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Der alte Herr schöpfte neue Hoffnung. Während Valentins Abwesenheit hatte er sich einen Augenblick dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in seinem Falle nur empfinden konnte; aber er hatte sich gesagt, man dürfe nicht in untätigem Jammer dem Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten sei. Waren die Söhne verloren, so war doch die Ehre des Hauses, seine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht noch zu retten. Nun kam dem alten Herrn bei dem wirklichen Falle die Übung zustatten, die er bei seiner Einbildung aller Möglichkeiten gewonnen hatte. Wenn die krankhaft gewachsene Empfindlichkeit seines Ehrgefühls ihn spornte, vor dem Äußersten nicht zurückzuschrecken, so gingen seine Gedanken nun bei dem wirklichen Falle nur denselben fieberischen Gang, den zu nehmen sie sich an den wesenlosen Ausgeburten seiner Furcht gewöhnt. Verheimlichung alles dessen, was zu einem Verdachtsgrunde auf den älteren Sohn werden konnte, stellte sich ihm als nächste Notwendigkeit dar. Hatten Valentin und die Frau noch niemandem mitgeteilt, was sie wußten, so konnte anderes dergleichen bereits bekannt sein. Solch ein verbrecherischer Gedanke entspringt nicht aus dem Ohngefähr. Er ist die Blüte eines Giftbaumes mit Stamm und Zweigen. Valentin mußte ihm erzählen, was seit Apollonius' Zurückkunft im Hause geschehen war. Wußte Valentin von Fritz Nettenmairs Eifersucht nichts, oder wollte er dem alten Herrn, dessen argwöhnische Gemütsart er kannte, nichts davon sagen: seine Erzählung wurde die Geschichte eines leichtsinnigen, ehr- und vergnügungssüchtigen Verschwenders, der, trotz aller Bemühungen seines besseren Bruders, ihn zu halten, bis zum gemeinen Wüstling und Trunkenbold herabsank; zugleich die Geschichte eines treuen Bruders, der dem Verschwender notgedrungen die Sorge um Ehre und Bestand von Geschäft und Haus aus den Händen nimmt, um diese Ehre zu retten, und von dem Gefallenen dafür bis in den Tod verfolgt wird.
Der alte Herr saß regungslos. Nur die Röte, die immer brennender auf die magern Wangen trat, gab Kunde von dem, was er mit der Ehre seines Hauses litt. Sonst schien er alles schon zu wissen. Es war das seine alte Weise; er wandte sie hier vielleicht auch deswegen an, weil er meinte, der Gesell würde dann um so weniger wagen, etwas zu verschweigen oder wider besseres Wissen zu verändern. Die innere Aufregung hinderte ihn, zu bemerken, in welchen Widerspruch dieser Anschein mit seinem Gefühl für Ehre trat. Valentin suchte nicht den Schatten zu vertiefen, der auf Fritz Nettenmairs Handeln fiel; aber wie er den alten Herrn kannte, schien es ihm nötig, das brave Tun Apollonius' in das hellste Licht zu stellen. Er kannte den alten Herrn doch nur halb. Er verrechnete sich in der Wirkung, die er damit beabsichtigte, wenn er die kindliche Schonung pries, mit der Apollonius die Kunde von der Gefahr dem Ohr des alten Herrn ferngehalten. Er verdarb damit, was seine schlichte Erzählung getan, des Sohnes Verdienst um das Teuerste, was der alte Herr wußte, darzustellen. Der alte Herr sah nur immer mehr die Furcht wahr gemacht, die ihm Apollonius' Tüchtigkeit erregt hatte. Apollonius hatte ihm die Gefahr unkindlich verschwiegen, um die Rettung sich allein beimessen zu können. Oder er hielt seinen Vater für den hülflosen Blinden, der nichts mehr war und nichts mehr vermochte, als