Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als der Tanz begann, zog Fritz Nettenmair den Bruder in eine Nebenstube. »Du mußt tanzen«, sagte er. »Von meiner Frau würdest du einen Korb holen, und das wär' mir unangenehm. Ich will dir eine zuführen, die firm ist und dich im Takt erhalten kann. Nur herzhaft, Junge, wenn's auch nicht gleich gehen will.«

Fritz Nettenmair hatte in der Aufregung der Eitelkeit sechs Jahre vergessen. Der Bruder war ihm noch der alte Träumer, den er zuweilen zu seinem Vergnügen zu tanzen zwang. Als er nun, die Weigerung nicht achtend, Apollonius das Mädchen zuführte, ergab sich dieser, um nicht unhöflich zu erscheinen.

Herr Fritz Nettenmair war der gutmütigste Mensch von der Welt, solang er sich als alleinigen Gegenstand der allgemeinen Bewunderung wußte. In solcher Stimmung konnte er für diejenigen, die sein Glanz in den Schatten stellte, Taten der Aufopferung tun. So auch jetzt. Wie er unter den bedeutenden Leuten saß, die er mit Champagner traktierte, und in den Augen seiner Frau die Befriedigung las, mit der sie ihn mit Ehren überhäuft sah, kam die Empfindung über ihn, als habe er dem Bruder ein großes Unrecht verziehen und er sei ein außerordentlich edler Mensch, der alle die Ehrenbezeugungen verdiene und in wunderbarer Anspruchslosigkeit sich dennoch herablasse, sich durch sie rühren zu lassen. Eben tanzte Apollonius vorüber. Er sah, der war der alte Träumer nicht mehr, aber er vergab ihm auch das. Alle Augen waren auf den schönen Tänzer und seinen gewandten Anstand gerichtet. Fritz zog seine Frau auf, und in der Gewißheit, wie sehr er den Bruder überglänzen müsse, hatte er noch die Wollust, dem Bruder wer weiß wieviel Unrecht, das ihm dieser nie zugefügt, zu verzeihen.

Aber der Undankbare! Er ließ sich nicht überglänzen. Fritz Nettenmair tanzte jovial und wie einer, der die Welt kennt und mit der Art umzugehen weiß, die lange Haare hat und Schürzen trägt; der Bruder war ein steifes Bild dagegen. Der nickte den Takt nicht mit dem Kopfe, der warf nicht, trat der linke Fuß im Niedertakte auf, den Oberleib auf die rechte Seite und umgekehrt; der fuhr nicht mit kühner Genialität hin und wieder quer über den Tanzsaal und stach andere Paare aus; der tanzte durchaus weder jovial noch wie einer, der die Welt kennt und mit der Art umzugehen weiß, die lange Haare und Schürzen trägt; und dennoch blieben alle Blicke auf ihm haften, und Fritz Nettenmair übertraf vergeblich sich selbst.

Es war der ledernste Ball, den Fritz Nettenmair mitgemacht; er konnte nicht lederner sein, war Fritz Nettenmair daheim geblieben. Fritz Nettenmair versicherte es mit hohen Schwüren, und die bedeutenden Leute, die seinen Champagner tranken, stimmten, wie immer, unbedingt in seine Meinung ein.

Einige bedeutende Frauen sprachen gegen Frau Nettenmair ihre gerechte freundschaftliche Entrüstung über den Schwager aus. Daß dieser nicht die Schwägerin zuerst zum Tanze aufgezogen, bewies eine unverzeihliche Mißachtung derselben. Die Frau Nettenmair, die das allgemeine Unrecht an ihrem jovialen Gatten so tief fühlte, als wäre es ihr selber angetan, sagte, der Schwager habe wohl gewußt, daß er sich nur einen Korb bei ihr geholt hätte. Aber Apollonius wurde nur immer mehr bewundert und geehrt und der Ball demzufolge nur immer noch lederner. So ledern, daß Fritz Nettenmair mit seiner Frau zu einer Stunde aufbrach, wo er sonst erst recht jovial zu werden anfing. Dennoch sammelte er feurige Kohlen auf des undankbaren Bruders Haupt. Er bat in dessen Namen das Mädchen, dem Bruder zu erlauben, daß er sie heimbegleiten dürfe. Dann ging er aus dem Nebenstübchen wieder in den Saal zu seiner Frau und verließ mit dieser unter der ungeheucheltsten Verzweiflung der bedeutenden Leute, die noch Durst nach Champagner hatten, das Haus.

