Otto Ludwig
Zwischen Himmel und Erde
Otto Ludwig

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Es wird ihm doch wieder eigen zu Mut, denkt er sich, daß man zu der Tür, die er eben aufschließt, einen Sarg heraustragen wird. Unwillkürlich macht er Platz, wie um Sarg und Zug vor sich vorbeizulassen. »In das Unabänderliche«, sagt er leise, wie sich überhörend, was er einem Tröstenden zu antworten habe, wenn es so weit sei, »in das Unabänderliche muß sich der Mensch ergeben.« Und wie er die Achsel zu den Worten zuckt, da wird er einen leisen schlanken Lichtschein gewahr. Ein Stück davon läuft über seinen Ärmel, ein anderes liegt wie abgebrochen und herabgefallen neben ihm auf dem Pflaster. Er späht auf; der Schein kommt daher, wo der untere Abschnitt des Ladens nicht fest an das Fenstersims schließt. Drin in der Wohnstube ist Licht. So spät? Der Atem stockt dem Lauschenden, der Alp sitzt wieder auf seiner Brust. Der Bruder lebt ja noch; und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann noch kommen, ehe er stirbt, oder – es ist schon da! Wie ihm die Hände fliegen, doch ist die Tür leise wieder verschlossen und im Augenblick. Ebenso leise, ebenso schnell ist er an der Hintertür. Sie ist nicht offen, aber nur einmal herumgeschlossen; und Fritz Nettenmair weiß es, er kann schwören, er hat den Schlüssel zweimal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er schleicht und tappt sich zur Stubentür; er hat die Klinke gefunden und drückt sie leise; die Tür geht auf; ein trüber Lichtschein fällt auf die Flur. Der Schimmer kommt von einem verdeckten Lichte auf dem Tisch. Neben diesem steht im Schatten ein kleines Bett; es ist Ännchens Bett, und ihre Mutter sitzt daran.

Christiane merkt nicht, daß die Tür sich öffnet. Sie hat den Kopf weit vornübergebeugt über das Bett; sie singt leise und weiß nicht, was sie singt; sie horcht voll Angst, aber nicht auf ihren Gesang; ihre Augen würden weinen, machten Tränen den Blick nicht trübe. Aber nun kann die Röte auf des Kindes Wange wiederkommen, nun kann der eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund verschwinden; und sie säh es nicht und ängstigte sich noch vergeblich. Ihr ist es, als müßte jene wiederkehren und dieser gehen, wenn sie sich nur recht angestrengt mühte, dieses Kehren und Gehen zu bemerken. Und dabei kann sie doch noch daran denken, wie plötzlich das gekommen ist, was sie so sehr beängstigt; wie das Ännchen auf einmal im Bette neben ihrem wie mit fremder Stimme aufgeschrien, dann nicht mehr hat sprechen können; wie sie aufgesprungen und sich angekleidet; wie sie in der Angst den Valentin und dieser, ohne ihr Wissen, den Apollonius geweckt. Der alte Gesell hatte alle Schlüssel im Hause probiert, bis sich ergab, der Schuppenschlüssel schließe die Hintertür; das wußte sie nicht. Desto lebendiger stand es vor ihr, wie Apollonius hereingetreten, wie ihr bei seinem unerwarteten Kommen gewesen, wie sie voll Schreck und Scham und doch voll wunderbarer Beruhigung sich gefühlt. Apollonius hatte sogleich den Arzt, dann Arzneien geholt. Er hatte an dem Bettchen gestanden und sich über das Ännchen gebeugt, wie jetzt sie tat. Er hatte sie voll Schmerz angesehen und gesagt, Ännchens Krankheit komme von dem ehelichen Zerwürfnis, und es werde nicht gesund, höre dies nicht auf. Er hatte von den Wundern erzählt, die einer Mutter möglich würden, und wie sich der Mensch bezwingen könne und müsse. Dann hatte er dem Valentin noch manches des Ännchens wegen anbefohlen und war gegangen aus Sorge, der Bruder könnte sonst in seinem Irrwahn glauben, er wolle ihn auch von dem Krankenbett seiner Kinder vertreiben. Der Jammer, die Angst wollte sie in Apollonius' Arme jagen; es war ihr, als wäre alles gut, läge sie an seiner Brust, als dürfte sie ihn nicht wieder von sich lassen. Aber wie er so zu Häupten des Kindes stand und sprach, da kam er ihr so herrlich vor wie ein Heiliger, vor dem sie nur auf den Knieen liegen dürfe. Der Bettschirm hüllte die große schlanke Gestalt in seinen Schatten, nur seine Stirn und sein hoher Scheitel waren sichtbar und erschienen, von dem Lichte auf dem Tische angestrahlt, wie in einer Glorie. Dachte sie von ihm weg zu ihrem Gatten, so krampfte eisiger Frost ihr Herz zusammen, und Widerwillen bäumte sich darin wie ein Riese gegen den bloßen Gedanken auf. Aber Apollonius hatte gesagt, Ännchen werde nicht wieder gesund, wenn das Zerwürfnis nicht ende. Er hatte gesagt, der Mensch könne und müsse sich bezwingen; sie wollte sich bezwingen, weil er es gesagt. Einer Mutter seien Wunder möglich für ihr Kind; dachte sie an Apollonius' Gesicht, wie er so sprach, mußte ihr das größte Wunder möglich werden.

