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Apollonius, auf den dies alles wie eine schwere Wolke drückte, wie eine unverstandene Ahnung, begriff nur das eine: der Bruder und die Schwägerin wichen ihm aus. Er vermied die Orte, die sie aufsuchten. Er hätte sie schon vermieden aus dem innersten Bedürfnis seiner Natur, das auf Zusammenfassen, nicht auf Zerstreuen ging. Die Einsamkeit wurde ihm ein besser Heilmittel als den beiden die Zerstreuung. Er sah, wie anders die Schwägerin war, als sie ihm vordem geschienen. Er mußte sich Glück wünschen, daß seine süßesten Hoffnungen sich nicht erfüllt. Die Arbeit gab ihm genug Empfinden seiner selbst; was sie frei ließ, füllten die Kinder aus. In dem natürlichen Bedürfnis ihres Alters, sich an einem fertigen Menschenbilde aufzuranken, das, Liebe gebend und nehmend, ihr Muster wird und ihr Maß der Personen und Dinge, drängten sie sich um den Onkel, der ihrer so freundlich pflegte, als fremd die Eltern sie vernachlässigten. Wie konnte er wissen, daß er damit die Schuld wachsen machte in seiner Rechnung beim Bruder?
Und der alte Herr im blauen Rock? Hatte er von den Wolken, die sich rings aufballten um sein Haus, in seiner Blindheit keine Ahnung? Oder war sie es, was ihn zuweilen anfaßte, wenn er, Apollonius begegnend, gleichgültige Worte mit ihm wechselte. Dann kämpften zwei Mächte auf seiner Stirn, die der Sohn vor dem Augenschirm nicht sah. Er will etwas fragen, aber er fragt nicht. Der alte Herr hat sich so tief in die Wolke eingesponnen, daß kein Weg mehr von ihm herausführt in die Welt um ihn und keiner mehr hinein. Er gibt sich das Ansehen, als wisse er um alles. Tut er anders, so zeigt er der Welt seine Hülflosigkeit und fordert die Welt selber auf, sie zu mißbrauchen. Und wenn er fragt, wird man ihm die Wahrheit sagen? Nein! Er hält die Welt so verstockt gegen ihn, als er gegen sie ist. Er fragt nicht. Er lauscht, wo er weiß, man sieht ihn nicht lauschen, fieberisch gespannt auf jeden Laut. Aus jedem hört er etwas heraus, was nicht drin ist; seine gespannte Phantasie baut Felsen daraus, die ihm die Brust zerdrücken, aber er fragt nicht. Er träumt von nichts als von Dingen, die Schande bringen über ihn und sein Haus; er leert die ganze Rüstkammer der Entehrung und fühlt jede Schmach durch, die die Welt kennt. Was keine Schande ist, steigert sich seinem krankhaft geschärften Ehrgefühl dazu, das keine Ruhe wohltätig abstumpft, aber er trägt lieber, was die tiefste Schande ist, als daß er fragt. Er tut das Ungeheure in Gedanken, die drohende abzuwenden, aber er fragt nicht. Wie manches Tun zeigt ungeboren schon der Mutter Seele sein Bild vorher! Wird eine Zeit kommen, wo des alten Herrn Gedanke Wirklichkeit wird?
Die Natur der Schuld ist, daß sie nicht allein ihren Urheber in neue Schuld verstrickt. Sie hat eine Zaubergewalt, alle, die um ihn stehen, in ihren gärenden Kreis zu ziehen und zu reifen in ihm, was schlimm ist, zu neuer Schuld. Wohl dem, der sich dieser Zauberkraft im unbefleckten Innern erwehrt! Wird er den Schuldigen selbst nicht retten, so kann er den übrigen ein Engel sein. Diese vier Menschen, in all ihrer Verschiedenheit in einen Lebensknoten geknüpft, den eine Schuld versehrt! Welch Schicksal werden sie vereint sich spinnen, die Leute in dem Haus mit den grünen Laden?