Apollonius fand, als er des aufgenötigten Ritterdienstes gegen seine Dame sich entledigt, die Tür des Vaterhauses offen und alle seine Bewohner schon im Schlafe. Wenigstens zeigte sich nirgends Licht, und alles war still. Der Bruder hatte ihm das Kämmerchen links an der Emporlaube zur Wohnung angewiesen. Zu Apollonius' Glück hatten die sechs Jahre das Haus nicht verändert wie seine Bewohner. Er ging leise durch die Hintertür, an dem freundlich knurrenden Moldau vorbei, dem er voll Dankbarkeit für das Zeichen seiner Beständigkeit den rauhen Hals streichelte, stieg die Treppe herauf, schritt die Emporlaube entlang und fand ein Bett in seinem Stübchen. Aber er saß noch lang, ehe er sich entkleidete, auf dem Stuhl am Fenster und verglich, was er gefunden, mit dem, was er verlassen.

Gedanken und Bilder des Vergleichs spielten noch in seine Träume hinein. Der Vater stand wieder vor ihm und kündigte ihm an, er müsse noch morgen nach Köln, und inmitten der Rede brach die rüstige Gestalt zusammen und tappte hülflos mit zitternden Händen an der Erde herum und schämte sich ihrer Blindheit. Der Bruder saß dabei und trank Champagner. Die Schwägerin kam aus dem Hause, das liebliche offene Gesicht voll Zutraulichkeit und Aufrichtigkeit von sonst; die Blume, die sie vor Apollonius hinlegen wollte, fiel aus ihrer Hand, als sie den Bruder erblickte, und der ihm neue fremde Zug von Leerheit, gedankenloser eitler Vergnügungssucht, von grollender Bitterkeit gegen Apollonius legte sich über sie wie ein schmutziges Spinnengewebe. Er wollte arbeitend sich vergessen, aber der Bruder rüttelte an dem Fahrstuhl, daß er fast hinunterstürzte aus der Schwindelhöhe auf das Pflaster, und sagte, ein Besuch für vierzehn Tage dürfe nicht arbeiten. Er wolle ja ohnehin wieder heim. Und sonderbar war es, daß ihm jetzt Köln als seine Heimat erschien und seine Vaterstadt so fremd, daß er sich die bittersten Vorwürfe machte in seiner Gewissenhaftigkeit. Dann fand er sich wieder auf dem Fahrstuhl hoch am Turmdach. Da war alles anders, als es sein sollte, die Schiefer in verkehrter Richtung gedeckt, und nun stak er in die Ausfahrtür eingeklemmt, ringsum in staubige Spinnengewebe eingewickelt; er hatte seine Festtagskleider an; sie waren voll Schmutz; er wischte und bürstete, daß er schwitzte, und sie wurden nicht rein.

Und sooft er von der vergeblichen Bemühung aufwachte, wiederholte er sich laut den Entschluß, den er vor dem Niederlegen gefaßt. Am nächsten Morgen mußte er wissen, was er hier sollte, mußte sein Verhältnis zum Vaterhause ein klares sein. War keine Arbeit für ihn, so sah ihn der Morgen noch auf seinem Rückwege nach Köln.

Mit der Sonne war er auf; aber er mußte lange warten, bis es dem Bruder gefiel, sich von seinem Lager zu erheben. Er benutzte die Zeit zu einem Gange nach Sankt Georg; er wollte sich selbst überzeugen, was dort zu tun sei. Als er wieder zurückkam, traf er auf seinen Bruder und einen Herrn mit ihm, die eben im Begriffe waren, die Wohnstube zu verlassen. Den Herrn kannte Apollonius noch von früher her als den Deputierten des Stadtrats für das Baufach. Sie begrüßten sich. Sie hatten schon gestern auf dem Balle sich gesprochen, wo der Herr sich eben nicht als ein bedeutender Mensch und Bürger ausgewiesen, vielmehr zu den Philistern, Alltagskerlen und Unbedeutenden gehalten hatte. Es schien ihm nicht unlieb, Apollonius eben jetzt zu begegnen. Nach einigen hergebrachten Wechselreden kam er auf den Zweck seines Hierseins. Es sollte diesen Morgen noch eine letzte Beratung von Sachverständigen stattfinden über das, was an Kirchen- und Turmdach zu tun sei, damit das Resultat derselben noch bei der am Nachmittag stattfindenden Ratssitzung vorgetragen und Beschluß gefaßt werden könne. Fritz Nettenmair und der Ratsbauherr waren eben auf dem Wege nach Sankt Georg, wo sie die übrigen Sachverständigen bereits versammelt wußten.