Fritz Nettenmair trat herein. Er dachte an nichts, als daß Apollonius dagewesen sein müsse, wenn er auch jetzt nicht mehr da war. Es flirrte ihm vor den Augen vor Wut. Er wäre auf die Frau losgestürzt, sah er nicht den alten Valentin an der Kammertüre sitzen. Er wollte warten, bis dieser einmal das Zimmer verließe, und schlich sich nach dem Stuhle am Fenster, wo er sonst immer gesessen, und als wie ein anderer denn jetzt! Die Frau hörte seinen leisen Tritt; sein Antlitz konnte sie nicht sehen. Ihr schien, er wußte um Ännchens Zustand und ging deshalb so leise. Sie sah Ännchen mit einem Blicke an, der sagte: was sie jetzt tun wollte, tat sie nur um ihr krankes Kind; ein Blick nach der Tür, aus der er gegangen war, setzte hinzu: »Und weil er's gesagt«.

»Da ist der Vater, Ännchen«, sagte sie dann. Sie redete eigentlich mit dem Gatten, der am Fenster saß; aber sie konnte ihm ihr Gesicht nicht zuwenden, ihre Rede nicht unmittelbar an ihn richten. »Du hast immer nach ihm gefragt. Du hast gemeint, wenn er kommt, wird er sein, wie er sonst war, eh' du krank geworden bist. Deine Mutter will's auch um deinetwillen.«

Ihre Stimme klang so tief aus der Brust herauf, daß der Mann seinen Groll mit Gewalt festhalten mußte. Er dachte: »Sie tut so süß, um dich zu hintergehn. Sie haben's verabredet, als er da war.« Und der Groll schwoll nur noch grimmiger an den weichen Klängen, mit denen sie fortfuhr:

»Und du gehst noch nicht in den Himmel. Nicht, Ännchen? Du bist ja ein so gut lieb Kind und bleibst noch bei Vater und Mutter. Wenn nur – du hast kein Herz vor dem Vater, du dumm lieb Ännchen, weil er laut spricht. Er meint's nicht bös deshalb.«

Sie hielt inne; sie erwartete die Antwort von dem Vater, nicht von dem Kinde. Sie erwartete, er werde an das Bett treten und zu dem Kinde sprechen wie sie, und durch das Kind mit ihr. Wie sie von ihm denken mochte, das Kind war doch sein Kind, und es war krank.

Der Mann schwieg und blieb ruhig auf seinem Stuhle sitzen. Ein halb Vaterunser lang hörte man nichts als das Ticken der Uhr, und das wurde immer schneller wie das Klopfen eines Menschenherzens, das Schlimmes kommen ahnt; die Flamme des Lichtes zuckte wie vor Furcht.

Valentin stand auf von seinem Stuhle, um das Licht zu putzen.

Die Brust des Kindes röchelte; es wollte sprechen, es konnte nicht; es wollte mit den Händen nach dem Vater langen, es konnte nicht; es konnte nichts, als die Arme seiner Seele nach dem Vater ausstrecken. Aber des Vaters Seele sah die flehenden nicht; in ihren Händen hielt sie krampfhaft ihren Groll und hatte keine Hand frei für das Kind. Er hört das Röcheln, aber er weiß, das Kind ist abgerichtet von seinen Feinden; es hat kein kindlich Herz gegen ihn; und wäre es wirklich krank, so wäre es absichtlich krank geworden, um ihn betrügen zu helfen, und stürbe es, so würde sein Sterben noch ein Kupplerdienst sein, den es seinen Feinden tut. Wäre sein Auge nicht selber so krank, daß es ihm außen nur immer das eine zeigt, über dem seine Seele innen unablässig brütet, er müßte es am Gesichte der Mutter sehen, an dem Ton ihrer Stimme hören: sie verstellt sich nicht, das Kind ist wirklich krank und sehr krank. Aber ihre Weichheit, ihre Angst ist ihm nur die Angst ihres Gewissens, die Angst vor seiner Strafe, die sie verdient fühlt und doch entwaffnen will. Valentin tritt von dem Lichte weg und geht hinaus, um sich draußen auszuweinen. Der Mann steht auf und nähert sich leise der Frau, ohne daß sie ihn bemerkt. Er will sie überraschen, und das gelingt ihm. Sie erschrickt, wie sie plötzlich über dem Bette jäh vor sich ein entstelltes Menschenantlitz sieht. Sie erschrickt, und er preßt durch die Zähne: »Du erschrickst? Weißt du warum?«

