Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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»Was willst du?« ruft er. Was er auch erfahren, er kann sich selbst nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen antwortet ihm: »Du sollst sie allein haben oder mit hinunter!«

»Fort!« ruft der Bedrohte. Im zornigen Schmerze sind all die Vorwürfe gegen den Bruder in sein Gesicht heraufgestiegen. Mit seiner ganzen Kraft stößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück.

»Zeigst du endlich dein wahres Gesicht?« höhnt dieser noch wütender. »Von jeder Stelle hast du mich verdrängt, wo ich stand; nun ist die Reih' an mir. Auf deinem Gewissen sollst du mich haben, du Federchensucher! Wirf mich hinunter, oder du sollst mit!«

Apollonius sieht keine Rettung. Die Hand erlahmt, mit der er sich nur mühsam anhält an der scharfen Kante des starken Balkens. Er muß den Bruder mit seiner ganzen Kraft an den Armen fassen, ihn herumdrehen und hinunterstürzen, oder der Bruder reißt ihn mit herunter. Doch ruft er: »Ich nicht!«

»Gut!« stöhnt jener. »Auch das willst du auf mich wälzen! Auch dazu willst du mich bringen! Nun ist's mit deiner Scheinheiligkeit am End'!« Apollonius würde einen andern Halt suchen, wüßt' er nicht, der Bruder benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und schon stürzt der mit wildem Anlauf heran! Apollonius' Hand rutscht von der Balkenkante ab. Er ist verloren, findet er keinen neuen Halt. Er kann vielleicht im Sprunge den Balken mit beiden Händen umfassen, aber dann stürzt den Bruder, den kein Widerstand mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufes durch die Tür. Da sieht er im Geiste den alten, braven, stolzen Vater, sie und die Kinder; ihm kommt das Wort, das er sich gab; er ist der einzige Halt der Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat den Balken im Arme; in demselben Augenblicke stürzt der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter ihnen rasseln, und es schlägt zwei Uhr.

Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe gestört, schießen wild hernieder bis zur Aussteigetür und schweben in krächzender Wolke dort. Tief unter ihnen hört man den Fall eines schweren Körpers auf dem Straßenpflaster. Ein Aufschrei schallt zugleich von allen Seiten. Bleiche lebende Gesichter sehen auf ein bleicheres totes herab, das blutig auf dem Straßenpflaster liegt. Dann verbreitet sich die bleiche Hast, das Aufschreien, das Zusammeneilen, das Händeineinanderschlagen vom Kirchhof wie ein Wirbelwind durch die Straßen bis in die entferntesten Winkel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Himmel achten es nicht und gehen unberührt darüber hin weiter ihren großen Gang. Sie sehen des selbstgeschaffenen Elends so viel unter sich, daß das einzelne sie nicht bewegen kann.