Der Bruder wollte seinen Besuch, wie er sagte, nicht mit der Teilnahme an fremden Geschäften beschweren; ebensowenig mochte er ihn – aber das sagte er nicht – allein daheim lassen. Er bestellte Apollonius nach dem Waldhause, von wo er ihn zu einem Spaziergange abholen würde. Apollonius versicherte ganz unbefangen, daß er lieber der Verhandlung beiwohnen möchte, und als der Ratsbauherr ihn sogar als einen Sachverständigen mehr zum Mitgehen aufforderte, war kein Vorwand zu finden, es zu verhindern. Vielleicht hatte Fritz Nettenmair eine Ahnung davon, bald werde er dem Ankömmling noch weit mehr zu verzeihen haben.

Sie fanden die übrige Versammlung, zwei fremde Schieferdeckermeister und die städtischen Ratsbauleute, den Rats-Zimmermann, –Maurer und –Klempner an der Turmtüre ihrer harrend. Man hatte bereits einige fliegende Rüstungen zum Behufe der Untersuchung an dem Dache angebracht; auf dem Kirchenboden, der größten davon zunächst, ging die Beratung vor sich. Apollonius stand bescheiden einige Schritte entfernt, um zu hören und, wenn er gefragt würde, auch zu reden. Er hatte das Dach vorhin genau untersucht und sich eine Meinung von der Sache gebildet.

Die beiden fremden Schieferdecker sprachen sich für die Notwendigkeit einer umfassenderen Reparatur aus. Fritz Nettenmair dagegen war überzeugt, mit einigen kleinen Flickereien, die er angab, sei wiederum für Jahre geholfen. Ihm stimmten die Ratsmeister, Zimmermann, Maurer und Blechschmied, eifrig bei; lauter joviale und bedeutende Männer vom gestrigen Balle, die gewissenhaft schlossen, wessen Champagner man trinke, dessen Meinung müsse man sein. Die fremden Schieferdecker wußten recht gut, der Rat fürchtete die Kosten einer umfassenderen Reparatur und verschob die höchst notwendige schon lange von Jahr zu Jahr. Da sie obendrein selbst keine Aussicht hatten, sich die Reparatur übertragen zu sehen, so gaben sie sich nicht unnütze Mühe, Herrn Fritz Nettenmair Arbeit und Gewinn aufdringen zu helfen, woran ihm selber nichts gelegen schien. Sie fanden daher im Laufe der Verhandlung immer mehr, daß, je nachdem man die Sache ansehe, auch Herr Fritz Nettenmair recht habe. Vielleicht begriff der Ratsbauherr, ein braver Mann, ihre wie der bedeutenden Leute Beweggründe. Er hatte mit unbefriedigtem Gesicht eine Weile geschwiegen, als ihm Apollonius einfiel. Er sah in dessen Zügen ein Etwas ausgedrückt, das seiner eigenen Meinung zu entsprechen schien. »Und was sagen Sie?« wandte er sich zu ihm.

Apollonius trat bescheiden einen Schritt näher. »Ich wünschte, Sie sähen sich die Sache so genau als möglich an«, sagte der Ratsherr.

Apollonius entgegnete, er habe das bereits getan.

»Ich brauche Sie nicht darauf aufmerksam zu machen«, fuhr der Ratsherr fort, »wie wichtig die Sache ist.«

Apollonius verbeugte sich. Der Bauherr hielt zurück, was er noch sagen wollte. Aus des jungen Mannes Angesicht sprach bei aller Weichheit und Milde so strenge Gewissenhaftigkeit und eigensinnige Redlichkeit, daß der Ratsherr sich der Ermahnung fast schämte, die er an ihn hatte richten wollen.