*
Nun waren schon Wochen vergangen seit Apollonius' Zurückkunft, und noch hatte er die Furcht der Schwägerin nicht wahr gemacht. In den ersten Tagen las Fritz Nettenmair ein krampfhaftes Zusammennehmen, ein verzweifeltes Gefaßtmachen in ihrem Wesen; nun machte dies einem Etwas Platz, das wie Verwunderung erschien. Er sah, und nur er, wie sie immer mutiger den Bruder zu beobachten begann, wo der nicht ahnte, ihr Blick sei auf ihn gerichtet. Sie schien sein Wesen, sein Tun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide sich glichen. Er mühte sich, den Widerwillen der jungen Frau zu seiner alten Stärke aufzustacheln. Er tat es, während er fühlte, wie vergeblich es war; denn ein einziger Blick auf das milde rechtschaffene Antlitz des Bruders mußte niederreißen, was er mühsam in Zeit von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu Werke gehen mußte und wie plump er doch zu Werke ging; denn dieselbe Macht, die sein Gefühl für das Maß schärfte, riß ihn im Handeln darüber hinaus. Er wußte, was er begonnen, mußte seinen Gang vollenden zu seinem Verderben. Er suchte Vergessen und riß seine Frau immer tiefer mit hinein in den Wirbel der Zerstreuung.
Arzneimittel sollen, in übergroßer Gabe angewandt, das Gegenteil wirken. So geschah es mit dem Mittel Fritz Nettenmairs; wenigstens bei der jungen Frau. Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte sie sich sonst nach dem Feste des Vergnügens gesehnt; nun dies der Alltag geworden, zog sie die Sehnsucht nach dem stillen Leben daheim. Übersättigt von den Ehrenbezeugungen der bedeutenden Leute, bemerkte sie nun erst, es gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderem Maßstabe maßen. Sie begann zu vergleichen, und die Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltagsmenschen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend von Apollonius' Ankunft. Damals war sie Apollonius ausgewichen; sie hatte Beleidigung von ihm erwartet. Jetzt suchte sie mit den Augen durch den Saal; niemand sah es als Fritz Nettenmair, der es am wenigsten zu sehen schien. Denn er lachte und trank wilder und jovialer als je. Sie hatte nur das Gefühl der Langeweile, das nach Abwechselung aussieht; sie wußte nicht, daß sie jemand suchte. Fritz Nettenmair wußte es und wollte vor Lachen ersticken. Er wußte mehr als sie; er wußte, wen sie suchte. Gegen alle andere Welt jovial, tat er gegen sie den blauen Rock an.
Er wird sie bald dahin bringen, den sonst Gefürchteten mit ihm zu vergleichen.
Sie saß im Garten, während der alte Herr seine schweren Mittagsträume träumte. Fritz Nettenmair lag in der Stube auf dem Sofa und trug die Nachwehen einer durchschwärmten Nacht; vorher hatte er nach dem Turmdache gesehen. Sie fühlte sich so eigen wohl daheim. Und sollte sie nicht? Spielten nicht ihre Kinder um sie? Sie dachte nicht daran, wie oft sie sich von den Kindern fortgesehnt in den Wirbel, der sie nicht mehr lockte. Sie nähte. Die Knaben spielten zu ihren Füßen, so still, als wäre der alte Herr zugegen. Doch nicht so; war der alte Herr im Gärtchen, sie hätten sich gar nicht hinein getraut. Das Mädchen hatte die Mutter umschlungen, die selber, in der Unberührtheit ihres Wesens, noch ein Mädchen schien. Wenig mehr von der Ähnlichkeit mit ihrem Gatten lag in ihren Zügen. Sie war nur eine äußerliche gewesen, nur Äußerliches schien die heitern Linien berührt zu haben; kein tiefinneres Erlebnis hatte seine Marke ihnen aufgeprägt.
Das kleine Mädchen hatte dem erwachsenen, seiner Mutter, von Puppen, Blumen, Kindern, und in seiner Weise manches zweimal, manches nur halb erzählt. Jetzt hob sie mit altkluger Ernsthaftigkeit das Köpfchen, sah die Mutter bedenklich an und sagte: »Was das nur ist?«
»Was?« fragte die Mutter.
»Wenn du dagewesen bist und fortgehst, sieht er dir so traurig nach.«
»Wer?« fragte die Mutter.