*

Es hat alles auf der Welt seinen Nutzen; wenn nicht für den, der es treibt oder an sich hat, so doch für andere. So wurde nun, was Schande über das Nettenmairsche Haus gebracht, zum Verhüter größerer Schande. Die Trunksucht Fritz Nettenmairs war in der ganzen Stadt bekannt; alle hatten ihn schon berauscht gesehen; kein Wunder, daß jeder, der den Tod Fritz Nettenmairs erfuhr, ihn jenem Laster auf die Rechnung stellte. Diese Mühe hatten eigentlich nur die ersten; die andern erfuhren schon die fertige Geschichte. Es war gut, daß niemand außer dem Nettenmairschen Hause davon wußte, daß er nach Amerika gewollt und daß er selbst, um bei seiner Rückkehr weniger aufzufallen, sich in seinen Arbeitskleidern, nur den Mantel übergeworfen, in den Postwagen gesetzt hatte. Der Mantel war unterwegs liegen geblieben, und die ein Recht auf seine Auslieferung hatten, meldeten sich natürlich nicht. In den bloßen Arbeitskleidern war er zurückgekehrt. Wer von seiner Abreise wußte, setzte voraus, er sei zuerst in seinem Hause gewesen und habe sich da umgekleidet; wer ihm auf dem Rückweg begegnet war, hatte gemeint, er komme vom Schieferbruch oder irgend sonst von einer Arbeit oder Arbeitsrücksprache. Es fiel niemand ein, rückwärts auf dergleichen kaum beachtete Umstände Gewicht zu legen, da es nicht galt, die Geschichte erst zusammenzusetzen, da man sie schon fertig erhielt. Dazu hatte er vor der Tat an seinem gewöhnlichen Zerstreuungsorte stark getrunken und mit seiner Wagehalsigkeit geprahlt. Darin hatte er von je, seiner Natur nach, die höchste Eigenschaft eines vollkommenen Schieferdeckers gesehen und in der Zeit seiner Tätigkeit genug Beweise davon gegeben, die der Öffentlichkeit nicht unbekannt geblieben waren. Dann hatte er geäußert, jetzt wolle er sein Meisterstück machen, und war stark berauscht von der Schenke nach Sankt Georg gegangen. Alles Umstände, die herumkamen und die einmal gefaßte Meinung nur bestätigten. Ein glücklicher Zufall hatte alle Arbeiter von Sankt Georg entfernt; von dem Kampf vor dem Sturz wußten außer Apollonius nur die Dohlen, die dort wohnten. Der Bauherr hatte sogleich, nachdem er die Geschichte erfahren, seinen Liebling aufgesucht und brachte diese auf den Turmboden, wo er den Erschöpften sitzend fand, schon völlig fertig mit. So fiel es niemand ein, diesen zu fragen. Man erzählte ihm, anstatt ihn erzählen zu lassen. Es hatte ihn bei seinem Schmerz in der Seele des Vaters gefreut, daß niemand den wahren Sachverhalt ahnte; die Schande des Bruders und damit des ganzen Hauses konnte niemand helfen und den Vater töten. Er schwieg daher über das, worum man ihn nicht fragte. Der alte Herr erriet, der verlorene Sohn hatte den Tod absichtlich gesucht. Er fand, es war so gut. Alles, was er vernahm, bewies ihm, der Unglückliche wollte die Ehre seines Hauses schonen. Dennoch ängstete ihn die Möglichkeit, es möchten noch Umstände bekannt werden, die den allgemeinen Irrtum berichtigen könnten. Natürlich aber ließ er sich weder seine Meinung noch seine Furcht absehen. Er zeigte sie selbst Apollonius nicht, der im Glauben, der alte Herr teile die Überzeugung der ganzen Stadt, ihm nun auch verschwieg, wovon er fürchten mußte, es würde den Vater unnötig erschrecken und beängstigen. So blieb die erste Meinung unwiderlegt, die Gerichte fanden keinen Anlaß, untersuchend einzuschreiten, und die Gefahr, die der Ehre der Familie gedroht, ging glücklich vorüber.