Sie hat ihm selber sagen wollen, daß Apollonius in der Stube gewesen ist, aber noch hat sie es nicht gekonnt. Vor dem Bette des kranken Kindes durfte sie es nicht; weil sie weiß, er wird auffahren; den Anblick seiner Roheit hat sie dem Kinde erspart, als es noch gesund war, wenn sie es vermochte; jetzt konnte der Schreck dem kranken Kinde den Tod bringen. Sie antwortet ihm nicht, aber sie sieht ihn flehend an und zeigt mit einem Augenwinke auf das Kind.

»Er war da! War er nicht da?« fragt er; nicht um zu erfahren, wonach er fragt, sondern um zu zeigen, daß er es nicht erst zu erfahren braucht. Seine Faust hebt sich geballt; Ännchen kämpft, sich aufzurichten. Er sieht es nicht; die Frau sieht es; ihre Angst wächst. Sie schlägt die Hände zusammen; sie sieht ihn an mit einem Blicke, in dem alles steht, was ein Weib versprechen, was ein Weib drohen kann; er sieht nur ihr Erschrecken, daß er es weiß, was geschah, und die Faust fällt nieder auf ihre Stirn.

Ein Schrei klingt; das Kind rollt sich in Krämpfen zusammen, die Mutter, über es hingestürzt, weint laut. Valentin kommt hereingeeilt, Fritz Nettenmair geht in die Kammer.

Er weiß nicht, was in ihm Herr ist, befriedigte Rache oder Schreck über das, was er getan. Er sinkt auf das Bett, als hätte der Schlag, den er geführt, ihn selbst betäubt; er hört nur halb, wie Valentin nach dem Arzt läuft. Ebenso hört er diesen kommen und gehen, ebenso lauscht er, ob er nicht Apollonius' Flüstern und seinen leisen Schritt vernehmen kann. Sich zu zeigen, wagt er nicht; Scham hält ihn davon zurück. Er rechtfertigt sein Tun und nennt Ännchens Krankheit eine Pimpelei: »Heute wollen Kinder sterben, und morgen sind sie lebendiger als je!«

Aus dem fieberischen Horchen und Sichberuhigen wird ein fieberisches Träumen. Er sieht Apollonius, wie er seine Leiter an der Heimstange festbinden will, und sagt sich bei jedem Schritt des Steigenden wie tröstend: »Jetzt wird er fallen! jetzt!« aber Apollonius fällt nicht. Jeden Augenblick erwartet er, die Taue sollen reißen, in welchen Apollonius mit seinem Fahrzeuge hängt; sie reißen nicht. In diese Träume hinein hört er die Tür der Stube gehen; der Traum macht einen Fall daraus, den Fall eines schweren Körpers aus ungeheuerer Höhe. Da wird ihm leicht, als wäre nun alles gut. Im Halbschlummer hört er in der Stube leises Gehen, leises Reden, leises Weinen, und dazwischen ist es wieder still.

Das leise Schluchzen, das zum lauten wird und sich wiederum bewältigt, als sei ein Schlafender in der Nähe, den es nicht wecken will, und wieder ausbricht, daß es den Schläfer nicht wecken kann, und wieder leise wird, weil es wie über sich selbst erschrickt, daß es laut ist, wo alle Menschen leise sind: wer kennt es nicht? Wer errät es nicht, wenn er es nicht kennt?

Fritz Nettenmair weiß es im Halbschlaf: in der Stube liegt ein Toter. Sie haben ihn gebracht. »In das Unabänderliche muß der Mensch sich ergeben.«

Zum erstenmal seit vielen Monden schläft er wieder ruhig. Und warum sollte er nicht? Aus dem leisen Weinen wird ein lustiger schottischer Walzer. »Da ist er ja! Nun wird's famos!« klingt es aus der Ferne vom Roten Adler herein in seinen Schlaf.

Das Leisegehen und Leisereden aber war wirklich und dauerte fort; und eine Leiche war in der Stube, eine schöne Kinderleiche; während Fritz Nettenmair von Leitern und Fahrzeugen träumte, hatte des kleinen Ännchens Seele sich zu einem bessern Vater gerettet. Der Leib lag starr in dem kleinen Bettchen. Der Zwist der Eltern hatte das Kind krank gemacht; Schmerz über die wilde Tat des Vaters an der Mutter hatte ihm das kleine Herz gebrochen.

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