Sie sehen überall Gespenster«, sagte er und sah mich spöttisch an.

– Ich erinnere mich nur dessen, was wir erlebt haben. –

»Ich habe, sagte Mussolini, Ihr Buch ›Juli 14‹ gelesen, in dem Sie die Dummheiten und Verbrechen von zwei Dutzend Staatsmännern beider Parteien schildern. Das ist vollkommen richtig dargestellt. Und doch sehe ich über oder, wenn Sie wollen, unter diesen Intrigen der Diplomaten noch tiefere Gründe zum Kriege. Sie sagen ja selbst, daß Sie nur den Juli, also nicht die Entwicklung von weither schildern wollten. Ja, er war eine Notwendigkeit geworden. Es waren zu viel Motive und Spannungen akkumuliert: das Drama mußte sich entwickeln. Sie hatten den Teufel gerufen: da ließ er sie nicht mehr los.«

– Und doch, erwiderte ich, haben Sie selbst geschrieben, die Skrupellosigkeit der europäischen Regierungen vor dem Kriege sei eine Schande der Menschheit. Sie haben auch im Juli 14 noch geschrieben: »Abasso la guerra!« Daß Sie Ihre Anschauung wechselten, können Ihnen nur Ideologen übelnehmen. Wer in all diesen Ereignissen seine Anschauungen nie geändert hat, beweist nur seinen Starrsinn vor der Macht der Realitäten. Auf die Motive kommt es an: die Motive Ihrer Handlungen möchte ich verstehen. Gestern hat mir der Marchese N., einer der Unterhändler von Versailles, als Hauptmotiv Italiens zum Kriege die Furcht vor dem Verhungern genannt, dem das Land durch die englische Flotte weit schlimmer ausgesetzt gewesen wäre, als Griechenland, das man zuerst in Ruhe ließ. –

Mussolini legte beide Arme auf die Tischplatte und beugte sich vor; das ist keine Kämpferstellung, aber eine sammelnde und entschlossene Bewegung, die man nur bei gefaßten und klaren Menschen finden wird. –

»Das Motiv, das Sie nennen, so fing er an, spielte mit, war aber nicht das entscheidende. Freilich war die Lage unserer Halbinsel schon geographisch gefährlich. Aber meine Gedanken waren auch in dieser Frage revolutionäre Gedanken. Die Erklärung der Neutralität war die erste revolutionäre Tat gegen die Regierung, denn diese konnte ja theoretisch Verträge haben, die sie an die Zentralmächte bannten. Die Verletzung der Verträge durch den Grafen Berchtold kennen Sie.«

Ich erwiderte: – Wenn Italien damals so tief historische Gefühle für Frankreich äußerte, warum erinnerte sich niemand, daß Frankreich Italien in Villafranca um den halben Siegespreis gebracht hat, während es Preußen war, das durch seine Kriege von 66 und 70 gegen Österreich und Frankreich überhaupt erst die Möglichkeit für Italien geschaffen hat, sich zu einigen. –

Er nickte und sagte: »Das ist vollkommen wahr. Aber da sprach eine Menge moralischer Gründe dagegen, die Invasion vor allem. Frankreich auf der andern Seite wurde um diese Zeit sehr geliebt, und die französische Propaganda konnte mit Demokratie, Freimaurern und andern Elementen arbeiten. Vor allem waren die Habsburger verhaßt, und gegen diese, nicht gegen Deutschland sind wir ja faktisch zu Felde gezogen. Die Strömungen waren verschieden, flossen aber zusammen: die Nationalisten wollten Vergrößerung des Landes, die Demokraten wollten Trient, die Syndikalisten wollten den Krieg, um aus ihm die Revolution zu entwickeln, bei diesen stand ich. Zum erstenmal war der größte Teil der Nation zu einem aktiven Entschluß gekommen, entgegen den Parlamentariern und Politikanten. Das war eine Sache nach meinem Sinn.«

– Konnten Sie sie nicht billiger haben? fragte ich. Wenn die Sozialisten in Berlin und Paris ohne Vorbehalt mitgingen, so bleibt das zwar, pragmatisch gesehen, unverzeihlich, wird aber von jenem Zeitpunkt aus gesehen verständlich, denn in beiden Ländern glaubten sie sich überfallen. Nur Italien war in der glücklichen Lage, bewaffnet zuzusehen und dann bei Friedensschluß mit einer intakten Armee umsonst durch bloße Drohungen vor ermüdeten Siegern sich einen Siegespreis zu holen. Warum hat Italien nicht diesen Weg gewählt? Es wurde damals viel von der Ehre der Nation bei Ihnen und wohl auch von Ihnen geschrieben. Also war es diese Ehre, die Sie zum Schlagen zwang? –

