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Wir überspringen im Geiste drei Jahrzehnte und kehren zu dem Manne zurück, mit dem wir uns im Anfange unserer Erzählung beschäftigten. Wir ließen ihn in der Laube seines Gärtchens. Die Glockentöne von Sankt Georg riefen die Bewohner der Stadt zum Vormittagsgottesdienste; sie klangen auch in das Gärtchen hinter dem Hause mit den grünen Fensterladen herein. Dort sitzt er jeden Sonntag um diese Zeit. Rufen die Glocken zum Nachmittagsgottesdienst, dann sieht man ihn, das silberbeknopfte Rohr in der Hand, nach der Kirche steigen. Kein Mensch begegnet ihm, der den alten Herrn nicht ehrerbietig grüßte. Nun sind es bald dreißig Jahre her, aber es gibt noch Leute, die die Nacht miterlebt haben, die denkwürdige Nacht, von der wir eben erzählten. Wer es noch nicht weiß, dem können sie sagen, was der Mann mit dem silberbeknopften Stocke für die Stadt getan in jener Nacht. Und was er den Morgen nachher gestiftet, davon kann man Steine zeugen hören. Vor der Stadt am Brambacher Wege, nicht weit vom Schützenhaus, erhebt sich aus freundlichem Gärtchen ein stattlicher Bau. Es ist das neue Bürgerhospital. Jeder Fremde, der das Haus besucht, erfährt, daß der erste Gedanke dazu von Herrn Nettenmair kam. Er muß die ganze Geschichte jener Nacht hören, die wackere Tat des Herrn Nettenmair, der dazumal noch jung war; dann, wie man Geld für ihn gesammelt und er die bedeutende Summe an den Rat gegeben als Stamm zu dem Kapital, das der Bau erforderte; wie sein Beispiel Frucht getragen und reiche Bürger mehr oder weniger dazu geschenkt und vermacht, bis endlich nach Jahren ein Zuschuß aus der Stadtkasse Beginn und Vollendung des Baues ermöglicht hatte.
War Herr Nettenmair aus der Kirche zurück, dann verbrachte er den Rest des Sonntags auf seinem Stübchen – denn da wohnt er noch immer –, oder er machte einen Gang nach der nahen Schiefergrube, die jetzt ihm gehört oder vielmehr seinem Neffen. Die Erfüllung des Wortes, das er sich gegeben, war der Gedanke seines Lebens geblieben. Was er schaffte, schaffte er für die Angehörigen seines Bruders; er sah sich nur als ihren Verwalter an. Begegnete ihm auf seinem Wege ein zierliches kleines Mädchen, so dachte er an das tote Ännchen. Sein Gedächtnis war so gewissenhaft als er selbst. Dann rief er das Kind zu sich, streichelte ihm das Köpfchen, und es mußte wunderlich zugegangen sein, fand sich in den Taschen des blauen Rockes nicht irgend etwas sorglich in reines Papier Gewickeltes, das er herausnehmen konnte, sich von dem kleinen Munde einen Dank zu verdienen. Aber das Kind konnte sich erst freuen, wenn er vorübergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die große Gestalt etwas so Ernstes und Feierliches, daß das Kind vor Respekt nicht zur Freude kommen konnte. Die Woche über saß Herr Nettenmair über seinen Büchern und Briefen oder beaufsichtigte im Schuppen das Ab- und Aufladen, das Behauen und Sortieren der Schiefer. Punkt zwölf aß er zu Mittag, Punkt sechs zu Abend auf seinem Stübchen; dazu brauchte er eine Viertelstunde, dann strich er mit leiser Hand über das alte Sofa und bewegte sich drei andere Viertelstunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen. Mit dem ersten Viertelschlage von ein und sieben Uhr klinkte er die Staketentüre wieder hinter sich zu. Am Sonntag ist's anders; da sitzt er eine ganze Stunde lang in der Laube und sieht nach dem Turmdache von Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen, und der Leser kennt alles, was dann durch Herrn Nettenmairs Seele geht, was er abliest vom Turmdache von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber immer noch schöne Frauengesicht gehört, das zuweilen durch das Staket und das Bohnengelände daran zu dem Sitzenden herüberlauscht, das weiß der Leser nun. Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die sich noch immer gern frei macht, war noch dunkelbraun und voll und hing auf eine faltenlose Stirn herab, die Wangen darunter schwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten noch, und die blauen Augen glänzten, als sie dem Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er küßte sie leise auf die Stirn und nannte sie mit dem Namen »Schwester«. Sie verstand, was er meinte. Schon damals sah sie zu dem Manne hinauf mit der Ergebung, ja Andacht, mit der sie jetzt sein Sinnen belauscht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr durchsichtiges Antlitz.