»Nun, der Onkel Apollonius. Wer sonst? Hast du ihn gescholten? oder geschlagen, wie mich, wenn ich Zucker nehme und nicht frage? Du hast ihm doch gewiß etwas getan; sonst wär' er nicht so betrübt.«
Das Mädchen plauderte weiter und vergaß den Onkel bald über einen Schmetterling. Die Mutter nicht. Die Mutter hörte nicht mehr, was das Mädchen plauderte. Was war das doch für ein eigenes Gefühl, wohl und weh zugleich! Sie hatte die Nadel fallen lassen und merkte es nicht. War sie erschrocken? Es war ihr, als wäre sie erschrocken, etwa so, wie man erschrickt, hat man mit einem Menschen geredet und wird plötzlich inne, es ist ein anderer, als mit dem man zu reden meinte. Sie hatte gemeint, Apollonius wolle sie beleidigen, und nun sagt das Kind: du hast ihn beleidigt. Sie blickte auf und sah Apollonius vom Schuppen her nach dem Hause kommen. In demselben Augenblick stand ein anderer Mann zwischen ihr und dem Vorübergehenden, als wäre er aus der Erde gewachsen. Es war Fritz Nettenmair. Sie hatte ihn nicht nahen gehört.
Er kam in seltsamer Hast von einer gleichgültigen Frage auf den ledernen Ball. Er erzählte, was die Leute darüber meinten, wie jedermann sich beleidigt fühle von der Beschimpfung, daß Apollonius sie damals nicht aufgezogen, nicht einmal zum ersten Tanze. Eigen war es, wie sie jetzt daran erinnert wurde, empfand sie es stärker als je; aber nicht zürnend, nur wie mit wehmütigem Schmerze. Sie sagte das nicht. Es war nicht nötig. Fritz Nettenmair war wie ein Mensch im magnetischen Schlaf. Er brauchte sie nicht anzusehen; mit geschlossenen Augen, von einem Baumblatt, einer Zaunlatte, von einer weißen Wand las er ab, was sein Weib fühlte.
»Wir werden ihn bald loswerden, denk' ich«, fuhr er fort, als hätte er nicht an der Stallwand gelesen. »Es ist kein Platz für zwei Haushälte hier. Und die Anne ist weiten Raum gewöhnt.«
So hieß das Mädchen, mit der Apollonius am »Ledernen« tanzen, die er heimbegleiten mußte. Sie war seither öfter hier gewesen, unter Vorwänden, die ihre hochrote Wange Lügen strafte. Auch ihr Vater, ein angesehener Bürger, hatte sich um Apollonius' Bekanntschaft gemüht, und Fritz Nettenmair hatte die Sache gefördert, wie er konnte.
»Die Anne?« rief die junge Frau wie erschreckend.
»Gut, daß sie nicht lügen kann«, dachte Fritz Nettenmair erleichtert. Aber es fiel ihm ein, ihr Unvermögen, sich zu verstellen, kam ja auch dem argen Plan des Bruders zugut. Er hatte die Eifersucht als letztes Mittel angewandt. Das war wieder eine Torheit, und er bereute sie schon. »Sie kann sich nicht verstellen, und wäre er noch ganz der alte Träumer, ihre Aufregung muß ihm verraten, was in ihr vorgeht. Noch weiß sie es selbst ja nicht. Und dann« – er stand wieder an dem Punkte, zu dem jeder Ausgang ihn führt: er sah sie sich verstehen – »und dann«, zwängte er zwischen den Zähnen hervor, daß jede Silbe daran sich blutig riß, »und dann – wird sie's schon lernen!«
Der Bruder erwartete ihn in der Wohnstube. »Er muß doch einen Vorwand machen, warum er da vorbeikam, wo er sie allein dachte, da er weiß, ich hab' ihn gesehn.« So dachte er und folgte dem Bruder.