Eines Abends sah man denn die schwarze Bahre vor dem Hause mit den grünen Fensterladen, das darüber wegsah, um sein rosiges Aussehn zu rechtfertigen. Etwas entfernter standen Frauen und Kinder in Gruppen zusammen, bald leise flüsternd, bald voll Aufmerksamkeit, die zeitweilig bis zur Ungeduld stieg. Dasselbe Treiben, dieselben Empfindungen, mit der die gebildetere Schicht der Bevölkerung des Augenblickes harrt, wo der Vorhang vor den rührenden Gebilden des Dichters aufrauschen soll, dasselbe Bedürfnis hat die blauen Schürzen hierher gezogen, das dort die schönsten Gewänder der Stadt versammelt. Zuweilen kommt ein schwarzer Mantel unter dreieckigem Hute in düsterer Gravität die Straße daher und tritt hinter der Bahre hinweg ins Haus. Endlich geht die Türe doppelt auf. Der Sarg steht auf der Bahre, das Leichentuch bedeckt beides; leise und in gleichmäßiger Bewegung hebt sich die schwarze wallende Masse; nun ist sie an ihrer Stelle, denn die Träger rücken den Hut zurecht. Und nun bewegt sich's schwankend, flatternd. Obenauf blitzt der Deckhammer, den Valentin poliert hat, und sagt: was man jetzt der Erde übergibt, hat ehrlich zwischen Erde und Himmel hantiert. Die alten Weiber schwemmen mit süßen Tränen hinweg, was von Schmutz auf seinem Andenken liegt. Innerlich geben sie sich das Wort, niemand, den sie daran hindern können, soll Schieferdecker werden. Es ist gefährlich, das Schieferdeckerhandwerk zwischen Himmel und Erde; das predigt der Mann, der unter dem schwarzen Flattern zwischen den Brettern liegt, so stumm er ist, mit erschütternder Beredsamkeit. Dann mustern sie den alten Herrn, den zwei Leidtragende führen. Er sieht aus wie der Geist des ehrlichen Begräbnisses selbst. Doch über dem schlanken hohen Apollonius neben dem würdigen Bauherrn vergessen sie die ganze Milde, die sie vorhin geübt; sie graben den Toten wiederum aus den nassen Totenblumen heraus, womit sie seine menschliche Blöße bedeckt. Seinetwegen wär' der Hammer über ihm voll dunkeln Rosts der Schande; Apollonius ist's, dem er dankt, daß das Werkzeug so ehrenblank über seinem letzten Bette liegt. Und ob er's um ihn verdient hat? Das will keine sagen. Könnte sie der Tote hören vor den Brettern und dem schwarzen Geflatter darum, er hätte dem Bruder noch mehr zu verzeihen. Oder auch nicht zu verzeihen; er hatte ihm nichts verziehen, nicht was er an Apollonius, nicht was dieser an ihm getan. Und könnt' er vollends dem Bruder in das Herz sehen, aus dem sein Tod allen Groll verwischt, das sich Vorwürfe macht, weil es einen Bösewicht sah, wo es den unglücklichen Wahnsinnigen hätte bedauern müssen, er steifte sich noch tiefer in den Neid der Teufel. Dann kommt die junge Frau an die Reihe, und völlig in der Weise ihres Geschlechtes schlagen die Klageweiber in Ehestifterinnen um. Und wahrlich! sie haben nicht unrecht; ein schöneres Paar, eines, das besser zusammenpaßte, das seiner gegenseitig so wert wäre wie dieses, fänden auch tiefere Beobachter im Bereich der ganzen Stadt nicht aus. Der Zug ging am Roten Adler vorbei. Es war schon wieder ein Ball da oben, bei dem Fritz Nettenmair fehlte; gewiß ein lederner Ball! »Da ist er ja! da ist er ja!« klang dem Zuge entgegen und begleitete ihn unermüdlich die ganze Straße entlang. Aber »famos« konnte es nicht werden trotzdem. Es war derselbe Weg, den Fritz Nettenmair zurückging, nachdem er den Gesellen begleitet hatte. Damals sah er im Geiste den Bruder unter dem Deckhammer und dem wallenden schwarzen Behänge, und er ging leidtragend hinter ihm drein. Nun war's umgekehrt Wirklichkeit geworden, aber Apollonius fühlte wirklich, was der Bruder nur zur Schau trug. Und fort ging's immer die Straßen hin, die Fritz Nettenmair damals hergekommen war. Und draußen vor dem Tore zerflossen wiederum die Weiden in Nebel oder Nebel gerann zu Weiden. Hüben und drüben trugen Nebelmänner Nebelleichen neben der wirklichen her. An dem Kreuzweg, wo Fritz Nettenmair damals den Gesellen im Nebel verschwinden sah, verschwand er heute selbst darin. Ob es ihn freuen würde, wenn ihm einer sagte, er wird den Freund wiedersehen? Er wird ihn wieder begleiten – wohin? Eben tragen sie in Tambach ihn hinaus. Sie haben viel zu sprechen miteinander. Fritz Nettenmair kann dem Gesellen sagen, wie sorgsam er den Gedankenkeim, den jener gegeben, bis zum Zerschneiden des Seiles ausgebrütet hat, und der Gesell dem ehemaligen Herrn, daß er unter dem Seilschnitt verunglückte, den dieser gemacht. Der Geistliche, der Fritz Nettenmair die Grabrede hält – denn Fritz Nettenmair wird mit allen Ehren begraben, die seinem Stande ziemen und für Geld zu haben sind – weiß nicht, welch fruchtbares Thema ihm entgeht.