»Der Neutrale, sagte Mussolini, wird immer antipathisch, so wie einer, der sich drückt, sich zu schlagen. Aber das war nur das erste, das sentimentale Motiv. Das wichtigere lag in der Überlegung, daß wir, wer auch siegte, am Schluß einer Koalition gegenüberstehen würden. Deutschland als Sieger hätte uns die Neutralität nie verziehen, und die Entente hätte uns noch viel verächtlicher behandelt, als sie es sogar mit dem Verbündeten in Paris zu machen wagte. Wir mußten mit der Möglichkeit rechnen, allein gegen eine Menge Staaten zu kämpfen, selbst wenn sie ermüdet waren. Das dritte, mein persönlichstes Motiv, lag in der Wiedergeburt Italiens, die ich erhoffte und die ich erreichte.«

– Aber es war doch Ihre eigne Partei, warf ich ein, die den Geist des Landes aufgelöst oder doch aufgelockert hatte! Gut. Sie verließen die Partei und schreiben: »Ich war frei«. Heißt das, ohne Dogma oder ohne Partei? –

»Ohne Partei, erwiderte er. Aber auch als früherer Sozialist muß ich Ihnen widersprechen. Bei uns war der Sozialismus im Gegensatz zu andern Ländern ein vereinigendes Element. Das anerkennen alle italienischen Historiker: für Einen Gedanken und für Eine Nation. Von 1892, wo sie sich von den Anarchisten auf dem Kongreß von Genua getrennt hatten, bis 1911, also zwei Jahrzehnte lang haben unsere Sozialisten für ein einiges Italien gekämpft. Dann kamen die Debatten und Tendenzen und mit ihnen die Décadence. Da dachte ich, eine große Bewegung des ganzen Volkes müßte die Einigkeit der Nation moralisch festigen, mit oder ohne Sozialismus.«

– Wenn nun aber, fragte ich wieder, die deutschen und französischen Sozialisten gegen den Krieg aufgestanden wären, mindestens die Kredite nicht bewilligt hätten? –

»Das ergab eine ganz andere Lage, rief er lebhaft. Wenn sie dies getan und sich gehalten hätten, wäre alles anders geworden.«

– Was dachten Sie bei der Ermordung von Jaurès? –

Mussolini machte eine Pause: »Ich habe ihn gekannt, sagte er dann. Bei seiner Ermordung dachte ich, daß dies ein Faktum sei, wie es die Fatalität der Ereignisse mit sich bringt.«

– Wäre Italien ohne Sie neutral geblieben? –

»Wir waren drei, erwiderte er. D'Annunzio, der die Jugend, die Universitäten entflammte, nachdem er schon seit Jahren Begeisterung für die Flotte durch sein ›Nave‹ erregt hatte; dann Corridono, der die Masse der Arbeiter führte und später fiel, und ich, der die sozialistische Partei umwälzte.«

– Als die Partei Sie ausschloß, sagte ich, sollen Sie unter dem Pfeifen und Heulen des Saales ausgerufen haben: Ihr haßt mich, weil ihr mich noch immer liebt! Ein schönes Wort. Ist es wahr? –

Er nickte, und ich kam auf seine nationalen Anfänge zurück. Er sagte:

»Ich hatte schon im Jahre 11 als Sozialist geschrieben, der Gordische Knoten von Trient könnte nur mit dem Schwerte durchhauen werden. Um dieselbe Zeit habe ich geschrieben, daß der Krieg meist das Vorspiel einer Revolution ist. So war es im Anfang des Krieges leicht für mich, die russische und die deutsche Revolution öffentlich vorauszusagen.«

– Sie standen unter dem Eindruck der »beiden Deutschland« und haben an alle Grausamkeiten geglaubt. –

Er nickte: »Ich habe deutsche Literatur und Musik in all den Jahren weiter getrieben, aber zugleich an die belgischen Greuel geglaubt. Später aber, als ich sie widerlegt fand, habe ich dies öffentlich im Senat zum Erstaunen gewisser belgischer Kreise festgelegt. Das waren ganz einfach die Grausamkeiten des Krieges, nicht die der Deutschen. Ein italienischer Pastor, Protestant, wohnhaft in Amerika, ist von dort im Kriege nach Belgien geschickt worden, um Beweise für die deutschen Greuel hinüberzubringen. Er schrieb mir einen kuriosen Brief: er habe sie überall gesucht, denn man brauchte sie zur Kriegspropaganda. ›Leider konnte ich in monatelangem Suchen keine Greuel finden‹.«

– Sie haben also, schloß ich, Ihren Krieg gemacht und Ihre Revolution. Sie haben beide gewonnen. Im Sinne Nietzsches, der Ihre und meine Anschauungen verbindet, lassen Sie mich nun fragen: wo lag für Sie das tiefste Motiv? Die österreichische Verwaltung im Tridentino war nicht schlecht, die italienische Bürokratie dagegen haben Sie beständig angegriffen. Da kann ich Ihre gewaltsame Lösung nur verstehen, wenn Sie diese Verwaltung, diese Regierung selber machen wollten. War also Ihr Sinn vor allem darauf gerichtet, Italien nach Ihrer eigenen Vision zu gestalten? –

»So wars,« sagte er in entschlossenem Tone.

– Gut, daß Sie es sagen, erwiderte ich. Die meisten fürchten sich in solchem Fall und machen Phrasen. –

Er sah mich finster an und sagte: »Ich suche niemals ein Alibi.«


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