höchstens ihn zu hindern. Und das vergab ihm der alte Herr noch weniger – trotz seines Schmerzes um den Toten, der der Sohn ihm bereits war. Er wurde immer überzeugter, er selbst hätte es nicht so weit kommen lassen, wenn er darum gewußt und die Sache in seine Hand genommen, und Apollonius dürfe niemand seines Mordes anklagen als den eigenen Vorwitz. Diese Gedanken mußten natürlich vor dem zunächst Notwendigen zurücktreten. Was er bis jetzt von der Vorgeschichte des brudermörderischen Gedankens wußte, konnte den entstandenen Verdacht verstärken, aber ihn nicht entstehen machen, wenn nicht ein anderes, das ihm noch unbekannt war, dazu trat. Er mußte von dem schuldigen Sohne selbst erfahren, ob es solch ein anderes gab. Sein Entschluß war für alle Fälle gefaßt. Er verlangte Hut und Stock. Ein andermal wäre Valentin über diesen Befehl erstaunt, vielleicht sogar erschrocken. Ist man durch ein Außerordentliches aufgeregt, wie es der Gesell eben war, kommt nur das unerwartet, was sonst das Gewöhnliche hieß, was an den alten ruhigen Zustand erinnert. Indes Valentin das Befohlene herbeibrachte und der alte Herr sich zum Ausgehen bereitete, zeigte dieser ihm noch einmal, wie grundlos und töricht seine Befürchtungen seien. »Wer weiß«, sagte der alte Herr grimmig, »was der Nachbar gesehen hat. Wie will er bei Nacht einen erkennen, der so weit entfernt von ihm ist? Und Er dazu mit Seinen Beilstichen! Nun dürfte dem Jungen in Brambach das Seil gerissen sein oder er müßte sonst zufällig verunglückt sein, so wird Er sich steif und fest einbilden, Seine eingebildeten Beilstiche sind schuld gewesen, und der hat sie gemacht, den der Nachbar – der so einfältig ist als Er – will haben in den Schuppen schleichen gesehen. Und sagt Er ein Wort davon, oder ist Er so klug, daß Er in Rätseln zu verstehen gibt, was Er sich einbildet in Seinem alten Narrenschädel, so ist den andern Tag die ganze Stadt voll davon. Nicht weil's wahrscheinlich wäre, was Er da ausgeheckt hat und kein vernünftiger Mensch glauben kann, sondern weil die Leute froh sind, einem andern das Schlimmste nachzureden. Gott wird ja vor sein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber es kann geschehen, und es ist vielleicht schon geschehen. Wie leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geschweige ein Schieferdecker, der zwischen Himmel und Erde schwebt wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel. Darum mit ist die edle Schieferdeckerkunst eine so edle Kunst, weil der Schieferdecker das sichtlichste Bild ist, wie die Fürsehung den Menschen in ihren Händen hält, wenn er in seinem ehrlichen Berufe hantiert. Und läßt sie ihn fallen, so weiß sie warum; und der Mensch soll nicht Gespinste drum hängen, die über einen andern Unglück oder gar Schande bringen können. Ich bin gewiß, die Sache wird sich ausweisen, wie sie ist, und nicht, wie Er sie sich da zusammengeängstelt hat. Denn –«
So weit war der alte Herr in seiner Rede gekommen, da hörte man draußen eine Last niedersetzen. Der alte Herr stand einen Augenblick stumm und wie versteinert da. Der Valentin hatte durch das Fenster den Blechschmiedegesellen kommen sehen, der eben ablud.
»Der Jörg vom Blechschmied«, sagte Valentin, »der die blechernen Girlanden vollends bringt.«
»Und da ist Er erschrocken mit Seinen Einbildungen und hat gemeint, sie bringen wer weiß wen. Wo ist der Fritz?«
»Auf dem Kirchendach«, entgegnete Valentin.