Der alte Herr geriet in Zorn, als Apollonius ihm seinen Entschluß, nicht zu heiraten, mitteilte. Er ließ dem Sohne die Wahl, die Ehre der Familie zu bedenken oder nach Köln zurückzugehen. Apollonius' Herzen wurde es schwerer als seinem Verstande, den Vater zu überzeugen, daß nur er die Familienehre aufrecht zu halten vermöge und bleiben müsse. Er wußte, nur seinem Entschlusse treu, blieb er der Mann, sein Wort zu halten. Das konnte er dem Vater nicht sagen. Erfuhr dieser das wahre Verhältnis der beiden jungen Leute, so drang er nur noch stärker auf die Heirat. Dann hätte er ihm auch sagen müssen, wie der Bruder den Tod gefunden. Er hätte ihn nur tiefer beunruhigen müssen. Daß der Vater im Herzen überzeugt war, der Bruder hatte durch Selbstmord geendigt, wußte er nicht. Die beiden so nah verwandten Menschen verstanden sich nicht. Apollonius setzte die innerliche Natur seines eigenen Ehrgefühls bei dem Vater voraus, und der Alte sah in der Weigerung des Sohnes und dessen Beweis, er nur könne der schwierigen Lage des Hauses gerecht werden, nur den alten Trotz auf seine Unentbehrlichkeit, der es nun nicht einmal mehr der Mühe wert hielt, zu verbergen: der Vater war in seinen Augen nichts mehr als ein hülfloser, alter, blinder Mann. Und was diese Mißverständnisse verursachte und begünstigte, das Zurückhalten, war eben der Familienzug, den sie beide gemein hatten. Denselben Morgen hatte eine Deputation des Rats Apollonius den Dank der Stadt gebracht, hatten die angesehensten Leute der Stadt gewetteifert, ihm ihre Achtung und Aufmerksamkeit zu beweisen. Ursache genug, eine ehrgeizige Seele zur Überhebung zu reizen, Grund genug für den alten Herrn, dem Apollonius als eine solche Seele galt, an dessen Überhebung zu glauben. Der alte Herr mußte die Unentbehrlichkeit des Trotzenden anerkennen und durfte weder ein Recht noch eine Macht gegen ihn behaupten. Die Gemütsbewegung und geistige Überanstrengung an dem Tag vor dem Tode seines älteren Sohnes hatten seine letzte Kraft untergraben; nun brach sie vollends zusammen. Von Tag zu Tag wurde er wunderlicher und empfindlicher. Er verlangte von Apollonius keine Unterwerfung mehr; er fand eine selbstquälerische Lust, in seiner diplomatischen Weise dem Sohne dessen Unkindlichkeit vorzuwerfen, indem er beständig sein grimmiges Bedauern aussprach, daß der tüchtige Sohn von einem alten herrschsüchtigen Vater, der nichts mehr sei und nichts mehr könne, sich so viel gefallen lassen müsse. Vergeblich war alles Bemühen des Sohnes, der Alte glaubte nicht an die Aufrichtigkeit desselben. Dabei konnte er sich in seiner Wunderlichkeit gleichwohl der Tüchtigkeit des Sohnes und der wachsenden Ehre und des steigenden Wohlstandes seines Hauses freuen, wenn er sich dies auch nicht merken ließ. Er erlebte noch den Ankauf der Schiefergrube, die Apollonius seither im Pachte gehabt. Der Sohn ertrug die Wunderlichkeiten des Vaters mit der liebend-unermüdlichen Geduld, womit er den Bruder ertragen hatte. Er lebte ja nur dem Gedanken, das Wort, das er sich gegeben, so reich zu erfüllen, als er konnte; und in diesem war ja auch der Vater mit eingeschlossen. Das Gedeihen seines Werkes gab ihm Kraft, alle kleinen Kränkungen mit Heiterkeit zu ertragen.