Apollonius begann nun mit den Ergebnissen seiner vorhin angestellten Untersuchung. Er stellte den Zustand der Stellen dar, die er hatte prüfen können, und was sich daraus auf die übrigen schließen ließ. Seit achtzig Jahren hatte, das war aus den Kirchenrechnungen bekannt, das Kirchendach keine umfassendere Reparatur erfahren. Wenn auch die Schieferdecke bei gutem Material noch weit länger den Elementen trotzt, ist das doch nicht mit den Nägeln der Fall, mit denen die Schieferplatten auf Belattung und Verschalung aufgenagelt sind. Und wo er geprüft, hatte er die Nägel zum Teile völlig zerstört, zum Teil der völligen Zerstörung nahe gefunden. Das Kirchendach war ein sehr steiles Pultdach; da die Nägel ihre Schuldigkeit nicht mehr taten, hatten sich viele Platten verschoben und der Nässe das Eindringen gestattet; dort zeigte sich, selbst wo sie von Eichenholz war, die Belattung und Verschalung gänzlich morsch, und solcher Stellen waren überall.

Es zeigte sich unumgänglich notwendig, die ganze Bedachung umzudecken und die Belattung und Verschalung der morschen Stellen durch neue zu ersetzen. Ein Winter noch mußte den Zustand um weit mehr verschlimmern, als durch Verzögerung der Reparatur an Zinsen erspart wurde; denn diese konnte man ohne größten Schaden doch nur höchstens bis auf das nächste Jahr hinausschieben. Er führte die Versammelten an Stellen, die zum Belege dienen konnten. Er zog nicht selbst den Schluß, sondern wußte mit der Kunst, die er von dem Vetter gelernt, die Gegner zu zwingen, das für ihn zu tun.

Das Vertrauen und die Achtung des Ratsbauherrn vor unserem Apollonius wuchs zusehends. Er wandte sich im weiteren Gespräch fast nur an ihn und schüttelte ihm herzlich die Hand, als er die Versammlung verließ. Er hoffte, Apollonius werde bei dem Werke, wenn es, wie er nun nicht mehr zweifelte, die Genehmigung des Rats erhielt, sich tätig beteiligen, und trug ihm auf, ein Gutachten abzufassen, auf welche Weise es am zweckmäßigsten anzugreifen sei. Apollonius dankte bescheiden für das Vertrauen, dem er würdig zu entsprechen suchen wolle. Über seine Mittätigkeit bei der Arbeit selbst, entgegnete er, habe sein Vater als Meister zu entscheiden.

»Ich gehe gleich mit Ihnen«, sagte der Ratsbauherr, »und spreche mit ihm.«

Hatte gleich der Bruder das Geschäft bis jetzt geleitet und wurde er auch von den bedeutenden Leuten als Meister anerkannt und behandelt, er war es noch nicht. Der Alte hatte ihn so wenig Meister werden lassen, als ihm das Geschäft förmlich übergeben; er wollte sich, wo er es nötig fände, ein souveränes Einschreiten frei halten.

Der alte Herr hörte die Kommenden schon von weitem und tastete sich nach der Bank in seiner Laube. Da saß er, als sie eintraten. Nach geschehener Begrüßung fragte der Bauherr nach Herrn Nettenmairs Befinden.

»Ich danke Ihnen«, entgegnete der alte Herr; »ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu sagen.« Er lächelte dazu, und der Bauherr wechselte mit Apollonius einen Blick, der dem Manne Apollonius' ganze Seele gewann. Dann erzählte er dem alten Herrn die ganze Beratung und machte, daß Apollonius in seiner Bescheidenheit errötete und lange nicht seine gewöhnliche Farbe wiederfand. Der alte Herr rückte seinen Schirm tiefer in sein Gesicht, um niemand die Gedanken sehen zu lassen, die da wunderlich miteinander kämpften. Wer unter den Schirm sehen konnte, hätte gemeint, zuerst, der alte Herr freut sich; der Schatten von Argwohn, mit dem er gestern Apollonius empfing, schwindet. So braucht er doch nicht zu fürchten, der wird mit dem Bruder gemeine Sache gegen ihn machen! Ja, es erschien ein Etwas auf dem Antlitz, das sich zu schadenfreuen schien über die Demütigung des älteren. Vielleicht wäre er nach seiner Weise eingeschritten mit einem lakonischen: »Du versiehst meine Stelle von nun, Apollonius, hörst du?« hätte nicht der Bauherr dessen Lob gepriesen und wäre das nicht so verdient gewesen.


 << zurück weiter >>