»Gut!« sagte Herr Nettenmair. »Sag' Er dem Blechschmied, er soll hereinkommen, wenn er fertig ist.« Der Geselle tat's. Bis jener hereinkam, fuhr Herr Nettenmair noch mit gedämpftem Tönen in seiner Strafpredigt fort. Er sprach davon, wie Menschen sich Einbildungen zusammendichteten und sich darüber ängsteten wie über wirkliche Dinge, wie die Gedanken dem Menschen über den Kopf wüchsen und ihm keine gute Stunde ließen, wenn er nicht gleich im Anfang sich ihrer erwehre. Es war, als wollte der alte Herr sich über sich selbst lustig machen. Er dachte nicht daran, daß er den Valentin über seinen eigenen Fehler abkanzelte. Dagegen fühlte sich Valentin beschämt, als treffe ihn die Strafe verdientermaßen; und er hörte dem alten Herrn mit Andacht und Zerknirschung zu, bis der Blechschmiedegesell hereinkam. Herr Nettenmair faßte den Stock, den ihm Valentin in die Hände gab, setzte den Hut tief in die Stirne, um der Welt soviel als möglich von dem unfreiwilligen Geständnis der toten Augen zu entziehen, und schüttelte sich majestätisch in dem blauen Rock zurecht. Valentin wollte ihn führen, aber er sagte: »Die Frau braucht Ihn; und Er wird wissen, was Er in meinem Hause zu tun hat.« Valentin verstand den Sinn der diplomatischen Rede. Der alte Herr machte ihn verantwortlich für das Benehmen der Frau. Herr Nettenmair aber wandte sich nun dahin, wo des Blechschmiedegesellen Respekt in ein leises Räuspern ausbrach, und fragte ihn, ob er Zeit habe, ihn bis auf das Turmdach von Sankt Georg zu begleiten, wo sein älterer Sohn arbeite. Der Blechschmied bejahte. Valentin wagte noch den Vorschlag, Herrn Fritz lieber rufen zu lassen. Der alte Herr sagte grimmig: »Ich muß ihn oben sprechen. Es ist wegen der Reparatur.« Darauf wandte er sich wieder zu dem Blechschmiedegesellen. »Ich werde Seinen Arm nehmen«, sagte er mit herablassendem Grimm. »Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu sagen.«
Valentin sah den Gehenden eine Weile kopfschüttelnd nach. Als der alte Herr aus seinen Augen war, fiel die Zuversicht, die er der resoluten Gegenwart des alten Herrn verdankte, wieder zusammen. Er schlug die Hände ineinander vor Angst; da ihm aber einfiel, er stehe in der Haustür und sei verantwortlich für jedes Gerede, das der Ausdruck seiner »Einbildungen« veranlassen konnte, tat er, als habe er die Hände ineinander gelegt, um sie behaglich zu reiben.
Der Blechschmiedegeselle hatte gehört, Herr Nettenmair sei schon seit Jahren blind; der selbst hatte ihm gesagt, sein Augenleiden sei unbedeutend; er merkte bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte ein rasch Vorübergehender, und auf sein »Wie geht's?« lächelte der alte Herr wiederum: »Ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu sagen.« Über jeden andern an Herrn Nettenmairs Stelle würde der Gesell gelacht haben; aber die mächtige Persönlichkeit des alten Mannes setzte ihn so in Respekt, daß er den Widerspruch seiner sinnlichen Wahrnehmung mit dessen Worten auf sich beruhen ließ und zugleich seinen Sinnen glaubte: Herr Nettenmair sei blind, und Herrn Nettenmair selbst: es habe nichts zu sagen.
Das Erscheinen des alten Herrn auf der Straße war ein Wunder, und sicherlich würde es Aufsehen gemacht haben und der alte Herr durch hundert Händeschüttler und Frager aufgehalten worden sein, hätte nicht ein anderes die Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt. Da lief ein halblaut und schnell Ausgesprochenes durch die Straßen. Zwei, drei blieben stehen, das Näherkommen eines Dritten, Vierten abwartend, der sich merken ließ, er wisse das, was sie zehn andere ähnliche Gruppen bilden sahen. Dort verkündete es einer im schnellen Vorübereilen. Und immer begann es mit einem: »Wißt ihr schon?«, das oft von einem: »Aber was ist denn geschehn?« herausgefordert war. Herr Nettenmair brauchte nicht zu fragen; er wußte, ohne daß es ihm einer zu sagen brauchte, was geschehen war; aber er durfte sich nicht merken lassen, wie er wußte, daß man eigentlich ihn hätte fragen müssen; man wollte nicht allein wissen, was geschehen war, auch das Wie und Wodurch und das Warum. Der Blechschmiedegeselle meinte, Herr Nettenmair wollte an ihm niedersinken, aber der alte Herr hatte sich nur an den Fuß gestoßen, »es hat nichts zu sagen«. Der Gesell fragte einen Vorübereilenden. »Ein Schieferdecker ist verunglückt in Brambach.« »Wie denn?« fragte der Gesell. »Ein Seil ist zerrissen. Weiter weiß man noch nichts.« Herr Nettenmair fühlte, wie der Gesell erschrak und daß er über dem Gedanken erschrak, der Sohn des Mannes war verunglückt, den er führte. Er sagte: »Es wird in Tambach gewesen sein. Die Leute haben falsch gehört. Es hat nichts zu sagen.« Der Gesell wußte nicht, was er von der Gleichgültigkeit des Herrn Nettenmair denken sollte. Der sagte zu sich, indem das brennende Rot auf seine Wangen trat: »Ja, es muß sein. Es muß nun sein.« Er dachte daran, es gab etwas, womit man allen Gerichten, allen Untersuchungen aus dem Wege gehen kann. Das Etwas, das er meinte, mußte ein hartes Etwas sein; denn er biß die Zähne zusammen, als er mit dem Kopfe nickte und zu sich sagte: »Es muß sein. Nun muß es sein.« Der Gesell ging, den alten Herrn führend, wie im Traume neben ihm die Turmtreppe von Sankt Georg hinan. Die Leute hatten recht; Herr Nettenmair war doch ein eigener Mann!