Den Tag nach der Gewitternacht hatte er dem alten Bauherrn seine ganze innere Geschichte mitgeteilt. Der alte Bauherr, der bis zu seinem Tod mit ganzer Seele an ihm hing, blieb sein einziger Umgang, wie er der einzige war, dem sich Apollonius, ohne seiner Natur ungetreu werden zu müssen, enger anschließen konnte.
Einige Tage nach der Nacht mußte sich Apollonius zu Bette legen. Ein heftiges Fieber hatte ihn ergriffen. Der Arzt erklärte die Krankheit erst für eine sehr bedenkliche, aber in ihr kämpfte nur der Körper den Kampf gegen das allgemeine Leiden sieghaft aus, das geistig in dem Entschlusse jener Nacht seinen rettenden Abschluß gefunden. Die Teilnahme der Stadt an dem kranken Apollonius gab sich auf mannigfache Weise rührend kund. Der alte Bauherr und Valentin waren seine Pfleger. Diejenige, welche Natur durch Liebe und Dankespflicht zur sorglichsten Pflegerin des Kranken bestimmt hatte, rief Apollonius nicht an sein Bett, und sie wagte nicht, ungerufen zu kommen. Die ganze Dauer der Krankheit hindurch hatte sie ihr Lager auf der engen Emporlaube aufgeschlagen, um dem Kranken so nah zu sein als möglich. Wenn der Kranke schlief, winkte ihr der alte Bauherr hereinzutreten. Dann stand sie mit gefalteten Händen, jeden Atemzug des Schlafenden mit Sorge und Hoffnung begleitend, an dem Bettschirm. Unwillkürlich nahm ihr leiser Atem den Schritt des seinen an. Sie stand stundenlang und sah durch einen Riß im Bettschirm nach dem Kranken hin. Er wußte nichts von ihrer Anwesenheit, und doch konnte der Bauherr bemerken, wie leichter sein Schlaf, wie lächelnder sein Gesicht dann war. Keine Flasche, aus der der Kranke einnehmen sollte, die er nicht, ohne es zu wissen, aus ihrer Hand bekam; kein Pflaster, kein Überschlag, den nicht sie bereitet; kein Tuch berührte den Kranken, das sie nicht an ihrer Brust, an ihrem küssenden Munde erwärmt. Wenn er dann mit dem Bauherrn von ihr sprach, sah sie, er war mehr um sie besorgt als um sich; wenn er freundlich tröstende Grüße an sie auftrug, zitterte sie hinter dem Bettschirm vor Freude. Wenig Stunden ruhte sie, und wehte der kalte Winternachtwind durch die locker schließenden Laden die kalten Flocken in ihr warmes Gesicht, berührte ihr eigener Hauch, auf der Decke gefroren, ihr eisig Hals, Kinn und Busen, dann war sie glücklich, etwas um ihn zu leiden, der alles um sie litt. In diesen Nächten bezwang die heilige Liebe die irdische in ihr; aus dem Schmerz der getäuschten süßen Wünsche, die ihn besitzen wollten, stieg sein Bild wieder in die unnahbare Glorie hinauf, in der sie ihn sonst gesehen.
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Apollonius genas rasch. Und nun begann das eigene Zusammenleben der beiden Menschen. Sie sahen sich wenig. Er blieb auf seinem Stübchen wohnen, Valentin brachte ihm das Essen wie sonst dahin. Die Kinder waren oft bei ihm. Begegneten sich die beiden, begrüßte er sie mit freundlicher Zurückhaltung; damit entgegnete sie den Gruß. Hatten sie etwas zu besprechen, so machte es sich jederzeit wie zufällig, daß die Kinder und der alte Valentin oder das Hausmädchen zugegen war. Kein Tag verging deshalb ohne stumme Zeichen achtender Aufmerksamkeit. Kam er am Sonntag vom Gärtchen heim, so hatte er einen Strauß Blumen für sie, den Valentin abgeben mußte. Er konnte gute Partien machen; es meldeten sich stattliche Bewerber um sie. Er wies die Anträge, sie die Freier zurück. So vergingen Tage, Wochen, Monde, Jahre, Jahrzehnte. Der alte Herr starb und wurde hinausgetragen. Der brave Bauherr folgte ihm, dem Bauherrn der alte Valentin. Dafür wuchsen die Kinder zu Jünglingen auf. Die wilde Locke über der Stirn der Witwe, die Schraube über Apollonius' Stirne bleichten; die Kinder waren Männer geworden, stark und mild wie ihr Erzieher und Lehrherr; Locke und Schraube waren weiß; das Leben der beiden Menschen blieb dasselbe.