Apollonius wartete wirklich in der Wohnstube auf ihn. Der Bruder gab sich durch seine Wendung auf den Fersen recht, als er ihn sah. Apollonius suchte den Bruder auf, ihn vor dem ungemütlichen Gesellen zu warnen. Er hatte manches Bedenkliche über ihn gehört und wußte, der Bruder vertraute ihm unbedingt. »Und da befiehlst du, ich soll ihn fortschicken?« fragte Fritz und konnte nicht verhindern, daß sein Groll einmal durchschimmerte durch seine Verstellung. Apollonius mußte aus dem Tone, mit dem er sprach, seine wahre Meinung herauslesen. Sie hieß: »Du möchtest auch in den Schuppen dich eindrängen und mich von da vertreiben. Versuch's, wenn du's wagst!«
Apollonius sah dem Bruder mit unverhehltem Schmerz in das Auge. Er fuhr mit der Hand über des Bruders Rockklappe, als wollte er wegwischen, was sein Verhältnis zu dem Bruder trübte, und sagte: »Hab' ich dir was zuleid getan?«
»Mir?« lachte der Bruder. Das Lachen sollte klingen wie: »Ich wüßte nicht was!« aber es klang: »Tust du was anders, willst du was anders tun, als wovon du weißt, daß es mir leid ist?«
»Ich wollte schon lange dir etwas sagen«, fuhr Apollonius fort, »ich will's morgen; du bist heute nicht gelaunt. Das mit dem Gesellen mußtest du erfahren, und es war nicht so gemeint, wie du's aufnahmst.«
»Freilich! Freilich!« lachte Fritz. »Ich bin überzeugt. Es war nicht so gemeint.«
Apollonius ging, und Fritz ergänzte seine Rede: »Es war nicht so gemeint, wie du, Federchensucher, mich glauben machen willst. Und anders gemeint, als ich's aufnahm? Du meinst, ich hab' – Der Geselle ist ein schlechter Kerl; aber du hättest mich nicht gewarnt, hättest du keinen Vorwand gebraucht.« Er machte seine überlegene Wendung auf den Fersen; in seinen verwüsteten Zustand hinein hatte ihn die glückliche Anwendung von des alten Herrn diplomatischer Kunst, durch Halbsagen zu verschweigen, gefreut.
Die Freude war schnell vorübergehend; die alte Sorge schraubte ihn wieder auf ihre Marterbank. Und noch eine jüngere hatte sich ihr zugesellt. Er hatte das Geschäft vernachlässigt; der Geselle, in seiner Abwesenheit Herr im Schuppen, hatte Gelegenheit genug gehabt, ihn zu bestehlen, und sie gewiß benutzt. Bei der Reparatur war er schon lange nicht mehr tätig; Apollonius mußte einen Gesellen mehr annehmen und für den Bruder einstellen. Er verdiente schon lange nichts mehr und versäumte doch dabei kein öffentlich Vergnügen. Die Achtung der bedeutenden Leute zeigte eine wachsende Neigung zum Sinken und war nur durch wachsende Massen von Champagner aufrecht zu erhalten. Er hatte sich in Schulden gesteckt und vergrößerte sie noch täglich. Und doch mußte einmal der Augenblick kommen, wo der mühsam erhaltene Schein von Wohlhabenheit verging. Er wußte, daß er nur so lange der Geachtete war, als der Jovialste der Jovialen galt. Er war klug genug, den Unwert solcher Achtung und solchen Bemühens um ihn zu erkennen, aber nicht stark genug, es entbehren zu können. Es war kein kleiner Zuwachs zu der alten Marter, und jene wie diese kam ihm von dem Bruder, nur von ihm!
Wohligs Anne war öfter dagewesen seit Apollonius' Ankunft, und die junge Frau hatte in dem Glauben, der in naiven Gemütern die natürliche Folge der eigenen Wahrhaftigkeit ist, an ihren gesuchtesten Vorwänden nicht gemäkelt. Heute war das anders. Sie war plötzlich so scharfsichtig geworden, daß der erkannte Vorwand ihr in der Größe eines unverzeihlichen Verbrechens erschien. Das Mädchen war ihr zuwider, das so falsch sein konnte, und sie selbst zu ehrlich, das zu verbergen. Anne suchte den Grund dieses Benehmens in dem Widerwillen der jungen Frau gegen den Schwager. Es war ja bekannt, die junge Frau gönnte dem armen Menschen die Liebe des Bruders nicht. Sie hatte selbst geäußert, sie würde ihm einen Korb geben, wenn er es wagen würde, sie zum Tanze aufzufordern. Und dem guten Apollonius war es anzusehen, sie ließ ihn des Aufenthalts in seinem Vaterhause nicht froh werden. Die Gereiztheit machte auch die Anne ehrlich; sie sprach von ihren Gedanken aus, was ausgesprochen werden konnte, ohne den zarten Punkt ihrer Neigung bloßzugeben. Christiane mußte den Vorwurf nun auch aus fremdem Munde vernehmen, den schon das eigene Kind ihr gemacht.
Das Mädchen ging. Apollonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er konnte das Mädchen noch gehen sehen. Aber nichts zeigte sich in seinem Gesichte, was ihrer nur halb verstandenen Furcht recht gegeben hätte. Und so sah auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Versteck der Hintertür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht so viel, als er gefürchtet zu sehen.