Der alte Herr hatte gesagt, er müsse den Sohn auf dem Kirchendach sprechen – wegen der Reparatur. Er hatte ohne Absicht in seiner diplomatischen Art geredet.
Es mußte auf dem Kirchendache sein, und es galt eine Reparatur, aber nicht die des Kirchendachs.
*
Zwischen Himmel und Erde ist des Schieferdeckers Reich. Zwischen Himmel und Erde, hoch oben auf dem Kirchendach von Sankt Georg, schaffte Fritz Nettenmair, als der alte Herr sich die Treppe zu ihm hinaufführen ließ. Hier herauf war Fritz Nettenmair geflohen vor den Augen der Menschen, die er alle auf sich gerichtet meinte, hier herauf hatte er sich geflüchtet vor seinen Gedanken in einen wütenden Fleiß. Er hatte die ganze Hölle in seiner Brust mit heraufgebracht; und wie angestrengt er schaffte, der Schweiß, der ihm auf der Stirne stand, war nicht der warme redlichen Mühens, es war der kalte Schweiß der Gewissensangst. Er hämmerte Schiefer zurecht und nagelte sie fest so angstvoll hastig, als nagelte er den Weltenbau fest, der sonst einstürzen müßte in der nächsten Viertelstunde. Aber seine Seele war nicht bei dem Hämmern, sie war dort, wo unaufhörlich Stricke rissen und verunglückende Schieferdecker polternd hinabstürzten in den gewissen Tod. Zuweilen hielt er plötzlich inne; es war ihm, als müßte er hinunterrufen: »Nach Brambach! Er soll nicht die Leiter besteigen! Er soll sich nicht auf sein Fahrzeug setzen!« Aber dann blieben die vielen Hunderte, die wie Ameisen da unten durcheinander liefen, in Schreck versteinert stehen, und soviel Paar Augen, überfüllt mit Grauen und Abscheu, starrten herauf, und der Häscher kam und stieß ihn vor sich her die Treppe herunter; und vielleicht war es doch zu spät! Dann einmal faltete er die Hände über den Deckhammer und gelobte: stürbe Apollonius nicht, er will ein braver Mann werden. Er denkt nicht, daß ihn das reuen wird, sobald er Apollonius gerettet weiß. – Da kommt jemand die Treppe herauf – ist's der Häscher schon? Nein. Es weiß niemand, was er getan. Er verzerrt sein Gesicht in Trotz und fragt: »Wer will mir was anhaben?« Jetzt hört er Stimmen, und die Klänge der einen davon treffen wie Hammerschläge auf sein gequältes Herz. Das ist die einzige Stimme, die er hier zu hören nicht erwartet. Wird der fragen, dem sie gehört: »Wo ist dein Bruder Abel hin?« Nein. Er will dem Sohne sagen, daß jener verunglückt ist; er meint, es ist ein Unglückstag, und er soll heute nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Antwort ist fast so alt als das Menschengeschlecht: »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Dabei kommt's ihm wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater ist blind. Denn er weiß, seine sehenden Augen könnte er jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer hastiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er könnte, aber der Dachstuhl ist schmal, und der Alte spricht schon an dem Aussteigeloch im Dache. Er will ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. »Nun ist's schon gut«, hört er den Alten sagen. »Mach' Er Seinem Meister mein Kompliment; und da ist etwas für Ihn. Trink' Er eine Gesundheit dafür!« Fritz Nettenmair hört, der alte Herr setzt sich auf die bloßgelegte Latte im Aussteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die ganze Öffnung mit seiner Gestalt. Er hört den Dank des Gesellen und seine Tritte, wie sie immer ferner klingen.