Nun weiß der Leser die ganze Vergangenheit, die der alte Herr, wenn die Glocken sonntags zum Vormittagsgottesdienste rufen, in seiner Laube sitzend, vom Turmdach von Sankt Georg abliest. Heute sieht er mehr vorwärts in die Zukunft als in die Vergangenheit zurück. Denn der ältere Neffe wird bald Anna Wohligs Tochter zum Altare von Sankt Georg und dann heimführen; aber nicht in das Haus mit den grünen Fensterladen, sondern in das große Haus daneben. Das rosige ist für das gewachsene Geschäft zu klein geworden, auch hat der neue Haushalt nicht Platz darin; Herr Nettenmair hat das große Haus über dem Gäßchen drüben gekauft. Der jüngere Neffe geht nach Köln. Der alte Vetter dort, dem Apollonius soviel dankt, ist lange tot, auch der Sohn des Vetters ist gestorben. Dieser hat das große Geschäft seinem einzigen Kinde hinterlassen, der Braut des jüngsten Sohnes von Fritz Nettenmair. Beide Paare werden zusammen in Sankt Georg getraut. Dann wohnen die beiden Alten allein in dem Hause mit den grünen Fensterladen. Der alte Herr hat schon lang das Geschäft übergeben wollen; die Jungen haben es bis jetzt abzulehnen gewußt. Der ältere Neffe besteht darauf, der alte Herr soll an der Spitze bleiben. Der alte Herr will nicht. Er hat einen Teil der Verlassenschaft des alten Bauherrn, den er beerbt, für den Rest seines Lebens zurückbehalten; alles andere – und es ist nicht wenig, Herr Nettenmair gilt für einen reichen Mann – übergibt er den Neffen, das Zurückbehaltene fällt nach seinem Tode an das neue Bürgerhospital. Er hat sein Wort wahr gemacht; der Deckhammer über seinem Sarge wird ehrenblank sein wie über wenigen.
Die junge Braut wehrt sich, alles anzunehmen, was die künftige Schwiegermutter ihr geben will. Wenn diese alles gibt, eins wird sie behalten; das eine ist eine Blechkapsel mit einer dürren Blume; sie liegt bei Bibel und Gesangbuch und ist ihrer Besitzerin so heilig als diese.
Die Glocken rufen noch immer. Die Rosen an den hochstämmigen Bäumchen duften, ein Grasmückchen sitzt auf dem Busche unter dem alten Birnbaum und singt; ein heimliches Regen zieht durch das ganze Gärtchen, und selbst der starkstielige Buchsbaum um die gezirkelten Beete bewegt seine dunkeln Blätter. Der alte Herr sieht sinnend nach dem Turmdach von Sankt Georg; das schöne Matronengesicht lauscht durch das Bohnengelände nach ihm hin. Die Glocken rufen es, das Grasmückchen singt es, die Rosen duften es, das leise Regen durch das Gärtchen flüstert es, die schönen greisen Gesichter sagen es, auf dem Turmdach von Sankt Georg kannst du es lesen: Von Glück und Unglück reden die Menschen, das der Himmel ihnen bringe! Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt's, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel bringt das Glück; der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen Himmel selber in der eigenen Brust. Der Mensch soll nicht sorgen, daß er in den Himmel, sondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn nicht in sich selber trägt, der sucht ihn vergebens im ganzen All. Laß dich vom Verstande leiten, aber verletze nicht die heilige Schranke des Gefühls. Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie sie ist; suche ihr gerecht zu werden, dann wirst du dir gerecht. Und in diesem Sinne sei dein Wandel:
Zwischen Himmel und Erde!