Das letzte Wort der Grabrede war verklungen, die letzte Scholle auf Fritz Nettenmairs Sarg gefallen, die Leidtragenden waren heimgekehrt; es war Nacht geworden und wieder Tag, und wieder Nacht geworden und wieder und wieder Tag und Nacht; andere Dinge hatten Fritz Nettenmairs Unglücksfall aus dem Munde der Stadt verdrängt und noch andere diese. Auf sein Grab war ein Stein gesetzt und darauf sein ehrlicher Tod nochmals vom Bildhauer bescheinigt und der vergeßlichen Nachwelt mit Meißelstreichen eingeschärft worden. Man sollte meinen, die düstere Wolke über dem Haus mit den grünen Fensterladen müßte sich in dem Wetterschlag entladen haben, der den ältern Sohn vom Turmdache von Sankt Georg auf das Straßenpflaster niedergeschmettert, und das Leben darin müsse nun so heiter sich gestalten, als sein äußerer Anblick verspricht. Ja, man konnte es meinen, wenn man die junge Witib oder ihre Kinder sah! Die drei schnellkräftigen Wesen hoben die niedergedrückten Köpfchen wieder, sobald die Last entfernt war, die sie niedergedrückt. Die junge Witib sah nicht aus, als wäre sie schon Frau, noch weniger, als wäre sie schon eine unglückliche Frau gewesen; sie erschien von Tag zu Tag mehr ein bräutlich Mädchen oder eine mädchenhafte Braut. Und sollte sie nicht? Wußte sie nicht, daß er sie liebte? Liebte sie ihn nicht? Mußte sie nicht das Necken Dritter darauf bringen, fiel es ihr auch selbst nicht ein, daß ihre Liebe nun eine erlaubte war? Wie oft mußte sie sich fragen lassen, ob sie schon an ihrer Ausstattung nähe? die Kinder fragen hören, ob ihnen ein neuer Papa auch recht sei? Konnte sie anders darauf antworten als mit stummem Erröten und indem sie rasch von etwas anderem zu sprechen begann? Und so machen es bräutliche Mädchen und mädchenhafte Bräute; das weiß jeder. Und die Heirat war so natürlich, ja nach den hergebrachten Begriffen so notwendig, daß die Ernsteren und die über das Necken hinaus waren, dies unausgesprochen voraussetzten und es ebendeshalb nicht aussprachen, weil es sich ihnen von selbst verstand. Auch der alte Herr ließ es in seiner diplomatischen Art zu reden an dergleichen Andeutungen nicht fehlen. Christiane sah den Mann, von dem die Leute meinten, er könne, ja er müsse sie heiraten, noch immer hoch über sich; es war ihr in dieser Beziehung wie in allen Bedürfnis, Pflicht und Wollust, sich in seinen Willen zu ergeben, den sie den reinsten und den heiligsten wußte. Wenn sie trotz dieser Ergebung Wünsche und Hoffnungen nährte, wer wird es nicht natürlich finden? wer möchte es ihr verdenken?

Der alte Herr war überzeugt, hätte er das Regiment behalten, es wäre alles anders gekommen. Hatte er doch, was Apollonius verdorben, noch zu dem besten Ende geführt, das möglich war. Die Not hatte ihm das Heft noch einmal in die Hand gedrückt, und er wollte es nicht wieder fahren lassen. Die durch den glücklichen Erfolg erhöhte Meinung von sich hatte ihn vergessen lassen, daß er schon zweimal zu der Einsicht gezwungen worden war, eine Leitung im blauen Rocke sei nur dann möglich, wenn man nicht mit fremden Augen sehen müsse. Er sollte es zum drittenmal erfahren. Es war kein Wunder, daß er Apollonius' seitherigem Handeln falsche Beweggründe unterlegte. Schon als er sich der Tüchtigkeit des Sohnes gefreut hatte, war ihm sogleich die Furcht gekommen, die Valentins Geständnis der Verschweigung ihm zur Wahrheit machte. Er sah hinter der vorgegebenen Schonung des Sohnes um so natürlicher Eigenmächtigkeit und die Lust, ein verdecktes Spiel zu spielen, als er ihn dabei nur an dem eigenen Maßstabe maß. Es war das Nächstliegende, daß er in dem Sohne die eigenen Neigungen voraussetzte. Schon damals hatte er mit einer Art Eifersucht empfunden, daß er selbst der tüchtigen Jugend des Sohnes gegenüber in seiner Blindheit nichts mehr war und nichts mehr konnte. Der Argwohn, den seine Hülflosigkeit ihn gelehrt, mußte ihm sagen, daß Apollonius trotz seines mühsamen Verbergens dahinter gekommen war, und so sah er auch die Verachtung mit unter den Beweggründen vom Handeln des Sohnes.


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